Ich bin eine chaotische Leserin: Meistens lese ich drei oder vier Bücher gleichzeitig - ohne bestimmte Reihenfolge und ohne einem den Vorzug zu geben. Ich lese ganz einfach deshalb, weil ich es nicht lassen kann. Manchmal nehme ich mehrere Bücher mit ins Bett und erst im letzten Moment entscheide ich, welches ich jetzt lese und welche ich für den nächsten Tag aufhebe. Denn es gibt Nächte, in denen man nur eine Liebesgeschichte lesen kann und Nächte, in denen man eindeutig einen schwarzen Kriminalroman braucht. Neben meinem Bett, auf der Spiegelkommode, auf meinem Nachttisch, manchmal sogar auf dem Laken zwischen meinem Mann und mir, überall liegen Bücher. Essays, Erzählungen, Theaterstücke, Märchen, Kinderbücher. Das ausgesuchte Chaos hat eine Ordnung, die keiner außer mir begreift. Ich lese mich durch das Kapitel eines Buches und wenn ich merke, dass mich der Schlaf übermannt, lege ich das Buch weg und nehme ein anderes, darauf hoffend, dass mich der Wechsel noch einige Minuten länger wach halten wird.
Wenn ich aber in einer solchen Nacht fühle, dass mich ein Buch loslässt, dass das Band, das mich mit ihm verbunden hat, erschlafft oder sich auflöst, habe ich überhaupt keine Bedenken, es zuzuklappen und nie wieder zu öffnen. Ich unterschreibe bedingungslos die vom französischen Autor Daniel Pennac proklamierten »unantastbaren Rechte des Lesers«, das dritte ist das Recht, ein Buch nicht zu Ende lesen zu müssen. Selbstredend öffne ich sogleich das nächste Buch, in der Hoffnung, dass dieses mich bis zum Schluss fesselt. Der Belgrader Autor Milorad Pavic beschreibt die Beziehung zwischen dem Leser und dem Schriftsteller mit einem Bild, mit dem ich mich - sowohl beim Lesen wie auch beim Schreiben - gut identifizieren kann: Zwischen dem Autor und dem Leser sind zwei Seile gespannt, die in der Mitte von einem Tiger festgehalten werden. Weder der Leser noch der Autor kann die Spannung lockern oder seine Position aufgeben, andernfalls frisst der Tiger ihn auf. Den einen oder den anderen.
Ich habe nicht immer so viel gelesen. Die Verzweiflung darüber, meiner Familie Zeit zu stehlen, nur um Seite für Seite in einem Buch weiterzublättern; oder die Neugier, was in der Bar jemand am Nebentisch liest; die Angewohnheit, meine Freunde über ihre letzte Lektüre auszufragen: Der Beweggrund dazu ist nicht, dass mir allenfalls ein wunderbares Buch entgehen könnte, oder der Drang, alle rund um mich mit meiner Leidenschaft anzustecken. Es ist etwas anderes, etwas, das nicht aus meiner Kindheit herrührt. An diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt, muss ich ein politisch unkorrektes Geständnis machen: Als Kind habe ich ziemlich wenig gelesen. Es stimmt, dass ich als Kind geschrieben habe, sogar viel geschrieben habe, aber das leidenschaftliche Lesen ist erst viel später in mein Leben getreten. Als ich akzeptierte, dass die Welt um mich herum nicht genügte, um mich glücklich zu machen, und ich realisierte, dass ich nicht mehr heimlich Tränen vergießen wollte, musste ich den Horizont meiner imaginären Welt erweitern. Ich war gezwungen zu lesen, um schreiben zu können. Und als ich die Freude am Lesen gefunden hatte, war ich plötzlich traurig, dass ich sie nicht schon früher entdeckt hatte, ich empfand Mitleid mit dem Kind, das ich gewesen war und das nun in diesen Texten Freunde gefunden hatte, und ich stürzte mich in die verrückte Karriere eines Lesers und versuchte, die verlorene Zeit aufzuholen.
