In die Wonnen der Trivialität einzutauchen, indem ich mich mit Modesty Blaise beschäftige? Halb neidvoll, halb abfällig wurde mir das prophezeit, aber offen gestanden weiß ich nicht, was damit gemeint sein soll. Ich habe Bücher immer nur in gut oder schlecht geschriebene unterteilt, und Trivialität ist für mich einfach ein Synonym für lausiges Handwerk: fadenscheinig gestrickte Plots, uninteressante und unglaubwürdige Personen, schales Gefühl vertaner Zeit nach der Lektüre. Aber doch nicht bei Modesty Blaise! Oh, Modesty Blaise, ach Modesty Blaise! Dein Name, anhebend mit einem genießerischen Summton, als rieche man feinste Bitterschokolade oder alten Cognac oder die Haut der Geliebten, dann öffnet die Kehle sich zu einem Knurren, die Zunge kappt schnippisch den Genuss, worauf ein kurzer, warnender Schlag mit der Peitsche verhindert, dass man sich Schwachheiten einbildet. Und die Vokale deines Nachnamens (sie hat sich ihn ja selbst gegeben, Flüchtlingskind ohne Erinnerung an ihre Herkunft, das sie war), je nach Gusto blasiert französisch aussprechbar, in die Länge gezogen wie ein lustvolles Stöhnen, oder genießerisch zähnefletschend auf Englisch: Please Blaise me.
Nein, das Wort Trivialität ist hier vollkommen fehl am Platze. Besser passt der schöne Ausdruck »craftsmanship«. Gediegenstes, solides, brillantes Handwerk. Wenn letztlich, wie Thomas Mann einmal sagte, alles davon abhängt, ob ein Buch »wahre Lesehingabe erzwingen« kann, dann sind die Abenteuer der ehemaligen Gangsterin, Gentleman-Agentin und modernen Amazone eine Sucht, wie ich sie in all den Jahren eigentlich nur bei zwei anderen Reihen um ein und denselben Helden genießen durfte, nämlich bei Dumas’ Romanen über den Musketier d’Artagnan und bei der Initiationsgeschichte des englischen Zauberlehrlings Harry Potter. Es ist ja eines der großen Geheimnisse der Literatur, dass es viele Wege zum Herzen des Lesers gibt, dass große Kunst sie nicht immer findet und manch einer, der nur Unterhaltung schenken will, viel mehr erreicht. Man muss die Romanwelt glauben können, die sich da auftut, und wenn die ersten Zeilen eines Buches mich dazu bringen, es ernst zu nehmen, dann gehe ich bereitwillig mit auf die Reise. Lässt der Autor durchblicken, er meine es gar nicht so, und erlaubt sich irgendwelchen Unsinn, dann platzt die Blase der Illusion und der Glaubwürdigkeit, und man kann das Buch wegwerfen.
Begonnen hat diese Liebe im Sommerurlaub 1970, wo ich als Elfjähriger am Strand den Vorabdruck von A Taste for Death verschlang, der, mit poppigen Zeichnungen illustriert, Woche für Woche im Stern erschien, bevor er dann, wie die übrigen Romane, zunächst bei Zsolnay, später bei Rowohlt als Buch zu erwerben war. Geendet hat sie nie, ich habe jeden dieser Krimis mehrmals gelesen, immer von mehrjährigen Pausen unterbrochen, aber dann meistens alle hintereinander weg, habe nie genug kriegen können, wie die Naschkatze, die sich schwört, nur einmal mit dem Finger durchs Honigglas zu fahren, und dann, wie in Trance, die Geste so lange wiederholt, bis es leer ist.
Lange sind diese Ausgaben vergriffen, aber da ich nicht der einzige Fan zu sein scheine, macht sich der Unionsverlag jetzt ganz vorsichtig daran, mit zunächst einem der mittleren Romane, Die Klaue des Drachens, zu testen, ob nicht der Moment für ein Modesty-Blaise-Revival in Deutschland gekommen sei. Möge das doch der Fall sein, und sei es nur, damit ich endlich einmal kompetente Gesprächspartner für meine Schwärmerei finde!
Genug aber vorerst derselben, es ist höchste Zeit, mit ein paar Fakten herauszurücken und dem geneigten, aber nicht initiierten Leser in kurzen Worten zu erklären, wer Modesty Blaise eigentlich ist und was es mit den Büchern um sie auf sich hat. Modesty Blaise war ursprünglich ein Zeitungsstrip, der das Licht der Welt im Jahre 1963 im Londoner Evening Standard erblickte und dort fast vierzig Jahre lang, mit wechselnden Zeichnern, ein erfolgreiches Leben führte. So erfolgreich, dass sein Schöpfer Peter O’Donnell zwei Jahre später den ersten von schließlich elf Romanen um seine atemberaubend attraktive und fähige Heldin veröffentlichte. Ich gestehe, ich habe mich, obwohl Comicliebhaber, für den Strip ebenso wenig interessiert wie für die Verfilmung aus den Sechzigerjahren, bei der immerhin Joseph Losey Regie führte und die mit Monica Vitti in der Titelrolle, Terence Stamp und Dirk Bogarde hervorragend besetzt war. Doch krankte der Film daran, seinen Stoff nicht ernst zu nehmen und zu glauben, hier könne nur mit Satire und Parodie gearbeitet werden, wohingegen ich die Comics nicht anschauen wollte, um mir kein Bild zu machen. Oder besser, um keine Bilder vorgesetzt zu bekommen von den Helden und Schurken dieser Reihe, sondern sie mit all der vagen Konkretheit meiner eigenen Fantasie beleben zu können.
