Thomas Wörtche: Herr Oker, Sie haben den zeitgenössischen türkischen Privatdetektivroman sozusagen erfunden. Das ist gerade mal sechs Jahre her. Inzwischen kommen eine Menge Kriminalromane aus der Türkei. Sind Sie stolz, diese Welle ausgelöst zu haben?
Celil Oker: Mir ist bewusst, dass ich das Kind einer starken kriminalliterarischen Tradition in der Türkei bin. Dabei handelt es sich natürlich hauptsächlich um Übersetzungen, aber seit rund hundert Jahren verfolgen die türkischen Leser das Genre anhand französischer, englischer und amerikanischer Autoren, und ein paar unserer türkischen Schriftsteller haben sich auch daran versucht. Wir haben sogar das Copyright von Mr. Spillane schwerstens verletzt und ungefähr dreihundert Mike-Hammer-Romane aus einheimischer Produktion auf den Markt gebracht. Ja, dreihundert. In den Fünfzigerjahren gab es einige Verlage, die ausschließlich Krimis gemacht haben. Und der Schriftsteller Ümit Deniz erfand in den Sechzigerjahren einen Journalisten als Ermittler und schrieb eine ganze Serie, die perfekt in dieses Format passte. Inzwischen benutzen auch einige moderne Schriftsteller eine gewisse kriminalliterarische Anmutung in ihren Büchern. Aber ein Privatdetektiv war nicht darunter, was natürlich verständlich ist. In gewisser Hinsicht habe ich tatsächlich der Kriminalliteratur in meinem Land einen neuen Schub gegeben. Stolz darauf? Ja, sehr sogar. So stolz wie ein Torhüter, der in der letzten Minute einen Unhaltbaren gehalten hat.
Warum aber kam die türkische Kriminalliteratur erst so spät zur Blüte? Istanbul ist ja seit Jahrzehnten und Jahrhunderten eine Metropole, nicht erst seit gestern …
Die türkische Gesellschaft, die Wirtschaft, der Alltag, die populäre Kultur und die zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich seit Beginn der Regierung Özal drastisch verändert. Vielleicht haben wir endlich den Traum unserer rechten Politiker aus den Fünfzigern realisiert: ein kleines Amerika zu sein. Das hat natürlich auch das Verbrechen entscheidend verändert. Jahrzehntelang hatten wir den Typus Mörder, der öffentlich zu seiner Tat gestanden hat, die er aus diesen oder jenen Gründen begangen hat. Bekennende Mörderin oder bekennender Mörder war man hauptsächlich aus zwei Gründen: um soziale Akzeptanz zu bekommen, weil man aus Gründen der Ehre getötet hat, und um von erheblichen Strafminderungen dafür zu profitieren. In den letzten Strafrechtsreformen fallen diese Strafminderungsgründe weg. Also ist es heutzutage nur logisch, das zu verbergen, was man getan hat. Dazu kommt, dass die Akkumulation von Reichtum in gewissen Händen zu mancherlei legaler und illegaler Art der Umverteilung führt; so kam das sogenannte Mafia-Phänomen in unseren Alltag, besonders in den großen Städten. Das hört sich für das Land natürlich furchtbar an, ist aber ein Paradies für einen Kriminalschriftsteller. Was immer man sich ausdenkt, den Lesern kommt es plausibel vor.
Die Figur des Privatdetektivs funktioniert aber schon sehr gut in Istanbul, obwohl sie keine echte Tradition hat.
Ohne lebensweltliche Tradition und vor allem ohne rechtliche Grundlage. Aber das Detail aus den Remzi-Ünal-Romanen, ich meine die Zeitungsanzeigen von Privatdetekteien, das stimmt schon. Es gibt eine ganze Menge Leute, die sich Privatdetektiv nennen. Es gibt ein Gesetz hinsichtlich privater Sicherheitskräfte. Banken, Firmen, Prominente haben ihre eigenen Sicherheitsdienste. Aber dass die literarische Figur Privatdetektiv in einer Gesellschaft ohne solche Privatdetektive so gut funktioniert, liegt möglicherweise an der oben erwähnten literarischen Tradition. Und natürlich könnte es sein, dass die Literatur der Wirklichkeit vorgreift. Ich persönlich würde nicht mal im Traum daran denken, einen Kriminalroman ohne Privatdetektiv zu schreiben.
Für Sie persönlich, wie sieht der perfekte Kriminalroman – neben Ihren eigenen, natürlich – aus?
