Thomas Wörtche: Mr. Disher, als wir neulich zusammen kreuz und quer durch Österreich und Deutschland gefahren sind und ich ein bisschen den Reiseführer gegeben habe, da haben Sie mich gefragt, ob ich von Geschichte besessen sei. Wenn ich mir aber Ihre Bücher betrachte – Hinter den Inseln, The Stencil Man, The Sunken Road und so weiter –, die man alle auch als historische Romane bezeichnen könnte, dann muss ich Sie fragen: Sind Sie besessen von Geschichte?
Garry Disher: In gewisser Weise schon. An der Uni habe ich in Australischer Geschichte abgeschlossen, ich habe, wenn auch nur kurz, Geschichtsunterricht gegeben, ich habe ein paar Romane und Kinderbücher geschrieben, die in der jüngeren Vergangenheit spielen, und ich habe vier Geschichtsbücher für den Unterricht geschrieben. Eines davon, das das Alltagsleben in Australien während des Zweiten Weltkriegs behandelt, hat mir ein paar Ideen für Hinter den Inseln gegeben. Aber die meisten weißen Australier haben nur ein sehr begrenztes Sensorium für die Vergangenheit. Die europäische Besiedlung fand erst ab 1778 statt, obwohl ab dem 15. Jahrhundert immer wieder Chinesen und Portugiesen mit ihren Segelschiffen gelandet waren. Natürlich gibt es eine lange Geschichte der Aborigines, je nach Theorie seit vierzigtausend oder einhunderttausend Jahren, aber das ist keine schriftlich festgehaltene Geschichte. Die Landschaft gibt ein paar Rätsel auf – Felsmalereien, Abfallhaufen, steinerne Fischfallen an der Küste –, aber die Landschaft hat, wie es scheint, keine allzu lange menschliche Geschichte.
Hinter den Inseln ist der Roman über den Zusammenbruch eines großen Weltreichs und einer mittleren Kolonialmacht, des Empires und des niederländischen Kolonialreichs – wie kommt es, dass die australische Literatur zu diesem Thema sonst sehr spärlich ist?
Das Gefühl der Australier, eine Nation zu sein, entstand im frühen 20. Jahrhundert. Bis 1901 war Australien ein Verbund einzelner englischer Kolonien. Dann, im Ersten Weltkrieg, kämpften Australier an der Seite der Briten gegen die Türken und die Deutschen. Diese Zeit gilt gemeinhin als ausschlaggebend für die Entstehung des Nationalbewusstseins. Dass das rein im Interesse des Mutterlandes passierte, wird gerne übersehen. Nach diesem Verständnis ist der Zweite Weltkrieg nicht so entscheidend, obwohl ich immer den Eindruck hatte und habe, dass diese Zeit sehr wichtig war. Meine Eltern haben beide im Zweiten Weltkrieg gedient. Mein Vater hat in Borneo und Neuguinea gegen die Japaner gekämpft, meine Mutter war in einer Munitionsfabrik dienstverpflichtet.
Gibt es in Australien ein starkes Bedürfnis, sich die eigene Geschichte neu zu erfinden – so wie es in den USA mit dem Mythos des Wilden Westens geschah?
Klar, da gibt es eine Menge, Bücher und Filme. Die beliebtesten Perioden sind die Kolonialzeit im mittleren und späten 19. Jahrhundert mit den Bushrangern und der Erste Weltkrieg.
Hinter den Inseln passt nicht so recht in dieses Bild. Ihr Porträt der australischen Gesellschaft der Dreißiger- und Vierzigerjahre ist nicht gerade schmeichelhaft.
Ich glaube, um eine reife Nation zu sein, müssen wir die ganze Vergangenheit zur Kenntnis nehmen. Die Australier sind groß darin, sich als tolle Hechte darzustellen, und vergessen zugleich – oder wollen nichts davon wissen –, wie schlecht sie sich in der Vergangenheit oft verhalten haben, die Behandlung der Aborigines zum Beispiel, oder die Massendesertion während der Belagerung von Singapur durch die Japaner.
Hinter den Inseln ist meinem Eindruck nach auch ein Roman über die Modernisierung einer Gesellschaft – vom Pferderücken ins Flugzeug, sozusagen … Oder liege ich da falsch?
Mit ist eigentlich nie aufgefallen, dass der Roman auch von der Modernisierung via technischen Fortschritt handelt, aber es stimmt, das steckt drin, auch wenn ich das Thema Modernisierung nicht bewusst angeschlagen habe. Vielleicht romantisiert der Roman die Zeiten vor der ganz großen Veränderung. Flugzeuge und Fliegen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren kommt mir immer vor wie Abenteuer und Risiko.
