Das Jahr 1953 brach an. Bereits 1946 und 1947 hatte ich mit ersten Vorbereitungen und Entwürfen für Romane angefangen. Darunter war auch Memed mein Falke. Außerdem hatte ich mit meinem Roman Der Wind aus der Ebene begonnen, aber ihn nach der Hälfte beiseitegelegt. Als ich 1951 nach Istanbul kam, hatte ich nicht eine einzige Seite von Memed mein Falke in der Hand. Aber das Thema befand sich komplett in meinem Kopf, und ich wollte die Geschichte unbedingt schreiben.
Ich brauchte Geld. Ein Produzent, dessen Filme ich kannte, wollte ein Drehbuch von mir. Ich hatte bereits ein wenig über Drehbücher gelernt. Gemeinsam mit Abidin Dino hatte ich an zwei Drehbüchern gearbeitet. Ich erzählte dem Filmproduzenten von der Geschichte, die mir für Memed mein Falke vorschwebte. »Schreib das Drehbuch«, schlug er mir vor. »Ich zahle dir dreitausend Lira für diese Geschichte.« Daraufhin machte ich mich an die Arbeit, schrieb innerhalb eines Monats das Drehbuch und brachte es ihm. Glücklich der, der danach diesen Mann zu Gesicht bekommen konnte! Wann immer ich zu ihm ging, war er nicht anzutreffen. Wann immer ich ihn anrief, war er gerade nicht in seinem Büro. Nach ein paar Tagen gab ich es auf, hinter ihm herzurennen. Ich war noch nie solch einem Menschen begegnet. Wenn es ihm nicht gefallen hatte, dann sollte er es doch offen sagen. Stattdessen machte er sich unsichtbar. Einige Jahre später, nachdem Memed mein Falke berühmt geworden war, sah mich der Mann bei einer Konferenz. Wie eine Maus suchte er sich schnell ein Loch, um sich zu verkriechen.
Nachdem ich die Hoffnung auf diesen Filmproduzenten aufgegeben hatte, wandte ich mich an Cevat Bey, den Leiter der Zeitung Cumhuriyet, und erläuterte ihm die Situation. Cevat Bey war sehr betroffen. Wir litten finanzielle Not, hatten kein Geld. Meine Frau Thilda war meinetwegen aus der Arbeit entlassen worden. Wir mussten mit den hundertachtzig Lira Journalistenhonorar von der Cumhuriyet auskommen.
Eines Tages sagte ich zu Cevat Bey: »Ich habe diesen Stoff sowieso als Roman konzipiert und sogar schon einige Kapitel geschrieben. Ich möchte den Roman dieses Jahr fertigstellen. Aber ich brauche Geld zum Leben. Wenn Sie mir tausend Lira als Vorschuss geben würden …« Cevat Bey nahm ein Blatt Papier, schrieb etwas darauf und reichte es mir: »Geh und hole dir das Geld von Ziya Bey.« Ich besorgte mir das Geld und war wie benommen vor lauter Glück und Freude. Wir mieteten uns eine Wohnung in Serencebey im Stadtteil Beşiktaş, die gerade neu gebaut und noch nicht völlig fertiggestellt worden war. Ich stürzte mich auf das Schreiben. Jahr für Jahr hatte ich mir Gedanken über diesen Roman gemacht, ich kannte ihn schon auswendig.
Warum musste nun der gewaltige Winter des Jahres 1953 einbrechen? Ein Winter mit nie zuvor gesehener Kälte. Wir besaßen nichts außer einem kleinen Kachelofen, den wir mit Holz schürten. Das Abzugsrohr der Öfen in den Wohnungen unter uns lief mitten durch unsere Wand. Thilda verkroch sich ins Bett, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, durch die das Abzugsrohr lief, und las Bücher. Und ich versuchte, mit den dicken Handschuhen, die ich in Erzurum gekauft hatte, Memed mein Falke zu schreiben. Wenn wir ab und an ein paar Scheite Holz für den Ofen fanden, herrschte Festtagsstimmung.
Es muss im Februar gewesen sein, als sich die Wetterverhältnisse noch verschlimmerten. Die Eisschollen, die von der Donau kamen, trieben auf dem Bosporus. Von der Erde bis zum Himmel erfror alles und wurde zu Eis. Viele Istanbuler stiegen auf die Eisschollen auf dem Bosporus und ließen sich auf ihnen fotografieren. In dieser Hölle aus Schnee und Eis, in unserer frostigkalten Wohnung schrieb ich innerhalb von drei Monaten Memed mein Falke und brachte den Roman anschließend zu Cevat Fehmi Başkut. Wenn mein Werk ihm gefiele, würde ich noch weitere tausendachthundert Lira erhalten. Aber wenn der Roman ihn nicht überzeugte, war ich bei der Zeitung verschuldet.