Danke für das Kompliment, das ich gar nicht verdiene. Ich weiß nicht, wie man den perfekten Kriminalroman definieren sollte. Ich könnte natürlich Beispiele nennen, aber das machen wir jetzt lieber nicht, weil das gefährlich ist. Wenn zwei Aficionados damit anfangen, kann das Stunden und Tage dauern … Auf jeden Fall versuche ich die Bücher zu schreiben, die ich gerne lesen würde.
Derek Raymond hat einmal gesagt: »Der Detektiv ist der Dosenöffner der Gesellschaft. Aber wenn die Dose offen ist, dann zeigt sich, dass sie voller verfaulter stinkender Fische ist.« Können Sie dem zustimmen?
Ganz und gar. Ich glaube, wir laden die ganze Last des Lebens in einer Welt, in der fast alles Lüge ist, auf dem armen Detektiv ab und sagen: Übernimm du!, während wir auf der Couch sitzen. Es ist eine geringe Erleichterung, für die er bezahlt wird. Manchmal.
Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen Istanbul und anderen großen Städten?
Ich war schon in einigen großen Städten, aber nie lange genug, um alle Subtexte dort zu lesen. Aber ich glaube, Istanbul ist nicht gänzlich anders als die anderen. Der größte Unterschied ist vielleicht, dass Istanbul eine Stadt mit sehr vielen Schichten ist. Vermutlich ist das bei jeder Metropole so, aber Istanbul hat seine eigenen spezifischen Lagen von Geschichte, europäisch-asiatischen Demarkationslinien, ethnischen Mischungen und künstlerischem Erbe.
Mögen Sie Ihre Stadt? Lieben Sie sie gar?
Ich bin mit einundzwanzig Jahren nach Istanbul gekommen. Seitdem lebe ich hier. Die Beziehung zu meiner Stadt dauert länger als meine Ehe. Und wie ich irgendwo bei einer Lesung in Deutschland mal gesagt habe: Ich habe das Gefühl, dass die Hälfte jedes meiner Bücher von der Stadt geschrieben worden ist. Wie also kann man seinen Koautor nicht lieben?
Fühlen Sie europäisch?
Sehr sogar. Die Kriterien von Kopenhagen haben mein persönliches Leben seit Jahrzehnten sehr effektiv beeinflusst. Wie Sie wissen, hat man seit Jahrhunderten Istanbul in die europäische und die anatolische Seite geteilt. Das bedeutet auch unseren Willen, Teil von beidem zu sein. Auch da, wo die Teile aufeinanderprallen. Ich wurde mit einer ganz natürlichen europäischen Perspektive geboren und erzogen, ich habe nach dieser Perspektive gearbeitet, geschrieben, gelebt. Trotzdem leugne ich nicht, ziemlich oft die anatolische Seite meiner Seele zu besuchen.
Mögen Sie Remzi Ünal?
Ich sehe ihn als einen Freund, den man ein-, zweimal im Jahr auf einen Kaffee mit Blick über den Bosporus trifft. Er erzählt nicht allzu viel über seine Abenteuer, und so muss ich seine dahingemurmelten Bruchstücke zusammensetzen und mir die Leute erträumen, mit denen er geredet hat, die er mit Fragen gelöchert hat oder mit denen er in eine Schlägerei geraten ist. Zu sich nach Hause lädt er mich nicht ein, und ich mache mich nicht über sein größtes Dilemma lustig. Seinen Widerwillen, das Leben anderer Leute zu verändern, obwohl es jedes Mal genau so kommt.
Er ist ein Einzelgänger – Sie sind ein verheirateter Mann mit Frau, Kindern und Familienleben. Mag Ihre Frau Remzi?
Ich frag sie mal. Aha – sie findet ihn sehr attraktiv. Sie kreidet ihm an, dass er so unsozial ist. Er hat noch nicht mal eine Katze, sagt sie. Außerdem findet sie, dass er manchmal ziemlich langweilig ist. Er ist sportlicher, charismatischer und stattlicher als mancher Mann, den sie kennt, aber nicht so liebevoll und zärtlich. Sie hat auch noch nicht ganz raus, ob er ein komplexer Typ ist oder ein Typ voller Komplexe. Ich habe nur genau übersetzt, was sie gesagt hat …
Was ist eigentlich Ihr ganz persönliches Ding mit Privatdetektivromanen? Realistische Romane über Istanbul oder Unterhaltung? Oder gibts da keinen Widerspruch?
Zuallererst unterhalte ich mich dabei. Klar, der Akt des Schreibens ist nicht immer das reine Vergnügen, aber ohne heimliches Grinsen, während ich in die Tasten haue, wäre das nichts. Dann glaube ich ganz fest daran, dass Privatdetektivgeschichten zur populären Kultur gehören, und ich weiß, dass jedes Werk der populären Kultur etwas über seine Zeit, über seine Gesellschaft sagt, in der es steht. Was mein Werk dazu sagt, das steht mir nicht zu, zu formulieren. Ich hoffe, es hat was zu sagen, was Bedeutsames oder auch nicht. Aber das Gefühl, dass die Leute gerne lesen, was ich schreibe, das hält mich immer auf Trab.
