Der australische Schriftsteller Garry Disher hat in fast allen Bereichen der Literatur gewirkt, hat Sachbücher, Kinderbücher und Romane geschrieben. Zu schriftstellerischem Ruhm und zu internationalem Renommee eines writers’ writer allerdings hat er es mit einem Subgenre gebracht, das zwar immer zur populären Kultur gehörte, aber nie wirklich populär war: dem Gangsterroman.
In den Büchern um den Profi-Gangster Wyatt entwickelte Disher seine klare, kühle und präzise Prosa, dem Erzählstoff perfekt angepasst. Wyatts ausgetüftelte Coups funktionieren, weil sie Garry Disher literarisch genauso sorgfältig geplant und kalkuliert hat. Es stimmt alles – das Timing, das Vorgehen, die technischen Details, die Schauplätze, die psychologische Einschätzung der Menschen, die Dosierung von Gewalt als Mittel zum Zweck. Es stimmt allerdings auch der human factor, an dem die meisten Unternehmungen von Wyatt scheitern. Es sind meistens seine Kumpane, die die Nerven verlieren und ihn hintergehen möchten. Oder andere Menschen, denen Wyatt notgedrungen vertrauen muss, wenden sich gegen ihn. Am Ende hat er zwar obsiegt, ist aber auf der Flucht und hat meistens gerade mal die nackte Haut gerettet. Das ehrt ihn zwar, macht ihn aber nicht unbedingt zu einer Figur, mit der sich Leser leicht und freudig identifizieren können.
Insofern ist der Sprung vom Gangster- zum Polizeiroman nur auf den ersten Blick verblüffend und hat bei genauerem Hinsehen sogar eine doppelte Logik. Romane mit Polizisten (und mögen sie noch so gebrochene und vielschichtige Figuren sein) haben immerhin noch den leisen Anschein, dass jemand etwas unternimmt gegen das Elend der Welt – während Gangsterromane diesen Zustand auch noch zu feiern scheinen –, sie haben aber auch, ästhetisch gesehen, die breiteren Möglichkeiten. Ähnlich wie Privatdetektivromane haben Gangsterromane die Tendenz zur Zentralperspektive, zum autoritären Blick auf das Erzählte. Polizeiromane fächern Perspektiven eher auf. Ein kalkulierender Schriftsteller wie Garry Disher kann also seine Fähigkeit, sorgfältig gedrechselte Abläufe und Verfahren zu schreiben, sozusagen eine Ebene höher ins Spiel bringen. Die Sorgfalt und Meisterschaft des Plottings bezieht sich jetzt auf ganze Erzählstränge, die Disher miteinander verwebt.
Gleich sein erster Polizeiroman, Drachenmann, faltet diesen Konstruktionsplan sehr schön aus. Die Fälle, die Detective Inspector Hal Challis und seine Leute zu bearbeiten haben, passieren alle gleichzeitig – eine Serie von Morden, eine Serie von gewaltsamen Einbrüchen, eine Serie von Brandstiftungen. Während der Aufklärung dieser Verbrechen ereignen sich neue, die nur sehr mittelbar miteinander zu tun haben. Am Ende hat alles mit allem zu tun, aber dennoch gibt es keinen Superschurken, keinen Masterplan, sondern nur einen kleinen Designer-Rucksack aus Leder, der als klassisches Leitmotiv durch den Roman wandert. Die literarische Textur ist so dicht gewebt, dass sie einerseits realistisch wirkt, andererseits und gleichzeitig auf ihre Literarizität hinweist. Das ist dann eben kein naiver Realismus mehr, sondern Kunst.
Aber Drachenmann ist beileibe kein Meta-Thriller, sondern folgt den Genrekonventionen sogar da, wo man es nicht erwarten würde. Es ist für einen Serienmörderroman inzwischen absolut ungewöhnlich, dass der Killer nicht nach langer Jagd sozusagen als diabolus ex machina aus dem Hut gezogen wird, sondern schon immer und lange unbemerkt an den Rändern der Handlung und manchmal auch mittendrin teilnimmt. So entsteht ein Whodunit in einem Romantyp, der eigentlich gegen den klassischen Whodunit konzipiert war. Allein schon das zu beobachten ist hoch spannend – so spannend wie die Frage nach dem Täter.
Noch schöner: Der ausgeprägte Detailrealismus, der uns den südaustralischen Hochsommer mit seiner Hitze und Wasserknappheit fühlbar werden lässt, die anti-folkloristische Schilderung der Gesellschaft und die vielen knapp, aber plausibel gezeichneten Figuren, lassen das Stahlskelett der Konstruktion beim Lesen vergessen. Der human factor, der in den Wyatt-Romanen noch für Katastrophen und Debakel stand, wird hier ebenso breit aufgefächert wie Perspektiven und Handlungen. Die frustrierte Jungpolizistin verwandelt ihre Enttäuschung in gute Arbeit, und die erfahrene, integre Polizistin klaut aus reichlich egoistischen Motiven Geld von einem Tatort. Hal Challis schließlich, die Hauptfigur mit der problematischen Vorgeschichte und dem Wunsch, nur noch sein altes Flugzeug restaurieren zu dürfen, ist vom human factor zum optimistischen Melancholiker (oder zum melancholischen Optimisten) geläutert.
Und somit haben wir mit Drachenmann einen relativ seltenen Glücksfall – einen realistischen Roman, der seine überzeugende Realitätstüchtigkeit und seine Spannung nicht über Kolportage-Elemente bezieht, sondern über seine künstlerische Machart.