»Die Purpursegel warfen mit der Unschuld einer Tatsache sämtliche Gesetze des Seins und des gesunden Menschenverstandes über den Haufen.« So sahen in Kaperna jene das Erscheinen von Greys »Secret«, die Longren und Assol von Anfang an ausgrenzten, weil diese sich nicht in die Normen ihrer provinziellen Selbstgefälligkeit fügten. Damit gewinnt Grins facettenreiche Romantik, die den Lieder- und Legendensammler Egl das Spielzeugschiff aus Longrens Künstlerwerkstatt wie mit Zauberhand in eine Welt der Fantasie versetzen lässt, bereits in seinem ersten großen Werk (1923) soziale, gesellschaftliche Dimension. Und während es einem Märchen gleicht, dass für Assol dieser Traum in Erfüllung geht, verwirklicht er sich dank auch Greys Anders-Sein ganz irdisch als eines der »so genannten Wunder«, die wir »mit eigenen Händen vollbringen müssen«.
In Grins späteren Romanen treten an die Stelle eines »Spitzengewebes von Geheimnissen in Gestalt des Alltäglichen« dramatischere Konflikte, weitet sich der Handlungsrahmen, stoßen die Figuren sogar mit Machtorganen zusammen, vertieft und differenziert sich die der Handlung innewohnende philosophische Wirklichkeitssicht. Bereits in der »Glitzernden Welt« (1924) muss Drud, der »nach anderen Gesetzen lebt«, seine Schöpfertum symbolisierende Fähigkeit, ohne Apparat, allein kraft seines Willens zu fliegen, mit dem Leben bezahlen, nachdem er sich Runas Weltherrschaftsplänen verweigert und ihr die schlichte, liebesfähige Tawi Tum vorgezogen hat: Zu unerträglich ist für das Spießerpublikum, ja für den Staat, dass er »das statische, ein für allemal als klares Bild gegebene Leben in Wallung bringt, es verändert und in eine leuchtende Ferne treibt«.
Natürlich kann man das alles als reine Phantastik lesen, genauso wie Grins Roman von der »Goldenen Kette«, die – Symbol für die Zerstörung eines Traums – gleichsam in »einer zweiten Welt jenseits des Sichtbaren« verborgen ist (1925), oder den vom »Wogengleiter« und der legendären Fresi Grant, die – selbst ein Traumsymbol – über die Wogen schreitet, »weil auch sie das sieht, was andere nicht sehen« (1928). Doch für den aufgeschlossenen Leser werden die rätselhaften Vorgänge in Grins Werken zu Parabeln von den im Menschen angelegten unerschöpflichen Möglichkeiten.
Zwar siedelt Grin seine Geschichten stets an Orten an, die sich wie Liss auf keiner Landkarte finden, gibt er seinen Figuren ungewöhnliche Namen. »Was hätte ich gemacht«, sagt Egl zu Assol, »wenn du mir irgendeinen unerträglich gewöhnlichen, im Lichte des ›Wunderbar Unbekannten‹ fremden Namen genannt hättest?« Aber der romantische Zauber von Grins Gestaltungsweise führt nicht von der Wirklichkeit weg, sondern gründet sich auf bewundernswerte Detailtreue, die seine Fähigkeit einschließt, zum Beispiel den von Longren an Nordwindtagen beobachteten Ansturm des Meeres sichtbar, hörbar, atmosphärisch miterlebbar zu machen oder den Leser erstaunt verfolgen zu lassen, aus wie viel ungekannten, dabei greifbaren Farbnuancen Grey den richtigen purpurnen Segelstoff auswählt.
Ungeachtet mitunter sogar tödlicher Kollisionen seiner Gestalten mit – dank Geld oder Amt – Mächtigen, ungeachtet sozialkritischer Wirklichkeitsbilder entwickelt sich in den genannten Werken Grins die jeweilige Handlung aus charakterlichen, moralisch-ethischen Beweggründen seiner lauteren, gutherzigen, kreativen, ehrbewussten, unerschrockenen Protagonisten. Doch Assols Traum von dem Schiff mit Purpursegeln beinhaltet »den Sinn einer anderen Ordnung«. Greys Bekenntnis, für Menschen, deren »Seele das Samenkorn eines flammend roten Gewächses, eines Wunders, in sich birgt«, müsse man eben dieses Wunder vollbringen, zeitigt sogar unmittelbare, obzwar etwas verwunderliche Wirkung.