Modestys Vergangenheit liegt im Dunkeln. Wir wissen nur, dass sie, ein kleines Mädchen im Krieg, vor dem Vormarsch der Deutschen flüchtete, vielleicht aus Ungarn über den Balkan bis auf die arabische Halbinsel, dass sie sich alleine durchschlagen musste, vergewaltigt wurde, ihren Peiniger umbrachte, in einem Lager für Displaced Persons einen ungarischen Professor kennenlernte, der sie erzog, wofür sie ihm auf ihren Wegen vom Kaukasus bis nach Tanger überleben half. Siebzehnjährig in Marokko angekommen, übernimmt sie eine kleine Bande, baut sie aus, leitet sie erfolgreich, ohne je mit unmoralischen Verbrechen (Drogen, Mädchenhandel) Geschäfte zu machen, wird zur Multimillionärin, löst »Das Netz« auf und zieht sich, noch keine dreißig, nach England ins Privatleben zurück. Aber trotz ihrer Fähigkeit (und ihrer finanziellen Mittel), jeden Moment des Alltags zu genießen, ist so ein Pensionärsdasein für eine aktive junge Frau auf die Dauer nicht das Rechte. Und so lässt sie sich, manchmal freiwillig, manchmal nicht so ganz, auf neue Abenteuer und neue Nervenkitzel ein, um das Leben weiterhin bis zur Neige, bis zur Todesgefahr auskosten zu können. Von diesen Konfrontationen mit Verbrecherbanden jeglicher Couleur erzählen die Romane.
Viel zu lange schon spreche ich von Modesty Blaise, ohne Willie Garvin zu erwähnen, und das ist, als redete ich von Eva und verschwiege Adam. Am besten illustriere ich Willie Garvins Bedeutung mit einem Zitat … Vierundzwanzig Stunden später. Ich habe einen der Romane aufgeschlagen, auf der Suche nach diesem Zitat, und mich festgelesen, bis ich das Buch durchhatte. So geht es immer! Ich bitte also, neu ansetzen zu dürfen: Willie Garvin, Exlegionär, Exsträfling, weltbester Messerwerfer, der den Psalter auswendig kann, unter anderem Spezialist im Igelbraten, Perlentauchen, Drachenfliegen und Edelsteinschleifen, den sie in ihre Bande aufnahm und zu einem neuen Menschen formte, dem einzigen, der ihr in allem ebenbürtig ist, wird auf den Umschlagseiten der Bücher gerne als »ihr treuer Weggefährte« bezeichnet, im Original »her sidekick« oder gar »ihr Rammbock«. Letzteres ist nicht falsch zu verstehen, die Beziehung der beiden ist von jeher und auf harmonischste Weise platonisch, aber Willie ist viel mehr als das. Er ist im Grunde Modestys Bruder, Vater und einziger Geliebter, und wenn sie sein Pygmalion ist, dann ist er ihre Seele, vielleicht sogar die Seele der ganzen Reihe.
Dass die beiden Kampfsportler von höchsten Graden sind, versteht sich ja in einer Krimi- und Thrillerreihe von selbst, auch, dass diese Talente ausgenutzt werden wollen. So musste O’Donnell eine fantastische Galerie von Gegnern erfinden, deren Fähigkeiten die unserer Helden womöglich noch übertreffen, um in jedem Roman unvergessliche Zweikämpfe platzieren zu können. Ich denke natürlich an Willies homerische Auseinandersetzung mit Simon Delicata (»Man sagt, ein Gorilla sei fünfzehnmal so stark wie ein Mann, ich würde Delicata auf halber Strecke zwischen beiden einordnen«) in der Sahara oder an seinen heroischen Fight mit den »polnischen Zwillingen« samt Verbaggerung der Leichen in den Londoner Docklands oder natürlich an Modestys, mithilfe eines Flaschenzugs zum guten Ende gebrachtes Duell mit dem Hermaphroditen Mrs Fothergill oder ihre, in einer südfranzösischen Höhle von Sir Gerald Tarrant, dem Chef des englischen Geheimdienstes, beobachtete Schlacht mit der tödlichen Kampfmaschine Sexton, in die sie (»Wollen Sie mich verführen, Miss Blaise?«) völlig nackt und vom Kopf bis zu den Zehen eingecremt mit Wagenschmiere geht. Dieser nackte, glänzende Körper hat durchaus noch einen anderen Sinn, als den Leser zu betören, und mehr als alle ihre Kampffähigkeiten ist es denn auch ihre Intelligenz, die den beiden hilft, zu siegen und zu überleben. Die Intelligenz, die sie zur Unorthodoxie befähigt, wann immer es anders nicht geht, was man am besten an dem mörderischen Fechtkünstler Wenczel illustrieren kann, gegen den Modesty, den Degen in der Hand, anzutreten hat. Er sei vielleicht der größte Meister seines Fachs auf der Welt, warnt Willie sie. Ja, bekommt er zur Antwort, aber denk doch mal, was für Grenzen ihm das setzt.
