Aus alten Legenden, die ein Chronist aufgeschrieben hat, erfahren die Leute in der Altstadt von Kairo die Geschichte ihres Viertels. Am Anfang hat ein mächtiger Mann, Gabalawi (»der vom Berge«), am Rande der Wüste ein großes Haus errichtet. Als er die Verwaltung seinem Sohn Adham übertrug, kam es zum Streit mit den anderen Söhnen. Der Vater warf Idris, den Wildesten, hinaus. Aber als dann Adham unter dem Einfluss von Idris und seiner Frau Einblick in die Stiftungsurkunde zu nehmen suchte, die Gabalawi geheim hielt, wurde auch er mit seiner Familie aus dem großen Haus verstoßen, in ein Leben des Elends und der Plage. Einer seiner Söhne wurde vom Großvater in das große Haus eingeladen, aber ein anderer Sohn erschlug den Bruder …
Allmählich merken die Leser des Fortsetzungsromans in Kairos großer Tageszeitung Al-Ahram, dass hier nichts anderes erzählt wird als die Geschichte der Menschheit seit der Vertreibung aus dem Paradies. Die beiden Brüder sind Kain und Abel, ihr Vater ist Adam, Idris ist Iblis (Diabolos), der dem Koran zufolge das göttliche Gebot ablehnte, sich Adam zu unterwerfen. Und Gabalawi, der Erbauer des großen Hauses und Gründer des Stadtviertels, das in dessen Umkreis nun entsteht, ist Gott selbst. Es ist kein Wunder, dass der Roman Die Kinder unseres Viertels von Nagib Machfus bei seinem Erscheinen 1959 Aufsehen und den starken Widerstand muslimischer Kreise erregte, der bewirkte, dass bis heute in Ägypten keine Buchausgabe zugelassen worden ist; aber die Beiruter Ausgabe ist natürlich bekannt geworden. Der Roman enthält tatsächlich die Menschheitsgeschichte, besser gesagt: die Heilsgeschichte, deren Epochen aus den drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam bestehen - transponiert auf ein altes Viertel von Kairo.
Schon die Konstruktion ist äußerst fesselnd. Jeder Leser weiß, was passieren wird, wartet jedoch gespannt darauf, wie der verkleinerte Maßstab sich auswirkt. Gabal (Moses) erkämpft für seine Sippe einen Anteil am Ertrag der Familienstiftung, indem er die Widersacher in eine Grube stürzen lässt. Rifa’a (Jesus) will die Menschen von den bösen Geistern ihrer Begierden befreien und ist nicht an der Stiftung interessiert, wird aber trotzdem umgebracht; nach seinem Tode erringen seine Anhänger die Macht. Kassim (Mohammed) organisiert einen Sportverein und setzt sich mit dessen Hilfe und mit politischer Klugheit durch; er lässt den Ertrag der Stiftung erstmals allen Bewohnern des Viertels zugutekommen.
Die Religionsgründungen sind also Versuche, Elend und Ungerechtigkeit zu überwinden; aber die ungerechten Machthaber gewinnen immer wieder die Oberhand, weil die Menschen die Lehren der Religionsgründer vergessen. So geht es auch in der vierten Epoche, in der der Magier Arafa die Gerechtigkeit herzustellen sucht, der die Wissenschaft verkörpert; er wird gezwungen, seine Wunderwaffe den Machthabern zu überlassen. Außerdem hat er bei erneuter Suche nach der geheimen Stiftungsurkunde den Tod Gabalawis verursacht. Aber Gabalawi lässt Arafa eine letzte Botschaft zukommen: Er war im Augenblick des Todes zufrieden mit ihm. Das gibt Arafa die Kraft zu dem Entschluss, aus dem Dienst der Machthaber zu fliehen.
Wir dürfen dechiffrieren: Gott ist tot, aber der Wissenschaftler, dem trotz aller Rückschläge die Zukunft gehört, erkennt die von Gott gesetzten sittlich-gesellschaftlichen Normen an, und daraus wächst Hoffnung für die Menschheit.
Für mich ist Die Kinder unseres Viertels das fesselndste Buch von Nagib Machfus. Die Themenwahl charakterisiert den Autor: Kairo ist seine Heimat, die er kaum je verlassen hat. Aber er vermag zu zeigen, dass die Bedürfnisse, Konflikte, Sehnsüchte der Menschen in Kairo die aller Menschen sind.
Fritz Steppat: Die Kinder unseres Viertels. Erstmals erschienen in: Frankfurter Rundschau, 10. Dezember 1988, (Auszug). © Fritz Steppat, Berlin.