Im Jahr 1942 war ich Unteroffizier in einem kleinen Fernmeldetrupp, der im damaligen Persien stationiert war. Wir hatten weit auseinander gezogene Beobachtungsposten installiert, deren Aufgabe es war, Alarm zu schlagen, falls deutsche Truppen aus dem Kaukasus sich in Richtung der Ölfelder des Mittleren Ostens bewegen sollten. Das passierte nicht, aber stattdessen kam ein Rinnsal verstreuter Flüchtlinge zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer herunter; es waren Flüchtlinge aus den Balkanstaaten, die vor dem deutschen Vormarsch nach Russland davonliefen. Manche kamen in kleinen Familiengruppen, manche kamen alleine. Sie wollten einfach britisch kontrolliertes Gebiet erreichen, auf dem sie sich sicher wähnten. Es handelte sich keinesfalls um einen Flüchtlingsstrom. Vom Balkan bis zum Kaukasus ist es weit, und ich vermute, dass viele Menschen den Weg einfach nicht geschafft hatten.
Unser Funkwagen stand nahe an einem seichten Fluss, der sich durch die niedrigen Hügel wand. Das Terrain bestand aus Sand, Kies und Felstrümmern, kein guter Nährboden für irgendwelche Pflanzen. Das nächste Dorf war fünf Meilen entfernt, dort, wo unser Flüsschen in einen größeren Nebenarm mündete. Wir hatten Tarnnetze über den Wagen gespannt. Viel eher, um wenigstens ein bisschen Schatten in der glühenden Hitze zu haben, als feindliche Flugzeuge zu täuschen. Es tauchten auch nie welche auf. Verpflegung und Wasser wurden alle vier Tage irgendwoher aus dem Hinterland angeliefert (ich hatte keine Ahnung, von wo). Die Verpflegung bestand hauptsächlich aus Brot, Biskuits, Ziegenmilchbutter in Büchsen, Marmelade, Corned Beef und Eintopf aus Fleisch und Gemüse in Dosen. McConnochie’s hieß das Zeug. Keine Ahnung, was ich heute von McConnochie’s halten würde, aber damals fanden wirs toll.
Die Army interessiert sich nicht so arg für schickes Mittagessen, aber eines Tages saßen wir essend unter unserem Tarnnetz. Da tauchte eine kleine Gestalt auf, die ein von der Sonne verblichenes Hemd anhatte, das ihr gerade mal bis knapp unter die Knie ging. Sie trug ein kleines, in eine Decke gewickeltes Bündel auf dem Kopf, und an einer Schnur um den Hals hatte sie irgendwas auf der Brust hängen. Schwer zu sagen, was das war, denn sie war noch ein paar Meter weg, als sie uns bemerkte und sofort stehen blieb. Sie betrachtete uns eindringlich, so als ob sie uns einschätzte. Wir riefen sie an, hoffentlich einigermaßen beruhigend. Wenn auch in einem ziemlichen Gemisch von verschiedenen Akzenten. Unser Trupp bestand aus einem Schotten, einem aus Northumbria, einem Cockney und mir (drei Funker und ein Fahrer). Für ein paar Momente blickte das Mädchen das Flüsschen rauf und runter, als ob sie einen besseren Platz suchen würde, ging dann aber zu einem schattigen Streifchen, das die Flussböschung bildete, und setzte ihr Bündel ab. Ich war ziemlich gespannt auf sie, denn obwohl ihre Haare schwarz waren und sie selbst tiefbraun, schien sie kein Arabermädchen zu sein. Schwierig zu sagen, warum, aber sie war einfach nicht so wie die vielen arabischen Kinder, die wir in Persien oder im Irak gesehen hatten. Ich sagte Jock, er solle eine Büchse McConnochie’s heiß machen. Wir vier hatten alle dieselbe Vermutung: Dieses Mädchen gehörte zu den Flüchtlingen vom Balkan. Vermutlich hatte sie ihre Familie oder ihre Gruppe verloren. Wenn das stimmte, dann war das schon vor einiger Zeit passiert, denn das Mädchen war total selbstständig, deutlich daran gewöhnt, auf sich gestellt zu sein. Vorsichtig, aber nicht ängstlich, und keinesfalls baute sie auf die Hilfe von irgendjemandem.
Während wir uns noch unterhielten, watete sie bis zu den Knien ins Wasser, bückte sich, um Gesicht und Hände zu waschen und den Staub von den Beinen abzuspritzen. Dabei hatte sie jederzeit ein Auge auf uns, ohne uns direkt anzuschauen. Ein paar Minuten lang blieb sie im Wasser, kämmte ihre langen Haare mit den Fingern und band sie dann mit einem Stück Stoff nach hinten. Sie kam heraus und setzte sich in den schmalen Schatten, öffnete das Bündel, nahm etwas heraus, das in dünnen Stoff gewickelt war, und begann, was immer es war, zu essen. Fladenbrot, vermuteten wir, aber genau konnten wir das von unserer Position aus nicht sagen.
