Pablo De Santis’ Literatur spiegelt die starke Präsenz der verschiedenen literarischen Genres im Panorama der argentinischen Literatur wider. Die großen Namen des argentinischen Literaturpantheons, Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares und Julio Cortázar, pflegten die verschiedenen Genres und nahmen sie mit in die höheren Gefilde der Literatur. Bis heute beanspruchen Fantastik, Science Fiction, Kriminalliteratur, aber auch der Comic in Argentinien einen höheren Status als in den meisten anderen Ländern. Auch Pablo De Santis fühlt sich in dieser Tradition verankert.
»Meine Bücher zeigen deutlich, welch wichtige Stellung diese literarischen Genres in der argentinischen Literatur haben. Bei uns stehen der Kriminalroman, die fantastische Literatur und Science Fiction im Zentrum, während sie in anderen Literaturen normalerweise eine marginale Rolle spielen. Unsere größten Autoren schrieben in diesen Genres.«
Wenn Pablo De Santis von Kriminalromanen spricht, denkt er in erster Linie an Detektiv- und Rätselromane. Auch Borges und Bioy Casares hielten Detektivromane für die hochwertigeren Werke im Vergleich zu den sensationalistischen, mit Sex & Crime durchsetzten Thrillern. Detektivromane galten ihnen aufgrund ihrer Ordnung, Konstruiertheit und Formstrenge als hohe Kunst, von der die Literatur im Allgemeinen etwas lernen konnte. Die Reihe El Séptimo Círculo, deren Herausgeber sie von 1945 bis 1956 waren, machte Autoren wie Nicholas Blake (alias Cecil Day-Lewis), John Dickson Carr, Michael Innes oder Anthony Gilbert (alias Lucy Beatrice Malleson) in Argentinien bekannt und beeinflusste die Weiterentwicklung des Genres maßgeblich. Bestimmte Elemente des Rätsel- und Detektivromans erwachen bei Pablo De Santis zu einem neuen, andersartigen Leben. Der Autor schöpft mit vollen Händen aus der Tradition, ohne auch nur annähernd auf das Niveau eines Plagiats zu fallen. Was fasziniert ihn am Detektivroman besonders?
»Ein Element des Kriminalromans, das meiner Meinung nach vergessen wurde, das aber seit den Anfängen bei Poe und Conan Doyle existiert, ist der Dialog zwischen jemandem, der im Besitz der Methode ist, und jemandem, der es nicht ist. Für mich ist dieses Element sogar noch wichtiger als das Vorhandensein eines Verbrechens an sich.«
Die Beziehung des romantischen Helden, der durch den Dialog die Wahrheit ermittelt, zu seinem Assistenten gehört zu jenen Elementen, die De Santis neu belebt hat (vor allem in Das Rätsel von Paris). Aber auch die Art der Darstellung übernimmt er aus einer ganz alten Schule: Nicht der Held, der über Scharfsinn, Methode und Stärke verfügt, sondern der weniger kluge Mitläufer ist Erzähler der Geschichte (zum Beispiel in Die Fakultät, aber auch in Das Rätsel von Paris). Scharfsinn und Intelligenz steht De Santis skeptisch gegenüber.
»Ich glaube, dass Intelligenz eine Art Beschränkung darstellt. Ich habe schon sehr intelligente Leute kennengelernt, denen der Sinn für das Menschliche fehlte, der es einem ermöglicht zu erkennen, wie die Dinge funktionieren und wie die Menschen sind. Es gibt einen Aphorismus von Lichtenberg, der ein Modell für eine Grabinschrift darstellt: ›Der Mann hatte so viel Verstand, dass er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.‹«
Zu seiner Vorliebe für den Detektivroman gehört auch die Faszination für das Geheime, Rätselhafte, Hermetische, das für den Autor nicht nur in der Kriminalliteratur eine Rolle spielt, sondern Grundlage allen Erzählens ist.
»Meiner Meinung nach stehen Hermetismus und Literatur in einer engen Beziehung zueinander. Auf der einen Seite ist die Idee des Geheimnisses in der Literatur sehr präsent. Eine Geschichte zu erzählen, ist, wie ein Geheimnis zu erzählen. Es gibt immer etwas – nicht nur in Kriminalromanen, sondern in jedem Buch –, was erst am Ende aufgedeckt wird. Im Hermetismus ist das Wissen etwas Geheimes, das nur den Eingeweihten gehört. Jede Geschichte ist eine Art von Initiation. Der Eingeweihte ist der Leser des Buchs, der am Ende das Geheimnis kennt.«
Pablo De Santis verlegt die Handlung seiner Romane gern in erkenntnistheoretisch anders geartete Epochen wie das 18. (Voltaires Kalligraph), 19. (Das Rätsel von Paris) oder frühe 20. Jahrhundert (Die sechste Laterne). Aus der Optik unserer Zeit wirken seine historischen Verdichtungen mitunter schräg und komisch (was Thomas Wörtche im Nachwort zu Voltaires Kalligraph verdeutlicht). Häufig wählt er auch ferne Orte für seine Romane. Das sind Toulouse und Paris in Voltaires Kalligraph, New York und Paris in Die sechste Laterne und abermals Paris in Das Rätsel von Paris. Die Übersetzung und Die Fakultät spielen zwar in Argentinien, aber an Schauplätzen mit vielen fantastischen Elementen.
