Der Mann, der nachts rastlos durch Tokio streift, ist nicht der Mörder. Das ist die erste verblüffende Erkenntnis bei der Lektüre von Masako Togawas Schwestern der Nacht. Ein Klischee wird gleich am Anfang unterlaufen.
Das zweite Erstaunen, das das Buch auslöst, ist sein Erscheinungsjahr: 1963. Hätte man damals schon im Westen daran gedacht, Kriminalliteratur aus Japan zur Kenntnis zu nehmen (eine Anthologie, die 1956 in den USA erschien, war von rein akademischem Interesse) – anders als die Japaner, die immer aufmerksam und begierig westliche Krimis konsumiert haben – dann wäre Schwestern der Nacht in folgendem Umfeld gelesen worden: Der Schrei der Eule, Die gläserne Zelle und Die zwei Gesichter des Januars von Patricia Highsmith; Die Feindin und Ein Fremder liegt in meinem Grab von Margaret Millar; Ein Spiel zuviel und Eine Seele von Mörder von P. D. James; Alles Liebe vom Tod, dem Debüt von Ruth Rendell und Brink of Disaster und Third Party Risk von der heute schändlich vergessenen Constance Lindsay Taylor alias Guy Cullingford auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität.
Die frühen und mittleren Sixties waren eine Art Boomjahre für Frauen, ohne dass man damals, wie in den späten Eighties, ein großes Medienereignis daraus gemacht hätte. Alberne Etiketten wie »Die Töchter von Philip Marlowe« wären auch kaum auf diese Schriftstellerinnen anzuwenden gewesen, die im Gegensatz zu der Generation von Sara Paretsky, Liza Cody und Marcia Muller nicht die von Männern herabgewirtschafteten Genre-Ruinen instand setzten, sondern ihre originären literarischen Subversionen betrieben.
Später nannte man die Romane, die um diese Zeit herum entstanden, »Psychothriller«. Wie und weshalb letztlich ein Mörder überführt werden konnte (oder nicht), war bei Weitem nicht mehr das dominierende Interesse dieser Schriftstellerinnen. Sie hatten die Normalität, die hinter der optimistisch strahlenden Fassade jener Jahre lauerte, entdeckt. Und die war nicht schön, wenn man sie mit dem feinen erzählerischen Skalpell sezierte. Die Familie, die zwischenmenschlichen Beziehungen, der Frauenalltag (oft in den Vororten oder im schnuckeligen Eigenheim) wurden Themen, die sich mit den Schemata von Verbrechertum und Polizei, von Fall und Aufklärung nicht mehr bewältigen ließen. Die Ladies der Sixties schrieben eisklar und -kalt, biestig, sarkastisch und hart an der Grenze zu Ironie und Zynismus, nüchtern und mit fast frostiger Distanz. Gemütlichkeit und emotionale Wärme verschwanden aus dem Genre, das allmählich alle seine ehemaligen Trostversprechen konterkarierte und sich mehr und mehr von Korsetts befreite. Dass die moderne Welt wesentlich verbrecherisch, respektive gewalttätig ist, ließ sich nicht mehr im Gegensatz von Gangster und Ordnungshüter bzw. in der Makrokriminalität ganzer Staaten und politischer Systeme darstellen. Millar, Highsmith & Co. griffen die Mikroebene auf; es wurde unbehaglich zwischen den Geschlechtern.
In diesen großen Zusammenhang gehört Masako Togawa, obwohl ihr Background grundverschieden scheint. Die japanische Gesellschaft der Sechzigerjahre war einerseits von rasanter Hightech-Entwicklung gezeichnet, andererseits noch bedeutend traditioneller, insbesondere, was das Verhältnis der Geschlechter anging. Die Wunden des Zweiten Weltkrieges waren weniger vernarbt als im Nachkriegseuropa, aber der Impetus, dem Westen nachzueifern, war voll erblüht.
Innerhalb dieser mit sich selbst inkongruenten Gesellschaft, war Masako Togawa erst recht eine Außenseiterin. Bevor sie 1962 mit dem Roman Ooinaru Gen’ei, zu Deutsch Der Hauptschlüssel, debütierte, war sie eine Art ›self-made woman‹ und reüssierte als Sängerin in einem Tokioter Nachtclub, was sie mit einem gewissen »Milieu« assoziierte, aus dem man (auch heute noch) nicht unbedingt wichtige Literatur erwartet. Immerhin, ihr erstes Buch wurde mit dem Edogawa-Rampo-Preis ausgezeichnet, ihr zweites, Schwestern der Nacht, wurde ein Bestseller in Japan. International sollte es noch fast zwanzig Jahre dauern, bevor Masako Togawa ins Englische übersetzt und damit im Westen überhaupt bekannt wurde.
Innerhalb der japanischen Kriminalliteratur, die seit den seligen Zeiten von Ruikō Kuroiwa mit dem ›re-writing‹ französischer und angloamerikanischer Muster befasst war, brach Masako Togawa mit dem Mordpuzzle als dominierender Form: Edogawa Rampo (der eigentlich Tarō Hirai hieß, Edogawa Rampo ist die japanische phonetische Version von Edgar Allan Poe und das Pseudonym Programm) diktierte jahrzehntelang den Begriff von ›Krimi‹, bei dem sich Gesetz und Ordnung, vertreten durch wackere Polizeidetektive, durchsetzten. Bei Togawa ist dieses Strukturelement zum ironischen Spiel geworden. Wer die Mörderin ist, scheint lange klar und ist es dennoch nicht, und die staatliche Gerechtigkeit ist irrelevant. Mit dieser Volte ist Togawa schon sehr nahe an Patricia Highsmiths moralische Grauwerte gerückt, was allerdings in einer autoritäreren Gesellschaft als den USA noch riskanter war, zumal Masako Togawa auf alle Traditionalismen verzichtet. Ihr Tokio könnte jede Großstadt der Zeit sein, japanische Folklorismen fehlen. Der Arbeitsalltag der meisten Figuren ist entfremdet, grau und langweilig, die Anfälligkeit der Frauen für den charmanten Verführer nur allzu plausibel. Und da, wo Tradition noch obwaltet, führt sie zur Verhinderung ordnungspolitischer Maßregelung. Die einzige Zeugin, die alte Dienerin, bringt sich aus Loyalität um.
Aber Masako Togawas Beitrag zur Ausbildung eines spezifischen weiblichen Blicks auf die verbrecherischen Potenziale des Alltags beschränkt sich nicht nur darauf, das östliche Pendant von der westlich kalten Analyse des menschlichen Verhaltens und vom eisig-distanzierten Erzählton zu liefern. Dass ihre heimliche Hauptfigur eine veritable Serienmörderin ist, ist genrehistorisch bemerkenswert. Serienmörderinnen treten im Westen erst sehr viel später auf den Plan. Und weit radikaler als ihre westlichen Kolleginnen geht sie mit den sexuellen Details um, die für die Handlung wesentlich sind: Sie expliziert sie nämlich.
Togawas noch heute durchaus modern daherkommendes Buch, dessen Neuverfilmung sich vermutlich genau dieser Qualität verdankt, war kein lautes, revolutionäres Pamphlet. Sondern eine verblüffende ›Parallelaktion‹ in einer anderen Kultur – aus ihr entstanden und gleichzeitig mit einem globalen Diskurs vernetzt. Dass all das damals bei uns noch nicht wahrgenommen wurde, ist vielleicht ein besonders ironischer Glücksfall. Togawas Bücher wirken heute so unverbraucht und frisch, dass sie tatsächlich noch zu entdecken sind.