In Ägypten kam es immer wieder zu Volksaufständen. Gewaltsame Herrscher, die Vertreibung der Landbevölkerung, Hunger oder die Unterdrückung durch Besatzer gaben dazu Anlass. Ein wesentlicher Punkt eint all diese Gründe: Es wurden die Grenzen dessen erreicht, was ein Volk ertragen kann. Aber nicht nur Merenra der Zweite, der Radubis’ Herz gewonnen hatte, ignorierte diese Grenzen und brachte sich damit in Gefahr, sondern auch moderne Machthaber, wie etwa Sadat 1977 bei den Brotkrawallen, mussten erleben, dass Unmut im Volk überkochen kann. Dass das öffentliche Aufbegehren wieder und wieder dargestellt wird, macht die Geschichte über die Liebe zwischen dem Pharao und der Kurtisane sowie deren gewaltsames Ende bis heute relevant.
Als Nagib Machfus in den späten Dreißigerjahren diesen Roman schrieb, lag die Revolution von 1919, bei der die Menschen aufbegehrten und nach Gerechtigkeit, Freiheit und dem Ende der Tyrannei verlangten, keine zwanzig Jahre zurück. Als ein Schrei gegen die Einmischung in die Angelegenheiten Ägyptens und gegen die Monarchie, die allzu offensichtlich die »Außenstehenden«, das heißt die Briten, auf Kosten des Volkes duldete, hatte die Revolution eine lang anhaltende Wirkung. Nationalismus lag in der Luft, als Machfus begann, seine Romane über das alte Ägypten zu schreiben, in Europa drohte der Krieg, und die erstarkenden Supermächte waren im Begriff, in der ganzen Welt gegeneinander zu kämpfen.
Machfus verfügte über breite Kenntnisse der Ägyptologie, er war vertraut mit dem Leben und der Kultur des alten Ägyptens und erkannte die Gemeinsamkeiten zwischen den Ereignissen der alten Tage und seiner eigenen zeitgenössischen Welt. Die Beziehung zwischen dem Herrscher und den Beherrschten, dem Pharao und seinem Volk, sowie die politische Labilität und Unruhe, die entsteht, wenn die Führung schwach und maßlos ist, waren damals wie in den Tagen von Machfus für das Leben in Ägypten charakteristisch. Deshalb hätten die Figuren aus Machfus’ Pharaonenromanen und die politischen Ränkespiele und romantischen Episoden, die ihr Leben antrieben, zum königlichen Hofstaat, zu den Ministerien und den schicken Salons des vorrevolutionären Ägyptens gepasst. Durch sein Wissen über das alte Ägypten konnte er seine Gedanken über das moderne verschleiern. Wenn wir von Merenras Untergang lesen, der besessen und stolz die Empfindungen seines Volkes verletzt, ist es an uns, Rückschlüsse zu ziehen auf Machfus’ Aussagen über die Monarchie seiner eigenen Zeit.
Die Geschichte von Radubis illustriert nicht nur Machfus’ Vorliebe für politische Allegorien, sie zeigt auch seine Bereitschaft, das Schicksal als einen aktiven Part in der Entwicklung seiner Erzählung aufzunehmen, was der historischen Liebesgeschichte von Radubis eine tragische Note gibt. Gegenstände, die aus den Klauen königlicher Vögel fallen, kommen als Omen in alten Geschichten häufig vor. Aber dass der Adler absichtlich seine kostbare Beute in den Schoß des Pharaos fallen lässt, gibt den zwei Liebenden von Anbeginn an zu verstehen, dass andere Akteure als die sie umgebenden menschlichen Wesen Einfluss auf ihr Schicksal nehmen. Künstler, Politiker, Liebende und Zyniker unterhalten sich in diesem Roman über das Wesen des Zufalls, und das Schicksal und andere unsichtbare Kräfte, magische wie göttliche, sind immer im Spiel, wenn Radubis und ihr junger königlicher Liebhaber unweigerlich auf ihr vorzeitiges und unglückliches Ende zusteuern.
Indem er nicht zueinander gehörende Orte und Menschen zusammenbringt, muss Machfus auf historische Genauigkeit verzichten. Radubis, wie Herodot sie beschrieb, war offenbar eine thrakische Kurtisane, bei Machfus hingegen entstammt sie dem einfachen Volk des ländlichen Ägyptens und ist einem unmoralischen Leben verfallen (ein Motiv, das bei Machfus immer wieder auftaucht). Ebenso gab es keinen Pharao Merenra den Zweiten: Der historische Merenra war ein unglückseliger Pharao der sechsten Dynastie, der nach kurzer Regierungszeit starb. Historisch gesehen hätte er Radubis nicht treffen können; Machfus hat sie zusammengebracht. Die Geschichte auf diese Weise zu collagieren unterscheidet sich nicht davon, wie die mündliche Überlieferung mit vergangenen Ereignissen umgeht. Obwohl Machfus’ Pharaonenromane sich nicht an die Fakten halten, besteht kein Zweifel, dass sie ein üppig strukturiertes Bild der Wechselfälle aufzeigen, die sich vor tausenden von Jahren am Hofe im Niltal abspielten.
Die Sprache, die Machfus in Radubis verwendet, widerspiegelt die Fremdheit der priesterlichen Gesänge und der pharaonischen Verkündigungen, passend zur historischen und erhabenen Natur der Ereignisse. Die Atmosphäre ist klassisch, ja archaisch. Gleichzeitig sind die Dialoge lebendig und erinnern an die Umgangssprache, obwohl kein umgangssprachliches Vokabular verwendet wird. So klingen die Figuren, auch diejenigen aus dem einfachen Volk, dynamisch und realistisch.
Liebe verwandelt Radubis’ leeres, langweiliges Leben in einen freudigen und strahlenden Zustand der Erfüllung, zumindest für eine Weile, bis sie die Bitterkeit der Enttäuschung, des Scheiterns und des Verlustes kennen lernt – es ist eine zeitlose und universelle Geschichte, die Machfus hier erzählt.
Anthony Calderbank verbrachte nach Abschluss eines Arabisch-Studiums in Manchester einige Jahre in Kairo und lebt heute in Saudi-Arabien, wo er für den British Council tätig ist. Er hat Werke von Nagib Machfus, Sonallah Ibrahim, Miral
al-Tahawi und Yousif al-Mohaimeed ins Englische übersetzt.