Jock löffelte das heiße Stew in ein Essgeschirr, steckte einen Löffel hinein, gab ein paar Biskuits dazu, füllte einen Becher mit Tee von unserem Schnellkocher und ging auf sie zu. Dazu rief er etwas wie: »Hier, Kleine, was zu futtern, was zu trinken.« Das Mädchen sprang hoch, schnappte sich ihr Bündel und wich schnell zurück, jederzeit bereit, sich umzudrehen und loszurennen. Alle unsere Truppen im Mittleren Osten hatten ein paar arabische Brocken aufgeschnappt: Jildi - Beeil dich!; Kem – Wie viel?; Felousse – Geld; Stanna – Warte!; Asti – Vorsicht!; Mahleesh – Macht nichts; Aywah – Ja! Als das Mädchen also losrennen wollte, blieb Jock stocksteif stehen, und wir alle begannen zu rufen: »Stanna! Stanna!« Dazu gestikulierten wir auf eine Art, von der wir hofften, sie sei beruhigend. Ziemlich genau zwischen uns und dem Mädchen lag ein niedriger, flacher Felsen am Flussrand. Ich sagte also Jock, er solle das Essgeschirr und den Tee da draufstellen. Das machte er, winkte ihr zu, zeigte auf den Felsen und setzte sich wieder zu uns. Das Mädchen musterte uns eine halbe Minute sehr sorgfältig, dann nahm sie ihr Bündel wieder ab und bewegte sich langsam auf den Felsen zu. Sie schaute den Eintopf an und den Tee, war kurz unschlüssig, zeigte darauf, zeigte auf sich und sagte irgendetwas in einer fremdem Sprache, was deutlich eine Frage war. Später waren wir uns alle einig, dass es keinesfalls Arabisch war. Aber wir kamen überein, auch wenn Arabisch nicht ihre Muttersprache war, dass sie, wie wir auch, die üblichen arabischen Brocken aufgeschnappt haben musste. Also riefen wir: »Aywah! Aywah!« Und spielten ihr »essen« vor. Das Mädchen legte die Hände vor der Brust zusammen, beugte kurz den Kopf, nahm das Essgeschirr, setzte sich auf den Felsen und fing an zu essen. Wieder fiel mir das Ding auf, das sie um den Hals hängen hatte, aber ich konnte immer noch nicht herauskriegen, was es war.
Sie war ein dürres, kleines Ding und eigentlich dachte ich, sie würde das Essen hinunterschlingen, aber sie aß sehr langsam. Sie schien sich auf jeden Bissen zu konzentrieren, und als sie alle festen Bestandteile verzehrt hatte, tunkte sie mit den Biskuits die Sauce auf. Sie stellte das Essgeschirr ab und betrachtete uns – unseren Wagen, unser Camp (zwei Zwei-Mann-Zelte) – auf eine merkwürdige, sehr konzentrierte und taxierende Art. Als unser Erkennungszeichen aus dem Funkgerät ertönte, bewegte sie schnell den Kopf. Der Geordie aus dem Norden kletterte in den Wagen, um sich darum zu kümmern. Als er wieder herauskam, hatte das Mädchen gerade ihren Tee ausgetrunken. Und dann stand sie auf und tat etwas völlig Überraschendes. Sie trug das Essgeschirr, den Löffel und den Becher zum Fluss, um sie abzuwaschen. Nasser Sand ist perfekt zum Abwaschen, weil er das Fett löst, sogar mit kaltem Wasser. Als das erledigt war, stellte sie die Sachen wieder auf den Felsen, wiederholte ihre Dankeschön-Geste, ging wieder zu ihrem Streifchen Schatten und setzte sich mit dem Rücken zum Ufer hin.
Nach ungefähr einer halben Stunde, wir hatten inzwischen unsere üblichen Dienstangelegenheiten abgewickelt, ohne ihr nahe zu kommen, stand sie auf und schnürte ihr Bündel zusammen. Ich rief »Stanna« und bedeutete ihr zu warten. Dann nahm ich zwei Büchsen McConnochie’s aus unserem Vorrat, dazu zwei leere Dosen, die von unserem Essen übrig geblieben waren und einen Dosenöffner. Jeder in unserem Trupp hatte einen Dosenöffner, also konnten wir einen entbehren. Ich ging zu dem Felsen, kniete mich hin, winkte dem Mädchen, breitete die Sachen mit großer Geste aus und wartete. Nach ein paar Minuten kam sie mit ihrem Bündel bis auf ein paar Schritte an mich heran. Sie sagte etwas, das die Betonung einer Frage hatte. Ich machte ihr klar, dass sie aufpassen solle, und demonstrierte sehr langsam den Gebrauch des Dosenöffners an der Unterseite einer leeren Dose. Die Vorstellung produzierte viel Heiterkeit und Kommentare seitens meiner Kameraden. Der Öffner war ein älteres Modell mit Hebel, und während ich ihn mit größter Übertreibung vorführte, beobachtete ich das Mädchen. Sie sah mir aufmerksam zu.