Vierzehn Tage später fragte ich Cevat Bey: »Haben Sie den Roman gelesen?«
»Ich habe ihn bis zur Hälfte durchgelesen«, antwortete er.
Ich schreckte auf. »Es stimmt nicht, was Sie da sagen, Cevat Bey, Sie haben noch nichts gelesen«, protestierte ich.
»Warum soll es nicht stimmen?«, fragte er spöttisch.
»Wenn Sie diesen Roman zu lesen begonnen hätten, Efendi, hätten Sie ihn nicht aus der Hand gelegt, ohne ihn zu beenden.«
Cevat Bey fuhr mich hart an und ließ Schimpftiraden auf mich regnen. »Du frecher Kerl! Wer glaubst du denn, wer du bist«, zeterte er, »das ist doch schließlich nur dein erster Roman.«
Ich schwieg und verließ den Raum. Ich fragte ihn nicht wieder nach dem Roman.
Einen Monat später rief er mich in sein Büro. Er wies mir einen Platz zu. »Du hattest recht«, sagte er, »vorletzte Nacht habe ich mit deinem Roman angefangen, und erst heute morgen habe ich ihn fertig gelesen. Ich konnte ihn nicht aus der Hand legen.«
Plötzlich pochte mir das Herz gewaltig. Cevat Bey war gestern nicht zur Arbeit erschienen! »Aber, Cevat Bey, ich werde meinen Namen nicht unter diesen Roman setzen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich ihn nur des Geldes wegen geschrieben habe. Zudem auch noch in der kurzen Zeit von nur drei Monaten. Meine guten Romane werden erst ab jetzt geschrieben.«
»Wenn du die Beschreibung der Çukurova in der Einleitung nicht herausstreichst, werde ich deinen Roman ohnehin nicht in die Zeitung setzen.«
»Dann kann ich Ihnen meinen Roman nicht überlassen, Efendi. Dann gebe ich ihn einer anderen Zeitung und zahle bei Ihnen meine Schulden ab.«
»Wenn das so ist, dann gehst auch du zu einer anderen Zeitung.«
»Dann gehe ich eben, Cevat Bey.«
»Du denkst jetzt bestimmt, dass du bei einer anderen Zeitung arbeiten kannst, nicht wahr?«
»Ja, das meine ich.«
»Einen Journalisten, der bei der Cumhuriyet entlassen wurde, nimmt keine andere Zeitung auf, weißt du das nicht?«
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Nun weißt du es aber.«
»Na gut, dann arbeite ich eben als Gesucheschreiber auf dem Platz hinter der Neuen Moschee.«
»Du tust gut daran.«
»Und wenn ich vor Hunger sterbe, ich setze meinen Namen nicht unter diesen Roman und nehme auch nicht die Einleitungspassage mit der Beschreibung der Çukurova heraus.«
Cevat Fehmi Bey hatte offensichtlich recht mit seiner Prophezeiung, dass ein Journalist, der bei der Cumhuriyet rausgeflogen war, von niemandem eingestellt wurde. Als ich 1953 entlassen wurde und bei den Zeitungen und Zeitschriften vorsprach, die mir während meiner Zeit bei der Cumhuriyet, als ich vierhundert Lira im Monat verdiente, fünftausend Lira angeboten hatten, schauten die mich nicht einmal an. Als ob es nicht sie gewesen wären, die mir zuvor fünftausend Lira angeboten hatten. Die Briefe der Freunde, die mich damals abgewiesen haben, sind noch in meiner Mappe aufbewahrt.
Nadir Nadi rief mich am nächsten Tag zu sich: »Cevat erzählte mir heute Morgen, dass du die Cumhuriyet verlassen würdest.«
»Ich verlasse die Zeitung nicht, Nadir Bey.«
»Wenn das nicht der Fall ist, was hat dann das zu bedeuten, was Cevat Bey erzählte?«
Daraufhin erläuterte ich ihm ausführlich die Situation.