Ebenso wenig, wie die Bösewichte in diesen Romanen größenwahnsinnige Welteroberer à la Blofeld sind, sondern Verbrecher, die es in erster Linie aufs Geld abgesehen haben und dabei über Leichen gehen, ebenso wenig ist Modesty Blaise je ein weiblicher James Bond gewesen. Auch hat sie nie gegen die Russen oder die gelbe Gefahr gekämpft, sondern eigentlich immer nur für ihre Freunde. Wohl aber kann man sagen, dass diese Selfmade-Frau, den Männern in allen Bereichen überlegen, in den Sechzigerjahren ihrer Pallas-Athene-Geburt aus O’Donnells Kopf das Zeug zu einer Ikone der Emanzipation gehabt hätte, zu der sie es zumindest hierzulande aber nie brachte. Vielleicht, weil sie aus ihrer ironischen Zuneigung für das realiter schwächere Geschlecht ebenso wenig ein Hehl machte wie aus ihrer spezifisch weiblichen Lust am Schönsein und an schönen Dingen. Dass Modesty, wenn die Leichen der Gegner auf der Walstatt liegen, sich kurz an Willies Schulter ausweinen muss, um ihren Gefühlshaushalt ins Reine zu bringen, wurde ihr dann von teutonischen Emanzen gewiss auch als Inkonsequenz ausgelegt. Die Zielgruppe dieser Romane ist eher in den letzten Reservaten eines romantischen Machotums zu suchen, das längst Abschied vom Glauben genommen hat, den Frauen das Wasser reichen zu können, aber sich ihnen gegenüber trotzdem gerne noch so ritterlich und galant zeigt wie in den guten alten Zeiten.
Die Romane um Modesty Blaise sind, gestehen wir das ruhig und besten Gewissens, zutiefst moralische Geschichten. Für heutige Verhältnisse politisch unkorrekt insofern, als sie dem Bösen nicht mit heimlicher Faszination gegenüberstehen und das Gute im Grunde für langweilig erachten. Nein, Modesty und Willie haben eine ebenso nüchterne wie alttestamentarische Moral und lassen für den Verbrecher keine mildernden Umstände gelten. »Paxero müsste verrückt sein, um solche Dinge tun zu können … Nein, nicht verrückt, nur vollkommen ruchlos.«
Von Berufs wegen gezwungen, immer genau zu verstehen, warum etwas mich fasziniert, grüble ich nun schon seit Tagen, was ich eigentlich so liebe an diesen Büchern. Gewiss ist O’Donnell ein unübertroffener Meister des »Wie sollen sie hier um Himmels willen wieder rauskommen?«, seine Plots halten einen in Atem, seine Dialoge haben Witz, die Nebenfiguren sind lebendig und glaubwürdig. Aber all das gibt es auch anderswo. Ich glaube, das Besondere ist eine Art Pippi-Langstrumpf-Syndrom. Modesty und Willie sind Leute, die man gerne zu Freunden hätte. Nicht, weil sie ein Pferd hochstemmen können, sondern weil sie zu leben wissen, weil ihre Tage erfüllt sind, weil sie frei sind und ihre Freiheit sinnvoll nutzen, weil sie alle die Dinge beherrschen, die man wirklich brauchen kann im Leben, weil es mit ihnen nie langweilig wird, höchstens einmal lebensgefährlich, weil sie in jeder Lebenslage für ihre Freunde da sind, weil ihre Beziehung die Quadratur des Geschlechterkampf-Kreises ist und weil sie in ihrer moralischen Integrität unsere eigenen besseren Eigenschaften stärken. Und schließlich stehen einige gute Überlebenstipps in diesen Büchern: Ähnlich wie Frank Schätzings Roman Der Schwarm manche seiner Leser vor dem Tsunami gerettet hat, rechne ich mir dank der Lektüre der Modesty-Blaise-Bücher gute Chancen aus, im Falle eines Falles in der Wüste überleben zu können, vorausgesetzt, ich habe, wie Willie Garvin, eine Keksdose und eine Plastikfolie zur Hand.
Erstmals erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. Mai 2005