Wieso hat mir niemand gesagt, dass diese Welt in Reichweite ist und ich sie nur noch nicht für mich entdeckt hatte? Oder hatte man es mir gesagt und ich habe nicht zugehört? Ich werde es wohl nie wissen. Was ich hingegen weiß, ist, dass ich meine Revanche erhalten habe. Deshalb schweige ich, wenn Leute sagen, dass das Lesen für all jene eine verlorene Sache ist, denen es nicht als Kind nähergebracht worden ist. Ich schweige aber nicht aus Zustimmung. Ich schweige, weil ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, unsere Kinder möglichst früh mit der Welt der Literatur vertraut zu machen. Doch selbst wenn ein Kind diesen Anstoß nicht in dem Moment erhält, in dem es ihn brauchen würde, bin ich dennoch überzeugt, dass noch nichts verloren ist. Vielleicht hat das Schicksal für dieses Kind eine Revanche vorgesehen - wie es das für mich getan hat.
Als ich nach der Schule eine Studienrichtung wählen musste, konnte ich mich nicht entscheiden und beschloss deshalb, einen psychologischen Test zu machen - Buenos Aires ist eine der Städte mit der höchsten Psychologendichte, und um ihnen und Freud Ehre zu erweisen, zieht man sie in allen möglichen Lebenslagen zurate. Aus welchem Grund auch immer, der auf Berufsberatung spezialisierte Psychologe riet mir, Wirtschaftsprüferin zu werden. Gehorsam und fleißig wie ich war, schrieb ich mich an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ein und absolvierte das Studium mit Auszeichnung. Während dieser fünf Jahre waren die ökonomischen Traktate von Adam Smith und Paul Samuelson meine der Literatur am nächsten kommende Lektüre.
Aber alles kommt, wie es kommen muss. Eines Tages, während eines Fluges von Buenos Aires nach São Paulo, wo ich die abschließende Rechnungsprüfung für meine Firma machen sollte, und wo mich die Revision der Inventur von Schrauben und Muttern erwartete, fühlte ich mich traurig und lustlos und hätte am liebsten grundlos angefangen zu weinen. Da stieß ich in einer Finanzzeitung auf die Ausschreibung eines Literaturwettbewerbes in Spanien. In diesem Moment hörte ich mich zu mir selbst sagen - es war wie eine Offenbarung -: »Ich bitte um Urlaub und mache das, wozu ich am meisten Lust habe: Schreiben.« Schreiben und Lesen. Nach meiner Rückkehr nahm ich tatsächlich Urlaub und schloss mich ein, um meinem Verlangen nachzugeben. Ich schrieb an einer Erzählung und las Baudelaire, um mich inspirieren zu lassen, und das Wörterbuch, um die Wörter zu finden, die mir fehlten. Von da an hatte der Weg keine Kreuzungen mehr, er führte mich fast immer geradeaus in eine Richtung: zur Literatur.
Der italienische Autor Ferdinando Camon wurde einmal gefragt, weshalb er schreibe. Seine Antwort war: »Ich schreibe aus Rache. Ich empfinde diese Rache immer noch als gerecht, heilig und ehrenhaft. Meine Mutter konnte nur ihren Namen schreiben. Mein Vater knapp etwas mehr. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, unterschrieben die Analphabeten mit einem Kreuz. Wenn sie ein Schreiben von der Gemeinde, dem Militär oder der Polizei erhielten (niemand sonst hat ihnen je geschrieben), erschraken sie und gingen zum Pfarrer, um es sich vorlesen zu lassen. Seitdem ist die Schrift für mich ein Machtinstrument. Ich habe immer davon geträumt, auf die andere Seite zu wechseln, die Schrift zu besitzen - jedoch, um sie zum Vorteil derer zu nutzen, die sie nicht kennen, und so ihre Rache für sie zu übernehmen.« Ein bisschen etwas von dem, was Camon sagt, trifft auch auf mich zu. Nur wäre vielleicht das Wort, das ich wählen würde, »Revanche« anstelle von »Rache«. Es beinhaltet das Gefühl, dass es immer eine Chance gibt, wenn man nur daran glaubt, dass es eine Chance gibt.
Aus: Nuevas Hojas de Lectura, Nr. 9, Bogotá, Kolumbien