Jetzt, wo sie näher war, konnte ich das Ding sehen, das wie ein Anhänger um ihren Hals hing. Es war ein kurzes Stück Holz, an das ein langer Nagel mit dünnem, eng gewickeltem Draht befestigt war. Der Nagel ragte gut fünf Zentimeter über das improvisierte Heft hinaus. Es war eine Waffe, eine primitive Waffe – und ich fröstelte bei der Überlegung, was sie wohl von der Notwendigkeit einer solchen Selbstverteidigung überzeugt haben mochte. Als ich die Dose aufhatte, legte ich den Öffner neben die zweite leere Dose, machte ihr mit Zeichen klar, es mir nachzumachen und gesellte mich unter noch mehr Applaus wieder zu meinen Leuten. Sie ging zum Felsen, nahm Büchse und Öffner und warf uns einen fragenden Blick zu. Wir signalisierten starke Unterstützung. Sie stellte die Übungsdose auf den Felsen und versuchte den Dorn hineinzudrücken, wie ich es vorgemacht hatte. Allerdings fehlte ihr die Kraft dazu. Nach zwei vergeblichen Versuchen hob sie einen Stein auf, benutzte ihn als Hammer und trieb den Dorn hinein.
Jetzt wurde uns ein bisschen mulmig, und ich erinnere mich daran, dass Geordie irgendwas rief wie »Pass auf, Mädel, schneid dich nicht!«. Aber wir hätten nicht ängstlich zu sein brauchen. Langsam und vorsichtig hebelte sie den Öffner um die Ecken, benutzte den Dorn, um den Deckel hochzuheben, und drehte ihn an den Schnittkanten ab. In der einen Hand hielt sie die Dose, in der anderen den Öffner und sah uns ruhig an. Wir brachen glücklich in Applaus aus, klatschten und brüllten in unseren verschiedenen Dialekten. Da lächelte sie, und ich fand, dass man mit diesem Lächeln ein ganzes Dorf hätte illuminieren können. Ich weiß nicht mehr, was genau wir alles sagten, aber ich glaube, der ganze Zwischenfall war bei Weitem das Beste, was uns seit langer Zeit passiert war.
Nachdem sie die Übungsdose weggelegt hatte, berührte sie die beiden vollen Büchsen und den Öffner und stellte uns wieder eine Frage. Wir gestikulierten enthusiastische Zustimmung. Sie rollte ihr Bündel auf, arrangierte ihre weltlichen Besitztümer um und packte die beiden Dosen und den Öffner sorgfältig ein. Dann schnürte sie das Bündel wieder zu. Einen Augenblick lang stand sie einfach da und sah uns an. Sie legte die Hände zusammen und sprach ein paar kurze Sätze. Wir verstanden sie als Worte des Dankes. Wir lächelten, winkten, wünschten ihr viel Glück und ermahnten sie, auf sich aufzupassen und so weiter. Dann blickten wir ihr nach, wie sie ihr Bündel auf den Kopf setzte und am Flüsschen entlang nach Süden wegging. Diese Bilder habe ich bis heute im Kopf – wie sie uns anlächelt und wie diese aufrechte, kleine Gestalt wie eine Prinzessin auf ihren tapferen, dünnen Beinen davonschreitet.
Im Frühjahr 1962, also genau zwanzig Jahre später, bekam ich einen Anruf von Bill Aitken, dem für Comicstrips zuständigen Mann der Express-Gruppe. Er hatte meine Strips verfolgt, die ich für den Daily Mirror und den Daily Sketch geschrieben hatte (Garth, Romeo Brown, Tug Transon) und bat mich, ein Szenario für ihn zu schreiben, das er dem Daily Express vorlegen wollte. Ich wollte wissen, was er sich denn so vorstelle. Er sagte: »Ich will den Strip, den Sie schreiben wollen.« Also sagte ich ihm zu, dass ich ein Format entwickeln würde, eine Geschichte und Szenarios für vier Wochen. Dafür würde ich ungefähr ein halbes Jahr brauchen. Das war ihm recht.