Umgekehrt birgt schon das Charakterbild von Greys hochmütig-seelenloser Mutter, deren »zarte Schönheit eher abstieß als anzog«, Ansätze, die sich im Roman »Jessy und Morgiana« (1929) psychologisch vertieft zu einer von mörderischem Hass angetriebenen Intrige der hässlichen Morgiana gegen ihre schöne Schwester entfalten. Charakteristisch für Grin ist der Lösungsentwurf, mag er vergeblich bleiben: »Versuch doch, gut zu sein, Mori«, rät Jessy. »Dann wird auch dein Gesicht sich ändern … Mag es nicht schön sein, so wird es doch ein liebes Gesicht werden.«
Bis in Grins letzten abgeschlossenen Roman »Der silberne Talisman« (1930) – obwohl hier laut buchstäblicher Übersetzung des Originaltitels alle Wege »nirgendwohin« führen – geraten seine Figuren in Konflikte, weil sie sich so verhalten, als lebten sie »in einem Land und unter Menschen, wie es sie vielleicht nicht gibt«. Und wie in allen Titeln davor begegnet dem Leser hier – wo dem unerschrockenen Davenant sein Eintreten für die Frauenehre gegenüber einem einflussreichen Lumpen zwar Gefängnis und Tod, aber auch viele Freunde und schließlich den moralischen Sieg einbringt – in Gestalt der hochherzigen Consuela eine »Fee«.
Die ungewöhnliche Genrebezeichnung »Feerie« hat der Autor dennoch nur für die »Purpursegel« benutzt – ein Werk, das seine Leser gerade in seiner romantischen »Jungfräulichkeit« schon seit Generationen wie kein zweites von ihm bezaubert.
Grins unbeschwert wirkende Phantasie gründete sich auf die Erfahrungen eines schweren und entbehrungsreichen Lebens, war vielleicht selbst Ausdruck unentwegten Aufbegehrens. Da mag seine Herkunft bedeutungsvoll sein – dass er 1880 im russischen Provinznest Wjatka geboren wurde: Sein Vater, ein von Gutsbesitzern im Wilnaer Gouvernement abstammender Pole, war wegen seiner Teilnahme am polnischen Aufstand 1863 dahin verbannt worden.
Suchte Sascha Grinewski – so lautete sein richtiger Name – aus der geistigen Enge, gegen die er schon an der Schule rebellierte, erst in die Bücherwelt und dann in die »große Welt« auszubrechen? Mit fünfzehn reiste er nach Odessa, um Seemann zu werden. Von drei Fahrten abgesehen, misslang der Plan – ihm fehlte Geld für die Ausbildung, und sein schmächtiger Körperbau brachte ihm sogar Spott ein; aber das Meer blieb sein Traum, und seine Brust zierte seither ein tätowiertes Segelschiff. Gegen Obdachlosigkeit, Hunger, Bettlerdasein sich auflehnend, suchte er sein Glück als Stückeabschreiber und gelegentlicher Statist, als Fischereiarbeiter, Badegehilfe, Eisenbahn-Tischler, Wolga-Matrose, Goldwäscher, Torfstecher, Holzflößer. »Meist war ich Maxim Gorki«, kommentierte er diese »Universitäten«, die ihn kreuz und quer durch Russland führten – nach Baku, in den Ural, später auch nach Simbirsk, Saratow, Kiew –, 1913 in einer Autobiografie.
