Erstaunlicherweise findet sich in Keatings Lebenslauf nirgendwo ein Hinweis auf einen längeren Aufenthalt am indischen Tatort: ein anderer Fall Karl May, der den Wilden Westen nie gesehen hatte, als er seine Winnetou-Old-Shatterhand-Geschichten schrieb? Keating war Rundfunktechniker gewesen und hatte dann auf Journalismus umgesattelt, 1960 gab er seine Stellung bei der Times auf und lebt seither als freier Schriftsteller, ein Jahr vorher war Keatings erster Kriminalroman erschienen.
Die Geburt des Ganesh Ghote als literarische Figur fällt in die Mitte der Sechzigerjahre; in dem Roman The Perfect Murder (1964) löst Ghote seinen ersten Fall. Da der Roman nie ins Deutsche übertragen wurde, machte der deutsche Leser die erste Bekanntschaft mit Ghote nicht auf indischem Boden, sondern – in Inspector Ghote Hunts the Peacock (1968) – auf der Landetreppe des Londoner Flughafens; Ghote vertritt seinen Chef bei einer internationalen Konferenz über Rauschgiftprobleme und macht zwar am Rednerpult keinen sehr überzeugenden Eindruck, liefert aber den Kollegen von Scotland Yard die entscheidenden Hinweise zu einem großen Schlag gegen die Rauschgiftszene, da er auf eigene Faust und nicht ganz legal Detektiv gespielt hat – nicht aus Besorgnis um die Londoner Jugend, sondern weil ihm eine entfernte Verwandte zusetzte, den Fall eines verschwundenen, und wie Ghote herausfindet, ermordeten jungen Mädchens aus der eigenen Familie zu klären.
Auch den nächsten Ghote-Roman Keatings, Inspector Ghote Plays a Joker (1969), bekommen die deutschsprachigen Leser nie zu Gesicht, erst seit Anfang der Siebzigerjahre und beginnend mit Inspector Ghote Breaks an Egg (1970) scheinen die Abenteuer des bescheidenen, fast schüchternen, aber höchst erfolgreichen CID-Inspektors den deutschen Leser ohne größere Verzögerung erreicht zu haben.
In Inspector Ghote Breaks an Egg erlaubt uns der Autor, bevor er den Inspektor in eine kleine Stadt auf dem Land schickt, einen kurzen Blick in sein Dienstzimmer, wo uns auf dem »von ihm selbst angeschafften Regal mit den Bambuskanten« und den vom Vorbesitzer stammenden Beschriftungen vor allem eines auffällt: »der auf dem Ehrenplatz auf dem obersten Bord stehenden Wälzer Criminal Investigation von Hans Gross, stockfleckig, aber meisterhaft«. Das Buch spielt gewiss eine große Rolle für den modus operandi des Detektivs Ghote. Aber dass er nun alle Fälle nach Schema und den Vorschriften des österreichischen Kriminalisten löste, ist ein böses Gerücht, vor dem wir Ghote in Schutz nehmen sollten. Was ihn zu einem guten Detektiv macht, ist zwar nicht die geniale Fähigkeit zum Kombinieren, aber ein gesunder Menschenverstand, verbunden mit Unvoreingenommenheit, Zähigkeit und Zivilcourage; letztere vor allem – Ghote braucht sie in praktisch allen seinen Fällen.
Denn eines ist grundsätzlich anders in diesen indischen Kriminalfällen des Engländers Keating: Während der Detektiv üblicherweise eine Macht ist, die man fürchtet oder die man doch zumindest respektiert, ist der Inspektor aus Bombay jemand, den man herumschubst und einzuschüchtern sucht: ein Kleiner, der die Gültigkeit des Gesetzes gegenüber solchen behauptet, die in der sozialen Skala durchweg weit über ihm stehen.
In praktisch allen seinen Fällen bewegt sich Ghote in Kreisen, in denen er sich unwohl fühlt. Häufig erreicht ihn ein politischer Auftrag. Vor seinen Vorgesetzten hegt er gebührenden Respekt. Seine eigene Person und deren Qualitäten schätzt er nicht sehr hoch ein. Aber alles das hindert ihn nicht daran, unbeirrt seinen Weg zu gehen und Gerechtigkeit herzustellen, so gut es geht – und dass es ziemlich gut geht, verdankt Ghote zuweilen auch einem freundlichen Geschick, das die Umständlichkeit und Ungeschicklichkeiten, die er sich leistet, zum Guten umbiegt, und nicht zuletzt auch seiner Menschenfreundlichkeit, die ihm zurückgezahlt wird von vielen einfachen Menschen mit Informationen, die ihn der Lösung seiner Fälle näher bringen.
Es sind nicht immer grandiose Fälle, mit denen Ghote sich abzugeben hat; nicht immer erhält Ghote wenigstens interne Anerkennung. Einmal, in Bats Fly Up for Inspector Ghote (1974) ist Ghote fast so weit, dass er freiwillig aus dem Dienst ausscheidet. Zunächst erhält er dickes Lob von einem Ganoven: »Ghote, das ist der, der das Beweismaterial nie manipuliert.« Doch im Verlauf des Falles fällt Ghote immer wieder böse auf die Nase. Das ist allerdings kein Wunder, da der Bösewicht im Polizeiapparat selbst sitzt und Ghote ausgerechnet zu einer speziellen Antikorruptionseinheit versetzt wurde, um den Burschen zu schnappen. Und Ghote, der sich nie durch übertriebenes Selbstbewusstsein ausgezeichnet hat und in seiner neuen Umgebung eine Menge Feindseligkeit gegen den Aufsteiger und Außenseiter fühlt, als den er sich selbst auch empfindet, muss durch einen langen dunklen Tunnel, ehe er am Ende das nur mündlich vorgebrachte Entlassungsgesuch zurückzieht.
Im Allgemeinen erfährt der Leser auch nicht allzu viel über Ghotes Privatleben; wie viele andere literarische Detektive definiert er sich allein durch seine Fragen, Handlungen, Kombinationen. Was weiß man sonst über Ghote? In The Murder of the Maharajah (1980) liefert sein Autor einige wenige Informationen über seine Herkunft nach. Der Roman spielt ausnahmsweise nicht in der Gegenwart, sondern in der kolonialen Vergangenheit Indiens, exakter: im April 1930. Ein indischer Fürst wird auf raffinierte Weise ermordet, und Inspektor Ghote kommt natürlich nicht vor; es gibt ihn noch gar nicht. Aber es gibt seinen Vater, einen sympathischen Dorfschulmeister, der dem Detektiv dieses Buches, dem Engländer Howard, mit Informationen und Ratschlägen zur Hand geht. Und ganz am Ende dieses Buches hören wir Mr Ghote senior sagen: »Wenn mir jemals zu meinen vier Töchtern noch ein Sohn geschenkt werden sollte, dann darf ich Ihnen Folgendes versichern: Dieser Knabe soll, wenn es das Schicksal erlaubt, Polizeibeamter werden.«
Das war, wie gesagt, anno 1930, und wenn der Knabe in einem der nächsten Jahre geboren ist, müsste er um das Jahr 1980 im besten Detektivalter gewesen sein: irgendwo in seinen Vierzigern. Kein Grund also, ihn aufzugeben oder in Pension zu schicken.