Chandler und mehr noch Hammett hatten ja eine offen sozialkritische Einstellung zur Kriminalliteratur. Remzis Fälle sind eher menschliche Tragödien, die in jedem Umfeld passieren können.
Wenn wir gerade von Chandler und menschlichen Tragödien reden – es gibt ein Zitat von ihm, das genau beschreibt, was ich seit Jahren versuche: »Der Detektivroman ist eine Tragödie mit Happy End.« Ich will gar nicht über diese Definition hinaus. Ich überlasse es den Schriftstellern, die Literatur mit einem großen L machen, sich um Tragödien zu kümmern. Die machen das toll. Also, lasst mich meinen Spaß mit dem Ende aller meiner Bücher haben, die genau so happy ausgehen, wie Chandler das gemeint hat. Und ich weiß, dass ernsthafte Leser von Detektivromanen das genauso sehen und erwarten …
Hatten Sie schon einen Gesamtplan, als Sie mit der Serie angefangen haben?
Bevor ich auch nur einen Satz hingeschrieben habe, habe ich lange überlegt, was die Grundlagen für einen türkischen Detektivroman sein könnten. Der Held, seine Vergangenheit, der rechtliche Status und alle Probleme, die sich da anschließen. Wie ich gerade gesagt habe, nicht mal im Traum könnte ich mir vorstellen, einen Kriminalroman ohne Privatdetektiv zu schreiben. Nachdem dieses Hauptproblem gelöst war, ergab sich daraus alles andere: Wie geht der Held mit Mord um und so weiter. Was ich damals noch nicht kannte, war die Rolle von Ärzten und Piloten in bestsellernden Deppen-Büchern. Für mich war die besondere Position eines Piloten von Turkish Airlines, ich meine sein militärischer Hintergrund, nachgerade perfekt. Um die Wahrheit zu sagen: Lange bevor ich den »Kaktüs-Preis« für das erste Buch Schnee am Bosporus gewonnen habe, habe ich alles aus imaginären Interviews heraus entwickelt. Mögliche Mängel und Einwände gegen Kritik waren schon in diesen imaginären Interviews enthalten. Jetzt kommt ein Geständnis: Vor dreißig und noch was Jahren, als ich noch sehr, sehr jung und literarisch sehr ambitioniert war, habe ich Stunden damit verbracht, meine Dankesrede für den Nobelpreis zu konzipieren. Das ist eine gute Technik, um sich über viele Dinge klar zu werden.
Und was kam dann – die Plots oder die anderen Figuren?
Von der eben besprochenen Basis aus gehts los: Manchmal hab ich den Eindruck, dass mein Held hart arbeitet, bis er den Mörder gefunden hat. Er tut, was er kann, als Privatdetektiv, geht Spuren nach, redet mit Leuten, denkt, muss kämpfen, schwitzen und so weiter! Und wenn er am Ende den Mörder hat, ist er genau da, wo die türkische Polizei auch ist, einfach indem sie einem der Verdächtigen ein paar Minuten lang die Fresse poliert. Die anderen Figuren, das Milieu, das alles basiert auf meinen Erfahrungen als Werbemensch. Und werden es auch weiter tun.
Remzi Ünal versucht immer, der Polizei aus dem Weg zu gehen. Ist das tatsächlich Remzi, oder sind das Sie?
Das hat mit der Situation zu tun, die ich gerade beschrieben habe. Die türkische Polizei hat seit Langem die Reputation, ihre Fälle zu lösen, indem sie nicht den Spuren zu einem Verdächtigen folgt, sondern den Verdächtigen erst mal dazu bringt, zu gestehen, und dann dazu, die passenden Spuren zu sammeln. Allerdings scheint sich das seit Kurzem zu ändern. Aber dennoch: Jeder Versuch – egal ob als Roman, Film oder Fernsehserie –, einen Helden, der der türkischen Polizei nahesteht, konträr zu dieser Wirklichkeit handeln zu lassen, kommt mir immer sehr unwahrscheinlich vor. Nicht nur Remzi Ünal, sondern mein ganzes Konzept versucht, der Polizei aus dem Weg zu gehen. Und unter uns: Ich weiß nicht genug darüber, wie die Polizei arbeitet, spricht, scherzt, flucht, um daraus eine ganze Welt zu bauen. Und sowieso will das kein normaler Mensch wissen.