Nichts ist schwieriger als das Leichte. Oder wie Pablo De Santis in einem Interview sagte: »Damit die Leser weiterlesen, muss man langsam und aufmerksam schreiben«. Vor allem gilt das, möchten wir hinzufügen, wenn in einen leichten, schlanken, schnellen und spannenden Roman wie Voltaires Kalligraph fast das ganze 18. Jahrhundert hineingepackt ist und unsere Vorstellung vom 18. Jahrhundert gleich mit und das Ganze mit den Augen des 19. und des 20./21. Jahrhunderts gleichzeitig gesehen wird. Aber halt, das hört sich furchtbar kompliziert an.
Pablo De Santis hat, wie wir aus seinen beiden anderen Romanen, Die Übersetzung und Die Fakultät wissen, die magische Fähigkeit, das ganz Normale einen kleinen Millimeter zu verrücken, und es dadurch in einem sehr seltsamen Licht erscheinen zu lassen. Bei Voltaires Kalligraph ist das Normale sozusagen das, was wir über das Zeitalter der Aufklärung gelernt haben. Zum Beispiel der »Fall Calas« – ein Justizskandal, der das vorrevolutionäre Europa erschüttert hat wie kaum ein anderer. 1761 trugen sich die Ereignisse in Toulouse zu, an deren Ende die grausame Hinrichtung des Jean Calas stand. Formalrechtlich völlig unkorrekt, moralisch-ethisch empörend, willkürlich. Voltaire machte den Skandal öffentlich (in seinem berühmten Traité sur la tolérance) und kämpfte für die Rehabilitierung Calas’, die 1765 dann auch erfolgte. In der Tat bediente er sich dazu eines Netzwerks von Zuträgern und rührte sich selbst nicht von seinem Schloss Ferney bei Genf weg. Aber dass er am Ende die Hinterbliebenen der Familie Calas als Schauspielerinnen bei seinem kleinen Privattheater beschäftigt habe – dies ist ein typischer De-Santis-Dreh, der leicht ins Gruslige schlägt.
Oder zum Beispiel die Automaten: Julien Offray de La Mettries berühmtes Buch L’homme machine (1748) gab die rational-mechanistische Vorlage für allerlei Automaten, in denen man den Triumph der Mechanik, des Machbaren über Irrationalismus und Metaphysik zu sehen glaubte; mechanische Menschen wie Vaucansons Flötenspieler, der Schreiber von Vater und Sohn Jaquet-Droz oder Wolfgang von Kempelens Schachtürke waren Sensationen an Europas Höfen. Das Grauen vor ihnen aber wurde erst ein Thema des 19. Jahrhunderts – E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann und Die Automate, Edgar Allan Poes Maelzel’s Chess-Player oder Ambrose Bierce’ Moxon’s Master waren Schlüsselwerke der Rationalismus-Kritik des romantischen 19. Jahrhunderts oder Warnung vor einer allzu technologiegläubigen Zeit wie Villiers de L’Isle-Adams L’Eve future. Das leichte Schaudern, das uns De Santis’ Automaten bescheren, speist sich aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts, aber nicht nur: De Santis setzt noch einen drauf und verschiebt seine Perspektive bis zu dem großen amerikanischen Schriftsteller Philip K. Dick (den De Santis für so bedeutend wie James Joyce hält) und dessen Androiden und Replikanten, die die Unterscheidbarkeit von Mensch und Maschine unmöglich machen.
Ein drittes und letztes Beispiel: Der nette Ex-Henker Kolm, der Dalessius zur Seite steht, ist als »Soziotyp« ein naher Verwandter der Henkerssippe Sanson, deren Memoiren, hauptsächlich im 18. Jahrhundert spielend, ein großer Bucherfolg des 19. Jahrhunderts waren. Für Kolm endete sein Traum von einer perfekten Tötungsmaschine bekanntlich fatal, und es blieb dem berühmten Dr. Guillotin überlassen, dem Hinrichten einen quasi demokratischen Charakter zu verleihen.
Pablo De Santis spielt mit all diesen kulturhistorischen Andeutungen, Verweisen und Tricks, sodass wir uns in einer fast klassischen Gothic novel zu befinden glauben – mit mörderischen Mönchen, festungsartigen Klöstern, Theaterdonner, leichentransportierenden Linienkutschen, bizarren Bordellen und tausend anderen, sehr komischen Einfällen. Komik und Ironie lagen aber den »Originalen«, also den Schauer- und Geheimbund-Romanen von Schillers Der Geisterseher bis Walpoles Das Schloss von Otranto doch sehr fern. Der Hintergrund, den De Santis zeichnet, die Macht- und Positionskämpfe des Klerus gegen die aufklärerische Dynamik der Enzyklopädisten um Diderot, d’Alembert und eben Voltaire, ist so präzise ausgepinselt, dass uns ein Kalligraph, der nicht dem Druck, sondern der Schrift vertraut, nicht besonders erstaunt. Selbst wenn er Voltaires Herz in ein unbenanntes Buenos Aires verschleppt, obwohl wir doch sicher wissen, dass es von einem gewissen Marquis de Villette vergoldet und dem uns aus unserem Roman bekannten Sekretär auf Schloss Ferney, Wagnière, zur treuen Verwaltung übergeben wurde, der damit aber nichts Rechtes anzufangen wusste.
Pablo De Santis schon.
Die Gothic novel, könnte man sagen, war das schlechte Gewissen des 18. Jahrhunderts gegenüber der Aufklärung, die Automatenthematik das schlechte Gewissen des 19. Jahrhunderts gegenüber der um sich greifenden Technologie, und der Topos der Androiden, Roboter, Clons, Cyborgs und Replikanten ist Ausdruck einer nunmehr universalen Paranoia des 20. Jahrhunderts.
Und was ist dann Voltaires Kalligraph? Die Freude an einem schön geschriebenen Mord-Roman, der die Kulturgeschichte nicht als verstaubtes Möbel sieht, sondern als durchaus aktuellen Schauplatz, den man nur ein klein wenig anders, ein klein wenig schräg und mit leicht ironischem Blick angucken muss – und schon beginnen die absonderlichsten Traumgestalten ein kluges und unterhaltsames Eigenleben und -sterben.