Als ich begann, die Erinnerungen an meine neunjährige Gefangenschaft niederzuschreiben, konnte ich nicht ahnen, wie lang dieser Weg sein sollte und welche Hindernisse es zu überwinden galt. Ohne eine klare Vorstellung und ohne zu wissen, wie weit mein Können – oder Nicht-Können – reichen würde, fing ich ganz unbekümmert an und träumte davon, die neun Jahre des Schreckens in nur einem Jahr zu Papier zu bringen. In Wirklichkeit brauchte ich aber mehrere Jahre; ich musste erst einmal versuchen, mit mir ins Reine zu kommen und mindestens einen Teil meines Selbstbewusstseins wiederzuerlangen. Das war sehr schwer. Ich musste meine Gefühle ordnen und, noch wichtiger, andere Menschen beurteilen und ihr Handeln bewerten. Ich musste die Ereignisse rekonstruieren, und ich merkte bald, welche große Verantwortung damit verbunden ist. Kann ich diese Verantwortung tragen? Wie war die Wirklichkeit? Wie haben andere Gefangene die gleichen Ereignisse wahrgenommen? Kann ich meine Einschätzungen so weit zurückhalten, dass dem Leser Raum für eigene Gedanken bleibt? Kann ich objektiv bleiben? Diese innere Unruhe bedrängt mich bis heute.
Viele fragen mich, wie es möglich ist, dass ich mich jetzt noch an so viele Einzelheiten erinnere, obwohl ich doch nicht einmal auf Notizen zurückgreifen kann. In Gefangenschaft hat man viel Zeit zum Nachdenken über sich, das Umfeld, die Menschen, ihre Beziehungen zueinander, Gefühle, Emotionen, Stimmungen und Erfahrungen. Dort ist das Leben eng, Tag um Tag verstreicht in schmerzlicher Eintönigkeit. In dieser geschlossenen und bedrückenden Welt wird vieles unvergesslich. Ich bin in jene Jahre zurückgereist, habe die Erlebnisse, die ich unbewusst oder bewusst verdrängt hatte, wieder in mein Gedächtnis zu-rückgerufen. Dennoch frage ich mich immer wieder, ob es mir aus meiner heutigen Lebenssituation heraus in Deutschland überhaupt möglich ist, damalige Empfindungen, die Empfindungen einer Gefangenen, vor deren Zukunft ein großes Fragezeichen stand, aufzuarbeiten. Es sind in meine Erinnerungen auch Gedanken aus meinem jetzigen Leben eingeflossen, ich konnte mich nicht ganz auf die Vergangenheit konzentrieren und dabei meine Gegenwart vergessen. Meine Seele war hin- und hergerissen zwischen den beiden Welten. Diese Verwirrung hat mich oft an den Rand der Resignation gedrängt, und ich konnte nicht mehr weiterschreiben. Doch ich wusste genau: Ich werde mit meinem Leben nicht zurechtkommen, wenn ich diese Arbeit nicht zu Ende führe.
Das Schreiben dieses Buches hat mir sehr viele Schmerzen bereitet. Wie viele meiner Freunde und Leidensgenossen haben mit ihrem Leben bezahlt! Wie viele von ihnen sind unter dem fortwährenden Druck psychisch zusammengebrochen, sind zu chronisch Kranken oder Krüppeln geworden! Die Erinnerungen an die Gefangen-schaft beherrschen mein Leben.
Ich habe mich bemüht, einen Teil des unendlichen Leids in diesem Buch zusammenzutragen. Es ist eine kleine Auswahl von dem, was ich im Gedächtnis habe. Nur wenige Namen kann ich nennen, aber nie, niemals darf man vergessen, dass es nur Einzelne von den Unzähligen sind, die in meiner Heimat unsägliche Schmerzen ertragen haben – und immer noch ertragen.