»Wirst du die Einleitungspassage nicht aus dem Roman nehmen?«
»Ich kann sie nicht herausnehmen.«
»Wirst du deinen Namen nicht unter den Roman setzen?«
»Ich kann meinen Namen nicht daruntersetzen.«
»Heißt das also, dass du die Zeitung verlassen willst?«
»Wenn das Ihre Bedingungen sind, so werde ich gehen.«
»Und was wirst du dann machen?«
»Die anderen Zeitungen nehmen mich wohl nicht, ich werde dann also auf dem Platz hinter der Neuen Moschee als Gesucheschreiber arbeiten. Das ist schließlich mein Beruf. Auf diese Weise werde ich wieder Geld verdienen, und in meiner freien Zeit werde ich Romane schreiben.«
»Wenn das so ist, dann geh.«
Ich verließ sein Büro, ging schnurstracks zu Cevat Bey und verlangte meinen Roman. Er lag noch auf seinem Schreibtisch. »Hier hast du ihn«, er reichte ihn mir.
Als ich gerade aus dem Büro treten wollte, rief er mich von hinten: »Warte.« Ich wandte mich an der Tür um und ging zurück. Er stand auf, kam auf mich zu. Er umarmte mich, küsste mich auf die Wangen. »Leb wohl, mein Freund«, sagte er. Uns beiden traten Tränen in die Augen. Bedii Faik, der Verleger der Zeitung Dünya, war mein Freund. Auch wenn wir uns so gut wie nie sehen, so dauert unsere Freundschaft und Zuneigung bis heute an. Damals begegnete ich ihm zufällig in einem Lokal. »Was ist passiert?«, fragte er mich. »Ich habe gehört, dass du die Cumhuriyet verlassen hast. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde hinter der Neuen Moschee als Gesucheschreiber arbeiten. Du weißt ja, das war früher meine Arbeit.«
»Bring mir doch mal diesen Roman. Vielleicht drucke ich ihn ab.«
Ich brachte ihm mein Werk. Zehn Tage später rief er mich zu sich. Er konnte nicht aufhören, den Roman zu loben. »Mensch, bist du denn verrückt, deinen Namen nicht unter solch einen Roman zu setzen? Du wirst es später bitter bereuen.«
Auch mit Thilda hatte ich darüber viel diskutiert, wir hatten uns sogar heftig gestritten. Vehement vertrat sie den Standpunkt, dass man seinen Namen unter solch einen Roman setzen müsste. Von dieser Haltung wich sie keinen Deut ab. »Ich werde es machen. Meinen Namen setze ich zwar darunter, doch ich streiche nicht eine einzige Zeile heraus.«
Einige Tage später rief mich Bedii wieder an: »Hör zu, Yaşar, ich würde dich gerne in meiner Zeitung aufnehmen, doch sie lieben dich sehr. Ich habe mich gestern mit Nadir unterhalten. Yaşar soll seinen Roman bringen, was er sich wünscht, wird erfüllt werden, hat er mir versichert.«
Ich brachte meinen Roman nicht zu Nadir, sondern zu Cevat Fehmi.
»Nun, du Gauner, wirst du diesem Roman deinen Namen geben?«, fragte er mich.
»Ja, ich mache es, mein Efendi«, antwortete ich.
»Du wirst es nicht bereuen.«
»So Gott will …«
»Die Einleitungspassage des Romans bleibt drin.«
»Nein, Efendi, ich nehme die Passage raus.«
»Schau, wir machen es so: Nimm diese Passage aus dem Auftakt des Romans heraus und platziere sie irgendwo in der Mitte.«
»Übernehmen Sie es, Efendi.«
Als ich damals gekommen war, um meinen Roman abzuholen, hatte Cevat Bey mich so väterlich umarmt und mich auf die Wangen geküsst … Diese innige Freundschaft werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen.
Jahre später, als wir in Nadir Beys Büro saßen, fragte Cevat Bey: »Nadir, weißt du, warum ich diesen Gauner so sehr mag? Nur weil ich ihm ein paar Zeilen aus seinem Roman streichen wollte, nahm der Junge es sogar in Kauf, seine Arbeit zu verlieren und um sein Brot gebracht zu werden.« Meine tiefgehende Freundschaft mit Cevat Bey hatte nach diesem Ereignis erst richtig begonnen.