1901 freiwillig Soldat geworden – »da werde ich satt und bekleidet sein« –, empörte er sich gegen den militärischen Drill, desertierte, kam ins Gefängnis, desertierte wieder, jetzt mit Hilfe von Sozialrevolutionären, und wurde unter wechselnden Decknamen deren Agitator. Wegen revolutionärer Propaganda unter Marinesoldaten verhaftet, wurde er nach zwei Jahren Gefängnis zu unbefristeter Verbannung verurteilt. Von den Sozialrevolutionären trennte er sich, da er ihre terroristische Tätigkeit missbilligte – mit einem Schuss aus einem Damenrevolver auf seine revolutionäre Geliebte Katja Bibergal setzte er auch noch einen melodramatischen Schlusspunkt. Aber »Verschlossen, gereizt, zu allem fähig, sogar unter Einsatz des Lebens«, wie es in einer Beurteilung hieß, wurde er trotz Amnestie erneut verhaftet, floh, wurde wieder verbannt, observiert. 1910 begleitete ihn in die Verbannung nach Archangelsk, dann Pinega als Ehefrau seine »Gefängnisbraut« Vera Grinewskaja (Kalizkaja) – sie hatte ihn als Betreuerin vom »Roten Kreuz« besucht.
Indessen war bereits 1906 Grins erste Erzählung erschienen, so wie weitere frühe Arbeiten noch »unromantisch« eigenen sozialen Erfahrungen gewidmet; aber erst ab 1907 unterschrieb er – mit falschem Pass lebend und zu Pseudonymen gezwungen – mit Alexander Grin. Auch wenn er relativ schnell zu seinem unverwechselbaren Stil fand – schon früh mit Autoren wie Brjussow, Andrejew kommunizierend –, war die irrig englische Lesart seines Namens noch das wenigste, wogegen er sich durchsetzen musste. Seine an Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson geschulte dynamische, prägnante Schreibweise nährte den Vorwurf des West-Epigonentums.
Nach Beginn des Weltkrieges wieder observiert, begrüßte Grin den Sturz des Zarismus. Sein Verhältnis zur Sowjetmacht wurde jedoch von seiner Verurteilung der Gewalt geprägt, was nicht ausschloss, dass er in seinem nachrevolutionären Werk die historischen Erfahrungen der sozialen Umwälzungen sehr indirekt reflektierte. 1919 zur Teilnahme am Bürgerkrieg mobilisiert, kam er aber zunächst tuberkulosekrank nach Petrograd zurück, überstand dort auch noch den Flecktyphus. Zu überleben, ein Dach über dem Kopf zu finden, half ihm mehrfach Maxim Gorki – er vermittelte ihm auch einen Auftrag zu einem Jugendroman. In seinem Rotarmistengepäck aber hatte Grin bereits sein Arbeitsmanuskript der »Purpursegel« mitgeführt – da hieß das Werk noch »Rote Segel«; purpurn wurden die Segel dank einer romantischen Liebe Grins zu Maria Alonkina, der siebzehnjährigen Sekretärin des »Hauses der Künste«, in dem er zeitweilig wohnte. Doch die fertige »Feerie« widmete der Autor schon seiner zweiten Ehefrau Nina Grin (Mironowa), mit der er bis zu seinem Tod zusammenlebte.
Im Rückblick ist schwer nachzuvollziehen, dass Grin, dessen umfangreiches Werk dem Leser einen ganzen, später »Grin-Land« genannten Kontinent erschlossen hat, auch unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in ständiger Not war, oftmals Publikationsschwierigkeiten hatte. Dass seine Romane, seine Erzählungen die Vorstellungswelt des Lesers bereichern, ihn in rätselhaften und fantastischen Vorgängen für die Suche nach seelischer Schönheit, nach sozialer Gerechtigkeit gewinnen, war vom Gesichtspunkt vulgärer Soziologie zu wenig: »Sie verweigern sich der Epoche, und durch uns rächt sich die Epoche an Ihnen«, bekam er Ende der zwanziger Jahre bei der Ablehnung von Manuskripten zu hören.
Von einer auf fünfzehn Bände angelegten Werkausgabe Grins erschienen 1927 bis 1929 ganze acht. Einsam und krank, in tiefster Not, starb er 1932 in Stary Krim.