Ich arbeitete damals seit zwölf Jahren als freier Autor, hatte ein Büro in der Fleet Street, das günstigerweise über El Vino lag, der berühmten Tränke für Schreiberlinge und Anwälte, und ich schrieb hauptsächlich Comicstrips für Zeitungen und Serien für Frauenzeitschriften (die damals wesentlich mehr Erzählungen brachten als heutzutage). Ich arbeitete also in zwei sehr unterschiedlichen Genres – einem mit männlichen Mucho-Macho-Helden, einem mit viel Romance, wobei die Geschichten, die ich für die Frauenzeitschriften schrieb, allerdings viele Abenteuerelemente hatten. Schon bevor mich Bill Aitken anrief, hatte ich die Idee am Wickel, diese beiden Genres zu kombinieren und eine Frauenfigur zu entwerfen, die zwar total fraulich war, aber genauso gut kämpfen und Action machen konnte wie Männer, wenn nicht sogar besser. Der Anruf vom Express nahm mir die Entscheidung ab – die Arbeit daran ging genau jetzt los.
Ich ließ das Projekt ein paar Wochen vor sich hin köcheln, kam jedoch sehr schnell zu dem Schluss, dass ich eine glaubwürdige Figur nicht hinbekommen würde, wenn ich einfach ein Mädchen nehme, das irgendwo zwischen zehn und zwanzig Jahre alt ist, und sie durch eine lange und intensive Ausbildung jage, in der sie ihre vielen Fähigkeiten erwirbt. Das wäre nur billige Tünche. Meine Figur sollte eine Kindheit gehabt haben, die von unbarmherzigem Überlebenskampf geprägt war, sie musste sich voll und ganz bewährt haben, in Gefahr, Einsamkeit, Angst und allen denkbaren Härten. Ein Kind mit dem diamantharten Willen zu überleben. Natürlich gehört noch viel mehr zu einem Konzept dazu, aber das war zweifellos der Kern am Anfang.
Natürlich hatte ich dieses Kind vor zwanzig Jahren getroffen. Ich wusste, dass sie der perfekte Prototyp für die Figur war, die ich schließlich Modesty Blaise nannte. Ich fing damit an, die Einzelheiten ihres Hintergrunds auszupinseln. Ich ging davon aus, dass sie aus Ungarn geflohen war, ihre Eltern waren irgendwo auf dem langen Weg zwischen die deutschen und russischen Truppen geraten und umgekommen. Dieses Trauma hatte bei dem Mädchen eine Amnesie ausgelöst, aber irgendwie hatte sie überlebt und gelernt, auch weiterhin zu überleben, denn sie hat den ganzen langen und einsamen Fluchtweg über ein Jahr lang durchgehalten. Ich beschloss, dass sie irgendwo südlich des Kaukasus (dort hat sie ein paar freundliche Soldaten getroffen, die ihr etwas zu essen gaben) einen Gefährten finden sollte, vielleicht in einem der Sammellager, die es dort gab (den Vorläufern der späteren Displaced Persons Camps). Dieser Gefährte war ein jüdischer Professor aus Bukarest, so Mitte fünfzig. Er sprach fünf Sprachen fließend und war ein brillanter Wissenschaftler, aber ein hoffnungsloser Fall in Überlebensfragen. Das Mädchen sollte ihn unter die Fittiche nehmen, und zusammen mussten sie durch den ganzen Mittleren und Nahen Osten ziehen – von Persien bis nach Marokko. Sie sorgte für den Lebensunterhalt und den Schutz, er vermittelte ihr die Bildung, die sie sich für ihre Zukunft so sehnlichst wünschte. Eines Nachts stirbt er einfach in der Wüste; sie ist zu dieser Zeit ungefähr siebzehn Jahre alt. Sie begräbt ihn, weint zum ersten Mal seit Jahren, und wandert weiter zur nächsten Stadt. Das ist Tanger. Das Mädchen, dem der Professor den Namen Modesty Blaise gegeben hat, ist wieder allein, und was dann geschieht, das steht in den Romanen.
Ich stehe in der Schuld dieses Kindes, das ich einen einzigen Tag lang gekannt habe, im Jahr 1942. Einmal wegen des Privilegs, sie getroffen zu haben, wenn auch nur kurz. Zum anderen, weil sie mir die Vorlage für eine Figur geliefert hat, über die ich vierzig Jahre lang geschrieben habe. Manchmal denke ich noch an sie und überlege, was wohl aus ihr geworden sein mag. Wenn sie noch lebt, müsste sie jetzt so um die siebzig sein. Wie alt sie auch geworden sein mag, ich hoffe nur, dass sie für ihren Mut und ihre Entschlossenheit angemessen belohnt worden ist. Ich ziehe den Hut vor ihr.