Als Memed mein Falke in Fortsetzungen erschien, kam der gefürchtete Staatsanwalt jener Jahre, Hicabi Dinç, in die Redaktion und befahl: »Cevat Bey, wir haben Befehl aus Ankara erhalten. Ihr müsst diesen Roman abbrechen.« Bedri Rahmi soll sich im Raum aufgehalten haben und auch noch viele andere Redakteure. Cevat Bey soll wutentbrannt aufgestanden sein und zornig geschrien ha-ben: »Hicabi! Diejenigen, die dich aus Ankara anrufen, die sollen mich anrufen. Wer versteht hier etwas von Romanen – du oder ich? Verstehen die in Ankara etwas davon? Na los doch, falls eure Macht ausreicht, dann stoppt diesen Roman in der Zeitung, los!«
Daraufhin habe ich mit Cevat Bey und dem damaligen Anwalt der Cumhuriyet den Text von vorn bis hinten gründlich durchgekämmt. Wir konnten nur eine kurze Passage finden, die als Straftat Bestand gehabt hätte. Diese bedenkliche Passage habe ich wieder eingefügt, als das Buch erschien.
Memed mein Falke, der in den Jahren 1953 und 1954 als Fortsetzung veröffentlicht wurde, erhielt 1956 den ersten Romanpreis, den die Zeitschrift Varlik ausgeschrieben hatte. Das Preisgeld betrug tausend Lira. Bei der Bekanntgabe brach ein großes Durcheinander aus. Von allen Seiten gab es solchen Druck, dass der Verleger der Zeitschrift, Yaşar Nabi, diesen Literaturpreis sofort wieder absetzte. Der Romanpreis der Varlik wurde seit jenem Tag nie wieder vergeben. Dabei traf Yasar Nabi gar keine Schuld. Das Auswahlgremium war mit den hervorragendsten Schriftstellern der Türkei besetzt. Von den neun Juroren hatten sieben ihre Stimme für Memed mein Falke gegeben. Im selben Jahr wurde, wiederum in Varlik, eine Umfrage gestartet. Die Leser sollten den besten Romanautor der Türkei auswählen. Und es stimmte doch wahrhaftig ein Großteil der Leser für den Autor von Memed mein Falke! Ich glaube, dass der Verleger Yaşar Nabi sich in jenem Jahr nur mit Mühe aus den Fängen mancher Schriftsteller hat retten können. Bis zu seinem Tod hat er nicht noch einmal solch eine Leserumfrage durchgeführt.
Was hat mir dieser Roman, unter den ich nicht einmal meinen Namen setzen wollte, so alles eingebrockt! Anstatt mich zu freuen, nahm mein Zorn auf Memed immer mehr zu. Nach diesem Werk schrieb ich im Jahr 1954 den Roman Anatolischer Reis. Danach konnte ich bis 1959 nichts mehr schreiben. Ich verfiel in eine Phase der Benommenheit, kämpfte um das nackte Leben. Dr. Ibrahim Kiray war ein guter Freund von mir, der mich auch behandelte. Ständig ermunterte er mich: »Schreib, fang einen neuen Roman an, und du wirst bestimmt nicht mehr leiden.« Eines Tages gelangte ein Entwurf für den Roman Der Wind aus der Ebene, den ich in Kadirli mit einem Kopierstift auf große Blätter geschrieben hatte, in meine Hände. Ich las ihm ein wenig daraus vor. Ibrahim gefiel sehr, was er zu hören bekam. »Daraus lässt sich ein guter Roman machen«, schlug er vor.
Das, was ich daraufhin schrieb, war ein Auszug aus dem Roman, der später als Unsterblichkeitskraut veröffentlicht wurde. Meryemce, die auf beiden Augen blinde Frau, lebte allein im Dorf. Als ich den Roman Der Wind aus der Ebene zu schreiben begann, ließ ich Meryemces Augen heilen, sodass sie wieder sehen konnte. Um diese Romanfigur Meryemce wuchs ein umfangreiches, riesiges Buch, das aus drei Teilen bestand. Ich schrieb diesen Roman mit viel Mühe und Sorgfalt und war sehr glücklich. Kaum war der Roman fertig, fielen die Benommenheit und alle anderen Plagen von mir ab.