Eine Grin-Renaissance begann in der Sowjetunion 1956; aber auch vorher, als seine Bücher nur vereinzelt erschienen, verstummten seine Freunde nicht. So veröffentlichte Slonimski 1939 seinen Aufsatz »Alexander Grin – der reale und der fantastische«, worin es unter anderem heißt, Grin habe sein Schaffen der leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem von Güte bestimmten Leben und gutherzigen Menschen gewidmet; in diesem Sinn seien die »Purpursegel« »ein Märchen von einem dank menschlichem Willen Wirklichkeit gewordenen Traum«. Zu einer Leningrader Ausgabe der »Purpursegel« 1944 – also noch im Krieg – schrieb Paustowski ein Vorwort, mit dem nur zwei Jahre später, 1946, im Berliner Verlag der sowjetischen Militäradministration (SWA-Verlag) die erste deutsche Übersetzung des Werkes erscheinen sollte – seither unzählige Male nachgedruckt; nur der auf die Kriegszerstörung an »Grins Häuschen« bezogene Satz Paustowskis entfiel in den folgenden deutschen Ausgaben. Grin war »ein Schriftsteller mit machtvoller Phantasie«, schrieb Paustowski. »In seinen Büchern schuf er seine Welt, aber in einer Weise, die dem, was bisher russische Schriftsteller niedergeschrieben hatten, ganz unähnlich war.« Doch Grins »Glaube an den Menschen, an die Kraft seiner Gefühle, an seinen Verstand« stelle ihn in die großen Traditionen der russischen Literatur.
Viele Bücher Grins sind seither in deutschen Übersetzungen erschienen – nicht nur die genannten Romane und Novellen, sondern auch fünf Erzählungsbände, die Arbeiten aus den Jahren 1909 bis 1928 enthalten. Kompositorisch konzentriert, veranlassten die Erzählungen die Herausgeberin des 1989 erschienenen Bandes, Lola Debüser, zur Verallgemeinerung, Grin enträtsele »stets Zusammenhänge, die durch äußere, sichtbare Faktoren nicht fassbar sind. Ihn beschäftigte die Rolle des Unterbewussten. Er war überzeugt von der Unendlichkeit der schöpferischen Potenzen des Menschen, von seinen verborgenen übernatürlichen Möglichkeiten, von der formenden Kraft des Geistigen und Psychischen für das Materielle und Physische … Die psychologischen Experimente und abenteuerlichen Sujets Grins entfalten sich in einer romantischen verfremdeten Welt zu sittlich-philosophischen Gleichnissen. Und stets geht es Grin um die Erforschung des geheimen Wesens der menschlichen Persönlichkeit.«
Die »Purpursegel« erscheinen deutsch in der schon fünften Übersetzung, die vorletzte als Nacherzählung mit einbezogen. Warum die erste – von Klementinowskaja – ausgerechnet Greys Monolog über Wunder um Wesentliches gekürzt hat, lässt sich heute nur noch hypothetisch erklären. Lag es an einer schon gekürzten Originalvorlage? Bei Grin heißt es ja, eine neue Seele könne auch ein Gefängnisdirektor erhalten, wenn er »von selbst einen Häftling entlässt«, ebenso ist von einem Milliardär die Rede; und mit genau dieser Passage belegte noch eine 1967 unter Regie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebene Geschichte der Sowjetliteratur Grins einseitig moralisch orientierte Illusionen.
Wie sehr die Interpretationskunst jedes Übersetzers gefragt ist, demonstrieren schon die fünf Titel: »Das Purpursegel« – »Rote Segel« – »Die purpurroten Segel« – »Das feuerrote Segel« – »Purpursegel«. Ob wohl die Segel-Einzahl dem Traumschiff der Feerie gerecht wird und der Verzicht aufs Purpur, das Grin mit Bedacht an die Stelle des Rot gesetzt hat, nicht sogar inhaltlich, atmosphärisch einen Verlust bedeutet? Grins Gestaltungskunst, die Plastizität, Prägnanz, Emotionalität, dabei aber auch Natürlichkeit seiner Sprache, die dem Alltäglichen Glanz und dem Unvorstellbarsten Glaubhaftigkeit verleiht, wecken darüber hinaus Neugier für die Unterschiedlichkeit der Übersetzungen.