Und Sie haben eine ganz persönliche Neigung zum Fliegen und zu Flugzeugen, das spürt man einfach … Sagen Sie nicht, Sie hätten alles aus Büchern.
Schon als Kind habe ich Flugzeugmodelle gebaut, und mein erster Flug war mit einem Sprühflugzeug, da war ich sieben Jahre alt. Mein Cousin ist Pilot beim Flying Doctor Service, und ganz in der Nähe meines Hauses liegt ein kleiner Flugplatz, wo alte Flugzeuge restauriert werden. Das Thema kommt ja auch in meinen Hal-Challis-Romanen Drachenmann und Kittyhawk Down vor. Also: Es interessiert mich sehr, aber für Hinter den Inseln musste ich doch noch eine Menge recherchieren.
Zurück zum Roman. Was bedeutete der Zusammenbruch der Kolonialmächte in Asien für Australien?
Ich glaube, dass die großen Kolonialmächte in der Region (die Niederlande in Indonesien, Großbritannien in Malaysia, damals Malaya, in Indien und Burma, heute Myanmar, die USA auf den Philippinen und Frankreich in Vietnam) zutiefst schockiert waren, dass die Japaner in ein paar Wochen ihre jahrhundertealte Kolonialherrschaft einfach hinweggefegt haben. Ein paar der enteigneten Kolonialisten ließen sich dann in Australien nieder und hingen den alten Zeiten nach. Die Holländer versuchten nach dem Krieg, Indonesien wieder zurückzugewinnen, aber es war zu spät, die Japaner hatten bereits lokale Unabhängigkeitsbewegungen ermutigt. Ich glaube, dass viele Australier wegen der unabhängigen asiatischen Staaten um uns herum sehr nervös wurden und eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen begrüßt hätten. Ich nicht.
Sie erwähnen im Roman eine pro-faschistische Bewegung in Australien. War die ernst zu nehmen oder nur Hysterie seitens der Behörden? Und gab es ernst zu nehmende Sympathien der Aborigines für die Japaner?
Ja, es gab eine sehr kleine faschistische Bewegung unter ein paar Deutschen und Italienern, die in Australien lebten, auch eine Handvoll britischstämmiger Australier war dabei. Viele von ihnen wurden interniert, einige später wieder freigelassen. Auch alle Japaner wurden interniert. Dass die Aborigines die Japaner willkommen heißen würden, dafür gab es nie irgendein Anzeichen. Tatsächlich war es so, dass zum Beispiel Matrosen der japanischen Perlentaucherflotte regelmäßig Aboriginefrauen vergewaltigten. Aber den Behörden kam es natürlich gelegen, den Aborigines pro-japanische Sympathien zu unterstellen, damit sie mit harter Hand regieren konnten.
Waren Sie je versucht, dem Spionagethema mehr Raum zu geben? Oder ist der Roman nicht sowieso auch ein Spionageroman? Jeder belauert jeden …
Klar, man kann mit einigem Recht sagen, dass alle Fiction, weil sie grundsätzlich mit Verrat, verdeckten Handlungen und Illusionen zu tun hat, immer auch Kriminal- oder Spionageliteratur ist. In diesen Roman habe ich echte Spionage ganz bewusst als Nebenhandlung eingebaut, weil ich bei der Recherche auf sehr viele Hinweise gestoßen bin. Die Figur Janeway gründet auf einem britischen Offizier, der für die Japaner spioniert hat. Aber im Kern handelt der Roman von der Suche nach einer wirklichen Heimat – sei es als Ort, als Person oder als ein System von Gewissheiten. Die Figur Quiller verdeutlicht das auf verschiedene Arten, einschließlich der romantischen Stränge des Romans. Quiller fühlt sich weder ganz als Brite noch als Australier. Sein Weggehen nach Malaya, Singapur und Sumatra ist ein weiterer Verlust von Heimat, genauso wie seine Fliegerei. Diese ist das extremste Sich-Entfernen vom Land, das für ihn in Gestalt seiner Karten, Listen und Logbücher eine große Bedeutung hat.
Historische Romane wirken manchmal wie Zeitmaschinen. Haben Sie je Lust verspürt, zum Beispiel in Malaya, im Dezember 1941 gelebt zu haben?
Aus reiner Neugier würde ich gerne schnell mal eine Zeitreise zurück machen. Aber ich glaube nicht, dass die Vergangenheit besser oder schlechter oder auch nur interessanter ist als die Gegenwart. Nur aus dem Rückblick ein bisschen »einfacher« einzuschätzen. Die Vergangenheit, so könnte man vielleicht sagen, sind wir mit anderen Kleidern. Und ich habe immer das ganz starke Gefühl, über die Gegenwart zu schreiben, wenn ich über die Vergangenheit schreibe. Wie sagt doch William Faulkner: Die Vergangenheit ist jetzt noch nicht vergangen.