Memed mein Falke wurde 1957 in der Sowjetunion und in Bulgarien veröffentlicht. Nâzim Hikmet hatte dafür gesorgt, dass das Buch in diesen Ländern erschien. Außerdem hatte mir ein Freund einen Brief von Nâzim Hikmet mit Gedanken über Memed vorgelesen. Da ein Mann wie Nâzim in solch einer Weise über dieses Buch sprach, begann mir der Roman allmählich zu gefallen. Nunmehr musste ich auch noch die anderen Teile schreiben. Als Memed mein Falke 1961 in England erschien, blieb das Buch lange Zeit an der Spitze der Bestsellerlisten. In dieser Zeit verdiente ich zum ersten Mal richtig Geld. Ich kaufte uns einen Kühlschrank, einen Gasherd, Stühle, einen Tisch, Töpfe, Geschirr und noch einiges mehr für die Wohnung. Danach ging es erst richtig los. Memed wurde in Skandinavien sehr bekannt, später auch in Frankreich und Amerika. Ich weiß nicht, in wie viele Sprachen das Buch bislang übersetzt wurde. Wahrscheinlich in weit über dreißig … Später begann man, auch die anderen Bücher eines nach dem anderen in die Weltsprachen zu übersetzen.
Ich will noch erzählen, wie mir die Idee zu Memed mein Falke gekommen ist. Es wird etwas dauern, ich bitte um Entschuldigung. Ich bin bekannt dafür, dass ich ausführlich schreibe: Man wirft es mir oft genug vor. Eines Tages las ich ein altes Dokument über die osmanische Geschichte. Ich stieß auf die Großtaten eines gewissen Ahmed, Scheich von Sakarya. Dieser Ahmed ernannte sich zum Mahdi, ein Titel, der für den Sohn eines großen Meisters reserviert ist, dem Imam Hasan al-Askari. In Anatolien glauben die Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Aleviten, dass der Mahdi nicht tot ist: Er ist unsterblich. Am Jüngsten Tag wird er erscheinen und die Ordnung der Welt wiederherstellen; er wird das Böse geißeln, damit die Welt im wiedergefundenen Frieden und Glück lebe. Andere sunnitisch-muslimische Gruppen teilen diesen Glauben. Deshalb erwähnt die Geschichte der Seldschuken und des Osmanischen Reichs mehrere Inkarnationen des Mahdi. Jedesmal bekämpften diese Gottesmänner die Seldschuken oder Osmanen. Einige dieser Aufstände waren so erfolgreich, dass die Revolte von Baba Isak im dreizehnten Jahrhundert Konya, die damalige Hauptstadt, bedrohte. Dank den byzantinischen Söldnern gelang es dem Sultan der Seldschuken, die Aufständischen zu besiegen.
Der Scheich von Sakarya, den der Chronist erwähnt, war einer der messianischen Kriegsherren. Er ernannte sich zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts zum Mahdi, und es gelang ihm, mit einigen Tausend Anhängern das Expeditionskorps von fünfzigtausend Soldaten zu schlagen, das der Sultan Murad IV. zweimal gegen ihn aussandte. Kurz nach diesen Kriegszügen schlug Sultan Murad auf seinem Eroberungszug nach Bagdad sein provisorisches Lager in Konya auf.
Der Großwesir und der Generalstabschef suchten ihn auf und sagten: »Meister, wir sind auf dem Weg nach Bagdad mit dieser ganzen Armee, aber haben Sie an den Scheich von Sakarya gedacht, den wir zweimal zu vernichten suchten, der die Berge in der Nähe Ihrer Hauptstadt besetzt hält? Wird er nicht von Ihrer Abwesenheit profitieren, um Istanbul anzugreifen?«
Der Sultan wandte sich seinem Generalstabschef zu und befahl: »Nimm dieses arabische Pferd, dieses Schwert, diesen pelzgefütterten Mantel und diese Standarte und übergib sie dem Scheich von Sakarya. Ich ernenne ihn zum Wesir der drei Yakschwänze. Er soll eine Armee von fünftausend Mann versammeln und zu mir stoßen. Da er vorgibt, der Mahdi zu sein, werden wir, wenn ich Bagdad bezwungen habe, gemeinsam die Weltordnung wiederherstellen und den Frieden, die Freiheit und die Gleichheit einführen. Das ist ein Dienst an Gott.«
Der Generalstabschef begab sich zum Mahdi. Der Chronist beschreibt den Scheich von Sakarya: »Er war ein junger Mann, mit einem Bart, so schwarz wie Ebenholz, edel, schlank und großgewachsen, mit einem Lächeln auf den Lippen.«
Der Generalstabschef übermittelt die Botschaft des Sultans. Der Mahdi antwortet: »Ich kann nicht einwilligen!«
Der Generalstabschef insistiert: »Mein Scheich, wie du weißt, sind wir unter dem Kommando des Sultans auf dem Weg nach Bagdad mit einer Armee von hunderttausend Mann. Zweimal haben wir versucht, dich zu unterwerfen, doch du hast uns besiegt. Es ist undenkbar, dass Istanbul jetzt ohne Soldaten und ohne seinen Herren bleibt und wir dich zwei Schritte von der Hauptstadt entfernt lassen. Wisse, dass wir mit unserer Armee gegen dich marschieren werden. Als Entgelt ernennt dich der Gebieter zum Wesir der drei Yakschwänze. Du wirst eines Tages Großwesir.«
»Ich kann nicht einwilligen«, wiederholt der Mann.
