Als kleiner Junge habe ich einmal beim Schein einer Taschenlampe, während mein Bruder in dem Stockbett unter mir schlief, in einem Rutsch Die Rache des Sandokan von Emilio Salgari durchgelesen. Wenig später verschlang ich Unmengen von Detektivromanen, und auch als Gymnasiast vertrieb ich mir noch die Zeit damit, Gedichte auswendig zu lernen, Verse zu schmieden und mir Erzählungen auszudenken, die ich aber nie zu Ende brachte. Was ich damit sagen will, ist, dass ich gut dreißig Jahre später vielleicht weniger ein Literaturlehrer bin, der schreibt, als vielmehr ein Kind, das einmal Schriftsteller werden wollte, dann aber erst einmal Literaturlehrer geworden ist.
Ein Buch war für mich damals etwas mindestens so Kostbares wie ein Fußball, ein wunderschöner Gegenstand, der dazu da war, dass man ihn berührte, ein Mittel, das einem unmittelbar Lust bereitete. Ich las schlichtweg alles, was mir in die Hände fiel, Bücher für Erwachsene genau wie Kinderbücher, Texte, die in Großbuchstaben gedruckt und mit Illustrationen versehen waren, wie Texte in langen Reihen von Terzetten. Doch mit der Zeit wuchs das Verlangen (ein unwiderstehliches Verlangen, wie das des Fischers, wenn er in weiter Ferne das Meer sieht), auf die andere Seite des Flusses, des Spiegels, des Blattes zu gelangen. In die alte Rüstung zu schlüpfen. Die Marionette in Bewegung zu setzen. Endlich eine Geschichte zu erzählen. Zu schreiben.
Ganz so weit war ich damals aber noch nicht. Meine jugendliche Begeisterung richtete sich zunächst vollkommen auf die Musik. Die Neunzigerjahre verbrachte ich damit, mir Gitarrengriffe und Liedtexte anzueignen, ein Auge immer auf das Instrument gerichtet, das andere auf die Wirklichkeit, die von mir wie von jedem Kind der Arbeiterklasse verlangte, dass ich mir einen Job suchte, egal was, als Ladenhilfe, Laufbursche, Regalauffüller im Supermarkt, Kellner … Meine Gymnasialzeit lag schon bald hinter mir, wie ein kurzer Traum. Ich wechselte mehrfach den Job und das Studienfach, schaffte es aber zum Glück, schließlich das Studium zu beenden, das am besten zu mir passte: Spanische Philologie. Damals schrieb ich auch meine ersten kurzen Erzählungen, merkte aber, dass ich dabei unwillkürlich den Tonfall und den Stil der Autoren nachahmte, die ich gerade las – ich hatte keinen eigenen Stil, dessen war ich mir zu meiner Verzweiflung nur zu bewusst. Heute weiß ich allerdings, dass diese imitatio auctoris mir gutgetan hat, sie war ebenso notwendig wie das Absolvieren der Universität, die mit der Lektüre der klassischen Autoren der spanischen Literatur zugebrachten Vormittage in der Bibliothek oder auf dem Rasen des Campus und die nächtlichen Treffen mit anderen Literaturstudenten, bei denen in ein und derselben Unterhaltung die Namen Borges, Chandler, Valle-Inclán oder Góngora auftauchen konnten. Noch einmal las ich sämtliche Abenteuer von Sherlock Holmes wie auch, jedes Mal, wenn ein neuer Band erschien, die von Pepe Carvalho – um nur zwei Beispiele hervorragend geschriebener Kriminalliteratur zu nennen, die an den Universitäten Wertschätzung fanden und in deren Studienprogramme aufgenommen wurden, auch wenn ihre Autoren selbst sie vielleicht nicht richtig ernst nahmen.
Ein Grund dafür, dass die Kriminalliteratur so oft als minderwertig betrachtet wird, ist die Auffassung, da es in der darin geschilderten Welt – für gewöhnlich eine Welt am Rand der Gesellschaft oder eine Welt, die in Auflösung begriffen ist – grausam und gewalttätig zugehe, müsse auch die für deren Darstellung verwendete Sprache einfach und direkt sein und auf alle stilistischen Finessen verzichten, eben so, wie wenn jemand einfach mal mit der Faust auf den Tisch haut. Viele Leser, aber eben auch Autoren von Kriminalromanen sind dieser Meinung. Hundert Jahre nach Marinetti habe ich Kollegen lautstark verkünden hören, Adjektive hätten in einem roman noir nichts zu suchen. Der Einsatz von Metaphern kam dabei kaum besser weg. Wer sich nicht daran hält, muss mit freundlichen oder auch weniger freundlichen Vorwürfen rechnen. Woran mag das liegen? Haben doch weder die Begründer des Genres, an erster Stelle Poe, und nach ihm Chandler und Hammett, noch deren Kinder, Georges Simenon zum Beispiel, und ebenso wenig ihre Enkel – denken wir nur an Manuel Vázquez Montalbán – sich einer einfachen und direkten Sprache bedient, sondern oft tagelang am Stil ihrer Texte herumgefeilt. Wie jeder nachprüfen kann, verzichten diese Texte aber auch sonst in keinerlei Hinsicht auf all das, was gute, anspruchsvolle Literatur ausmacht. Vielleicht rührt die falsche Erwartung auch bloß daher, dass sich Autoren von Kriminalromanen genauso wenig wie die Autoren anderer Arten von Literatur der Vorherrschaft einer Kunstsprache entziehen können, die nicht erst seit heute den Ton angibt – die des Films natürlich.
