Fritz von Klinggräff: Señor De Santis, in Deutschland haben Sie mit Ihrem Roman Die Übersetzung ziemlich Furore gemacht. Und wie immer waren den Kritikern die Vergleiche mit großen Vorbildern schnell zur Hand: Kafka, insbesondere aber Ihr Landsmann Borges. Können Sie damit leben?
Pablo De Santis: Natürlich bin ich stark von Kafka und Borges beeinflusst – welcher Schriftsteller wäre das nicht. Allerdings habe ich diese beiden Autoren schon in meiner Kindheit gelesen. Da war ich wohl eher eine Ausnahme. Außerdem schreibt sich ihr Einfluss dadurch wohl sehr viel tiefer ins Bewusstsein ein. Stark beeinflusst aber haben mich auch immer wieder Philip K. Dick, Leo Perutz und Bioy Casares.
Die Übersetzung und jetzt Die Fakultät werden in Deutschland als Kriminalromane rezipiert. Sind Sie damit einverstanden? Haben Sie sich bewusst dieses Genres bedient?
Das Genre ist mir ziemlich egal. Aber natürlich hat die Detektivgeschichte für jeden zeitgenössischen Schriftsteller einen hohen Reiz. Denn keiner von uns kommt an der Tatsache vorbei, dass die sogenannte Literatur heute unter einem prekären Mangel an Form leidet. Es fehlt der Formenkanon. Das ist eine Binsenwahrheit. So können wir Schriftsteller eigentlich nur dankbar dafür sein, dass es den Rettungsanker der Detektivgeschichte gibt – und es gibt heutzutage ja auch kaum noch einen großen Schriftsteller, der nicht mit dem Formrepertoire des Kriminalromans spielt. Wobei ich hier natürlich nicht vom zeitgenössischen Krimi spreche, sondern von der Tradition des englischen whodunnit, also von der klassischen Detektivgeschichte mit ihrem strengen Formenkanon.
Sie sind Agatha-Christie-Fan?
Klar. Agatha Christie habe ich schon als Zwölfjähriger verschlungen. Also sogar noch vor Kafka und Borges.
Also dann: Wie wärs mit einer Selbstbeschreibung von Die Fakultät mittels der formalen Kriterien für den Rätselkrimi?
Stimmen Sie sich einfach ein auf die angelsächsische Gothic novel, auf die englische Landschaft der Geisterschlösser, in denen Agatha Christie zu Hause war. Dann sind Sie gar nicht so weit entfernt von jenem Gebäude, in dem mein Roman Die Fakultät spielt: Sein Schauplatz ist – fast wie in einem locked-room-mystery – die alte Fakultät für Geisteswissenschaften in Buenos Aires. Und hier entsteht diese tödliche Schlacht zwischen den Literaturwissenschaftlern, die in den unzähligen Räumen des Gebäudes nach dem Werk eines rätselhaften Autors suchen, von dem kein Werk mehr erhalten ist. Der Name dieses Autors ist Homero Brocca – und Sie wissen: Die Verbrechen, die Morde, die Diebstähle, alles steht letzten Endes in einem direkten Zusammenhang mit diesem verschollenen Werk. Und die Auflösung des Rätsels um Homero Brocca natürlich ebenso.
Vielen Dank für diese kleine Zusammenfassung Ihres Romans, Señor De Santis. Aber Sie untertreiben natürlich, wenn Sie aus Ihrem vielschichtigen argentinischen Roman eine englische Gruselgeschichte aus dem 18. Jahrhundert machen. Die Fakultät ist mindestens genauso sehr ein Spiel mit der Moderne, dem Zeitalter literarischer Selbstreflexivität. Nehmen wir das Archiv, die Bibliothek, in der sich die Ereignisse am Ende überschlagen. Man könnte hier fast von einer Parodie des großen Bibliothekstopos in der Weltliteratur irgendwo zwischen Alexandria, Borges, Canetti oder Eco sprechen. Aber während diese Bibliotheken am liebsten im prasselnden Feuer ihr Ende finden, geben Sie Ihre Bibliothek dem Wasser preis. Die Geistesgeschichte in Die Fakultät weicht buchstäblich auf. Was soll das?
(Pablo De Santis lacht:) Was das soll? Es handelt sich hier um den schnöden Fall von blankem Realismus. Die Bibliothek in Buenos Aires, von der mein Roman handelt, gibt es wirklich, und ich bilde sie einfach eins zu eins in ihrem erbärmlichen Zustand ab. Meine Idee war gar keine Idee und auch kein literarischer Erinnerungstrick, sondern sie hat mit dem tatsächlichen Zustand der Fakultät für Geisteswissenschaften in Buenos Aires zu tun. Trotzdem gebe ich gerne zu, dass ich ein gewisses Faible fürs Wasser habe. Das Feuer liegt mir nicht – mein Sternzeichen ist der Fisch. Es gibt da also eine natürliche Nähe zur wasserfleckigen Literatur.