»Wisse, dass wir deiner habhaft werden. Du kennst das Gesetz. Wir führen dich nach Konya. Dort wirst du an die Kruppe eines Esels gebunden, und man wird dich drei Tage lang auf den Märkten von Konya zur Schau stellen; man wird dich demütigen, man wird dir die Augen ausstechen. Du wirst bei lebendigem Leib gevierteilt und zerstückelt.«
»Ich weiß, doch kann ich nicht einwilligen.«
»Scheich, oh mein Scheich, bist du von Sinnen?«
»Nein, ich bin nicht verrückt, aber ich muss meine göttliche Mission erfüllen!«
Die Voraussagen des Generalstabschefs erfüllten sich: Der Scheich wurde nach hundert Demütigungen und Folterqualen auf dem Markt von Konya hingerichtet.
Als ich jung war, glaubte ich, dass es auf dieser Welt Menschen mit einer »Verpflichtung« gibt. Später begriff ich, dass die Welt voller aufrührerischer Schicksale ist, wie das des Scheichs von Sakarya.
Für mich war die Welt vor allem das Werk dieser Aufständischen; sie drückten die Quintessenz unserer Menschheit aus. Sie hatten unser Universum verändert, um es uns in seinem jetzigen Zustand zu übergeben. Sie werden es auch in Zukunft verändern, sie werden uns helfen, dem Bösen zu widerstehen, und uns in eine menschlichere Welt führen. Es sind Männer, die in den Kampf zogen, Menschen, die den Kampf aufnahmen, obwohl sie wussten, dass sie alles, auch ihr Leben, verlieren würden; sie kämpfen, obwohl ihr Scheitern vorhersehbar ist, und sie gehen ihrem Schicksal entgegen: dem Schicksal der Besiegten.
Ich kenne heute viele solcher Menschen. Verallgemeinernd kann man sagen, dass die Menschheit dazu verdammt ist, sich aufzulehnen. Diese »Menschen mit einer Verpflichtung« empfinden das Gefühl der Auflehnung am stärksten, das sich in jedem von uns findet.
Mit Memed mein Falke habe ich über vier Romane hinweg versucht, diesem »Menschen mit einer Verpflichtung« und dem Gefühl der Auflehnung auf den Grund zu gehen. Im ersten beginnt Memed zufällig seine Laufbahn als Bandit. Das Volk, dessen Revolte er ausdrückt, ergreift Besitz von ihm, um ihn auf die Wege seiner Wahl zu führen. Sogar ohne das Wissen um sein eigenes Schicksal transformiert sich Memed in einen Mann, der verpflichtet ist zu revoltieren. Als er begreift, dass das Leben als Bandit ausweglos ist, akzeptiert er seine Verpflichtung. »Nie wird ein Bandit Herr der Welt sein«, sagt ein altes türkisches Lied. Während Jahrhunderten hatte das türkische Volk Zeit, dieses Sprichwort zu erproben. Doch zu allen Zeiten haben sich die Menschen aufgelehnt.
Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, als ich Memed mein Falke zu schreiben begann. Memed war einundzwanzig. Ich war mehr als sechzig Jahre alt, als ich den vierten Band beendete. Er war erst fünfundzwanzig. Manchmal denke ich darüber nach, was ihm anschließend hätte geschehen können. Hätte ich ihn in mein heutiges Alter führen können? Ich glaube nicht. Als Memed mein Falke an sein Ende gelangte, war er auch in mir beendet. Ich merkte, dass ich unfähig war, einen weiteren Satz über ihn zu schreiben. Wie bin ich dahin gelangt? Ein Rätsel.
Es fällt mir auf, dass ich in unseren Gesprächen oft sage: »Ich weiß nicht, ich verstehe nicht, ein Rätsel.« Es gibt ganz offensichtlich viele Dinge, die ich in dieser Welt nicht verstehe.
Aus: Yaşar Kemal, Der Baum des Narren. Mein Leben. Im Gespräch mit Alain Bosquet. Unionsverlag 1999.