»Das sind mythische Orte. Ich habe zum Beispiel ein paar Kriminalgeschichten geschrieben, die im alten China spielen. Ob das alte China oder Paris – für mich sind das Orte, an die sich die Vorstellungskraft auf natürliche Weise anpasst. Wenn ich die Handlung in Sydney in Australien spielen lasse, dann muss es das wirkliche Sydney sein und kein Mythos über Sydney. In Paris hingegen funktioniert das ganz natürlich. Buenos Aires ist als mythische Stadt auch ziemlich gut verwendbar. Vielleicht für europäische Leser nicht so sehr, aber für Argentinier ist es leicht, sich eine Handlung vorzustellen, die im Buenos Aires der Vergangenheit spielt. Wenn man die Handlung aber in die argentinische Provinz verlegt, klappt das nicht.«
Obwohl in der argentinischen Kriminalliteratur auch ein anderes, gesellschaftskritisches Segment mit Autoren wie Raúl Argemí oder Sergio Olguín immer mehr Terrain gewinnt, bleibt Pablo De Santis bei einer borgesken Haltung. Er verweigert sich einer engagierten Position, da er nicht daran glaubt, mit Literatur irgendeine Wahrheit über gesellschaftliche Problemfelder vermitteln zu können. Für ihn spielt sich Literatur auf einer symbolischen Ebene ab. Gedankenexperimente und -spiele dringen tiefer in unsere Vorstellungskraft ein als das streng Mimetische.
»Wir identifizieren uns mit Kriminalromanen nicht deswegen, weil wir selbst schon Verbrechen verübt haben – zumindest ist es in meinem Fall nicht so – oder weil wir sie aufgedeckt haben, sondern weil uns Kriminalromane den Eindruck vermitteln, dass hinter allem, was wir an der Oberfläche erkennen, etwas Verschüttetes, Verstecktes aus der Vergangenheit liegt – auch aus unserem Leben. Meiner Meinung nach ist es das, was dem Kriminalroman Leben verleiht, der Grund, warum wir uns von ihm fesseln lassen. Deswegen interessiert mich auch die gesellschaftliche Komponente bei Romanen weniger, denn ich glaube, dass die Art und Weise, wie man zu Literatur in Beziehung tritt, nie direkt ist. Wenn jemand einen Roman schreibt, der in Buenos Aires spielt und die Armut der Stadt zeigt, wird er trotzdem nie etwas Wahres über die Misere dort sagen können. Im Gegenteil, man tritt immer über eine symbolische Ebene mit Literatur in Beziehung.«
Polizeiliche Ermittlungsarbeit wird heute in großen Ermittlerteams geleistet, hinter denen viele Experten für die unterschiedlichsten kriminalistischen Spezialgebiete stehen. Diese sichern mikroskopisch kleine Spuren, erstellen genetische Fingerabdrücke, bestimmen den Todeszeitpunkt von Wasserleichen. Amerikanische TV-Serien wie CSI und ihre Spin-offs haben in den letzten Jahren den wissenschaftlichen Aspekt der Ermittlungsarbeit in den Vordergrund gerückt. Für Pablo De Santis sind jedoch gerade die technischen Details in der Literatur nicht von Bedeutung.
»Der Kriminalroman wurde schon immer von symbolischen und nicht von wissenschaftlichen Elementen beherrscht. Bei Poe und bei Sherlock Holmes gab es keine Wissenschaft. Es ging um symbolische Elemente, die um das Verbrechen kreisten. Kriminalromane heute spielen zu lassen, ist gar nicht so einfach, mit der modernen Wissenschaft, der DNA-Analyse und diesen ganzen technischen Dingen. Darum verlege ich die Handlung lieber in andere Epochen oder konstruiere eine Geschichte, die ohne forensische Medizin, Kriminalbiologen und dergleichen auskommt. Aus diesem Grund geht es in den TV-Serien auch nicht mehr nur um einen einzelnen Fall.«
Wenn sich Pablo De Santis häufig seiner eigenen Zeit und seiner Stadt mit all ihren soziopolitischen Facetten erzählerisch entzieht, worin sieht er dann den Sinn seiner Literatur? Unterhaltung als Ziel beurteilt er keinesfalls negativ. Als erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor schreibt er der Literatur jedoch auch eine ähnliche Funktion wie dem Spiel zu.
»In meiner Literatur steht Unterhaltung im Mittelpunkt. Literatur ist ein Spiel, ein ernstes Spiel. Auch Kinder können beim Spielen sehr ernst und auf ihr Spiel konzentriert sein, genau das ist für mich Literatur, und zwar beim Schreiben als auch beim Lesen. Literatur heißt, eine Vorstellungswelt zu entwerfen, die der Leser dem Autor abnimmt.«
Pablo De Santis’ Romane gehen sparsam mit Humor um, können aber allesamt als Satiren auf die abendländische Geistesgeschichte gelesen werden, in die sich auch die argentinische Literatur einschreibt – wenn auch geografisch vom äußersten Rand her. Es sind Werke voller Anspielungen und indirekten Zitaten, die abwechselnd aufklärerisches, revolutionäres, modernes oder postmodernes Gedankengut ins leicht Absurde verzerren. Einige seiner Lieblingsmotive gehören zu den Topoi der abendländischen Literatur: der Turm zu Babel, geheime oder tödliche Sprachen, Automaten und labyrinthartige Gebäude, die an Szenarien aus den Gothic Novels erinnern. Er ist kein Autor der ausschweifenden Beschreibungen und detailreichen Charakterisierungen. Seine Plots sind dicht, schnell, poetisch aufgeladen und polyvalent. Für verschiedene Erzählebenen und perspektivische Brechungen bleibt da kein Platz. Die einzige Gefahr besteht wohl darin, im Eifer des Gefechts ein paar en passant ausgeteilte Seitenhiebe zu überlesen. Aber da ist der Leser eben gefordert!
Nach einem Interview mit Pablo De Santis vom 19. Februar 2009 in Buenos Aires, geführt von Doris Wieser.