Nach der Universität wartete – wie für die meisten von uns – erst einmal der Sprung ins kalte Wasser prekärer Arbeitsverhältnisse. Zwischen Gelegenheitsarbeiten und den regelmäßigen Schwierigkeiten, das Geld für die mit anderen geteilte Wohnung in den Bergen bei Madrid aufzutreiben, gab es jedoch auch zwei gute Neuigkeiten: Zwei meiner Erzählungen wurden bei Wettbewerben für Kriminalliteratur ausgezeichnet und veröffentlicht, und, was für meine schriftstellerische Entwicklung viel wichtiger war, ich fing an, am Wochenende für einen öffentlichen Radiosender zu arbeiten. Eigentlich wurde ich dafür bezahlt, frühmorgens das Studio aufzuschließen, am späten Abend alles wieder zuzumachen und in der Zwischenzeit für einen reibungslosen Programmablauf zu sorgen. Bald schon beteiligte ich mich aber auch an Musik-, Literatur- und Filmsendungen. Was man beim Radio nicht alles lernt! Manchmal musste ich im Auftrag der Stadtverwaltung, die das Radio betrieb, in aller Eile Texte redigieren. Oder ich verfasste in stundenlanger Arbeit ganze Sendungstexte, die ich immer wieder auch vortragen musste (egal ob es sich um erzählerische Texte, Reportagen, Kommentare, Nachrichten oder was auch immer handelte). Manchmal übernahm ich auch selbst Sprecherrollen in einer Hörspielserie. Bei der Arbeit fürs Radio muss man immer die Hörer mitbedenken, alles muss so ausgesprochen und formuliert werden, dass es zum Zuhören verführt und immer verständlich bleibt. Wenn man beim Schreiben im Bewusstsein hat, dass alles, was man schreibt, anschließend vorgelesen werden soll, ändert das die Art, wie man schreibt, man wird genauer, schärft sein Bewusstsein für die Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme und der Worte. Mein Stil, wie auch immer er heute beschaffen sein mag, ist durch die Arbeit für das Radio geformt worden, auch wenn mir das damals nicht bewusst war.
Um schließlich den großen Schritt zu wagen und sich an die Abfassung eines Romans zu machen, braucht es nicht nur das nötige Handwerk und die richtige Idee, es müssen darüber hinaus auch günstige Umstände eintreten. In meinem Fall war es so weit, als meine Freundin für eine wichtige Prüfung lernen musste. Ich arbeitete damals bereits als Lehrer an einer Sekundarschule. Für die Sommerferien mieteten wir zusammen ein Häuschen in einem kleinen Dorf in Galicien. Alles, was es dort gab, waren Ruhe und Abgeschiedenheit. Ich hatte einen angefangenen Roman mit im Gepäck und beschloss, ihn auf dem Dorf fertig zu schreiben. Dort konnte man sicher sein, dass man stundenlang arbeiten konnte, ohne vom Telefon unterbrochen zu werden – es gab keins. Als ich fertig war, gab ich den Text zwei oder drei Freunden zum Lesen. Vielleicht war tatsächlich der Augenblick gekommen, ihn zu veröffentlichen. Mein guter Stern brachte mich mit einem jungen Verlag voller fabelhafter Ideen in Verbindung. Ich schickte das Manuskript von Poker mit Pandora dorthin und schlug vor, eine Serie daraus zu machen. Damit nahm das literarische Leben des gescheiterten Detektivs Julio Cabria seinen Lauf. Zwei Jahre später sitze ich am dritten Band. Und frage mich schon seit einer ganzen Weile: Wer ist eigentlich dieser spielsüchtige Julio Cabria? Wie zum Teufel bin ich auf die Idee gekommen, Krimis zu schreiben? Als ob ich etwas Neues zu diesem Thema beizutragen hätte … Aber was macht überhaupt einen Kriminalroman aus? Was meinen ersten Roman betrifft, den ich eines noch gar nicht so fernen Sommers in aller Freiheit und Unschuld abgefasst habe, bin ich irgendwann zu dem Urteil gekommen, dass ich jedenfalls nicht völlig falsch lag. Damit meine ich nicht, dass er sich tatsächlich einigermaßen verkauft hat, die Kritiken gut waren und die Leser ihren Spaß an der Lektüre hatten. Vielmehr hielt ich beim Abfassen meines ersten Romans dem Genre, bei dem ich Unterschlupf gesucht hatte (dem geliebten und bewunderten Genre des roman noir), auf die einzig mögliche Art die Treue: indem ich seine Tradition respektierte und zugleich verriet. Veränderte. An die Gegenwart anpasste. Wie das? Indem ich einerseits die typischen Bestandteile eines Kriminalromans in einer Reihe von Vierteln des Madrider Stadtzentrums ansiedelte, in denen sich eine reichlich merkwürdige Mischung von Figuren, geschichtlichen Epochen und sozialen Schichten vorfindet. Andererseits, indem ich einen Stil entwickelte, der nicht auf Stilmittel und Erzähltechniken verzichtete, die häufig der sogenannten »großen Literatur« vorbehalten bleiben. Zum Helden wählte ich einen Privatdetektiv, weil dieser als einzige Figur in der Lage ist, den Leser die Dinge aus Sicht des Gesetzes, des Verbrechers und seiner, des Detektivs, selbst sehen zu lassen.
Schreiben ist ein schwieriges und geheimnisvolles Unterfangen, das einem hin und wieder großes Vergnügen bereiten kann. Eines der größten besteht für mich darin, das, was ich geschrieben habe, in eine andere Sprache übersetzt vorzufinden. Bei der Aussicht, Julio Cabria, Meléndez oder Vitriolo deutsch reden zu hören (also eine Sprache, die ich gelernt habe und von der ich begeistert bin), vernehme ich im Inneren meines Lehrerkörpers ein entzücktes Lachen. Und ich frage mich, ob diese Übersetzung nicht der neueste Streich eines Kindes ist, das einst davon träumte, Schriftsteller zu werden.