Also kein Widerwillen gegen Ecos Roman – nur die ganz normale Geschichte eines Fisches.
Ich bin ein großer Fan von Umberto Eco – dass da kein Missverständnis aufkommt. Aber ernsthaft: Es gibt tatsächlich ein Gebäude in der großen geisteswissenschaftlichen Fakultät von Buenos Aires, das legendenumwoben ist. Dieses Gebäude war bis in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts ein Hotel. Und die Legende sagt, dass es riesige Kellergewölbe unter dem Haus gibt, dass dort Nähmaschinen der Stiftung Evita Perón stehen, ja, dass es da sogar noch einen Bomber, also ein altes argentinisches Kampfflugzeug, gibt.
Lauter Geschichten, die noch darauf warten, geschrieben zu werden. Homero Brocca hingegen, Ihr geheimnisumwobener Autor, der sich so manchen Mord auf den Buckel lädt, scheint, dem Vornamen nach zu urteilen, Abkömmling eines berühmten abendländischen Mythenerzählers zu sein. Wie kommt das? Ist die abendländische Überlieferungsgeschichte mitsamt ihren verborgenen Autoren, Schriften und Literaturen für einen argentinischen Autor von solch mörderischer Gewalt?
Ach, wissen Sie, in Argentinien leben wir eher am Rande des Abendlandes. Und zwar so sehr, dass man da schon häufiger einmal das Gefühl hat, man fällt gleich runter. Ein Schritt noch … und zack. Die Geschichte des Abendlandes ist ja immer schon eine Geschichte der Zerstörung von Büchern gewesen. Und eine Geschichte der Angst vor Büchern. Aber die Geschichte vom Rande des Abendlandes – die Geschichte des »Instituts für Nationale Literatur« in Buenos Aires – ist natürlich eine andere.
Ich habe viel nationale Mythologie in diesem Buch gefunden: Ich habe mich zum Beispiel darüber gewundert, mit wie viel Macht sich in Die Fakultät die Gewalt mittels der nationalen Überlieferungsgeschichte fortsetzt. Ihr Autor, Homero Brocca, schreibt die argentinische Literatur fort, um zu zerstören. Warum das?
Es geht nicht so sehr um die Zerstörung des Buches an sich. Es geht um die Zerstörung des Originals, also gewissermaßen des allerersten Manuskripts. Sie wissen, dass viele Schriftsteller mit dieser Idee gespielt haben. Es ist für den Autor natürlich leicht, diesen Bruch zu wagen und sein Buch einfach zu verbrennen. Es gibt einen französischen Psychoanalytiker, der ein Buch geschrieben hat, das Les Biblioclasters, also Die Bücherzerstörer, heißt. Da wird nicht nur untersucht, wo und warum Diktatoren Bücher verbrannt haben, sondern auch aus welchen anderen Gründen Bücher zerstört wurden. Im Falle Kafkas zum Beispiel oder im Fall des Rabbiners Nachmann geht es um die heillose persönliche Angst, dass sie das geschriebene Wort vom Ursprung wegführen könnte. Die Angst also, dass das geschriebene Wort plötzlich nicht mehr so ursprünglich, so bedeutsam und einzigartig ist wie das gesprochene Wort, hat teilweise eine zerstörende Wirkung.
Reden wir nicht drum herum: Am Anfang Ihres Werkes, sprich: des mörderischen Werkes von Homero Brocca, stand nicht das ursprüngliche Wort, sondern ein Buch mit lauter leeren Seiten. Homero Brocca hatte buchstäblich nichts geschrieben. Erst als buchstabensüchtige Literaturwissenschaftler versuchten, dieses leere, also gar nicht vorhandene Werk mittels Interpretation zu rekonstruieren, nahm die Gewaltgeschichte ihren Lauf. Es ging also keineswegs um ein eifersüchtig gehütetes Original. Mörderisch war die Überlieferungsgeschichte eines Werkes, das gar nicht existierte.
Ach wissen Sie, Sie sollten sich nicht so sehr an der Gewalt aufhängen. Die war hier eher Mittel zum Zweck. Im Zentrum von Die Fakultät steht das Spiel mit der Fantasie. Und natürlich ist das Ganze eine Satire auf den Literaturbetrieb, wo der Kritiker oft mehr zu wissen vermeint als der Autor selbst.
Und der Ausweg aus diesem Dilemma zwischen Autor und Kritiker sind dann die Frauen, von denen man in Ihrem Roman nie genau weiß, ob sie eher aus Lust schreien oder eher aus Panik.
Ja. Manchmal sind die Frauen die Lösung. Oft sind sie aber auch das Problem.