Doris Wieser: Sie haben verschiedentlich Ihre Romane als »falsche Kriminalromane« bezeichnet, weil in ihnen die Kriminalhandlung nur als Gerüst dient, um eigentlich ganz andere Dinge zu sagen. Weshalb haben Sie dieses Genre gewählt? Was sind die Vorteile des Kriminalromans gegenüber anderen Romanformen?
Leonardo Padura: Ich glaube, dass ich das Genre Kriminalroman eher benutze, als dass ich in ihm schreibe. Ich spreche von »benutzen«, weil ich Strukturen des Kriminalromans verwende mit dem Ziel, eine Form für meine Literatur zu finden, die all das widerspiegelt, was in den letzten Jahren das Leben und die Gesellschaft in Kuba gekennzeichnet hat, ausgehend von einer sehr persönlichen Sicht der kubanischen Wirklichkeit. Der Kriminalroman hat für mich eine große Tugend: Dieses Genre ist ein dankbares Medium, wenn man es mit einer literarischen Perspektive verwendet – und bekanntlich gibt es ja viele Kriminalromane, die das Literarische kaum berühren. Trotzdem ist dieses Genre selbst schon sehr literarisch. Es versetzt einen direkt hinein in die Realität einer Gesellschaft, dort, wo sie am dunkelsten ist. Im Kriminalroman geht es um Verbrechen wie Vergewaltigungen und Raubüberfälle und somit um die Probleme der Gesellschaft. Das ist für mich sehr wichtig, weil ich eine Literatur schreiben möchte, die in gewisser Weise Zeugnis über das Leben in Kuba in diesen Jahren ablegt. Dieses Ziel verfolge ich schon seit Ein perfektes Leben, dem ersten Roman des Quartetts.
Auch Ihr Roman La novela de mi vida über den kubanischen Nationaldichter José Maria Heredia ahmt einige Strukturelemente des Kriminalromans nach, denken wir beispielsweise an die Informationsbeschaffung durch Befragung des Umfelds und die sukzessive Rekonstruktion der Vergangenheit. Wo befinden sich also die Grenzen des Genres bzw. was wäre Ihre Minimaldefinition für Kriminalroman?
Auch wenn es nicht so aussieht, glaube ich, dass von all meinen Romanen La novela de mi vida am meisten von einem Kriminalroman hat, denn die Suche und die Ermittlung sind zentral in diesem Roman, wie auch das Finden der »Täter«. Ich glaube, dass sich heutzutage die Grenzen des Kriminalromans verloren haben – und ich spreche jetzt nicht mehr vom klassischen Kriminalroman à la Agatha Christie, auch nicht vom amerikanischen hard-boiled von Chandler und Hammett, sondern vom zeitgenössischen Kriminalroman. Was übrig bleibt, ist die Absicht, einen bestimmten Romantypus zu schreiben, der Merkmale des Kriminalromans aufweist. Zum Beispiel ist eines der Modelle für das, was man als den zeitgenössischen Kriminalroman bezeichnen könnte, die Literatur Rubem Fonsecas aus Brasilien. Er schreibt keine Kriminalliteratur und tut es gleichzeitig doch, da er über die Stadt, über Gewalt und über Angst schreibt. Diese Elemente interessieren auch mich, obwohl meine Welt nicht die Welt von Rio de Janeiro ist, wo Fonsecas Romane angesiedelt sind. Dadurch, dass ich bestimmte Erzählstrategien des Kriminalromans verwende, ohne dabei an Grenzen zu denken, nähert sich auch meine Literatur dem Genre.
Der kubanische Kriminalroman blickt noch auf eine relativ kurze Tradition zurück. In den Siebzigerjahren transportierte er vor allem politische Inhalte mit unzweideutiger ideologischer Ausrichtung. Jedoch kann man mittlerweile eine allgemeine Entpolitisierung der kubanischen Literatur feststellen und Fidel Castros berühmt-berüchtigtes Diktum »Innerhalb der Revolution alles, außerhalb der Revolution nichts« hat an autoritärer Schärfe verloren. Gibt es trotzdem so etwas wie eine spezielle Bedingtheit des kubanischen Kriminalromans?
Das grundlegende Merkmal kubanischer Kriminalromane, wie sie in den Siebzigern und Achtzigern entstanden, war ihr politischer Charakter. Es war eine Literatur, die bestrebt war, die Probleme der Gesellschaft zu reflektieren und sie mittels eines effizienten Polizeiapparats und sehr sendungsbewusster Ermittler auch zu lösen. Diese Literatur hat sich so stark politisiert, dass sie schließlich von der Politik verschlungen wurde, obwohl man diese Gefahr von Anfang an gesehen hat. Als ich damit begann, Kriminalliteratur zu schreiben, bestand meine grundlegende Absicht darin, einen Kriminalroman zu schreiben, der sehr kubanisch sein sollte und gleichzeitig dem kubanischen Kriminalroman in nichts ähnelte. Ich habe versucht, mich von der Tradition abzusetzen und mit meinen Romanen eine sehr viel tiefgreifendere Analyse der kubanischen Gesellschaft vorzunehmen, anhand ihrer Menschen, ihrer Mängel, anhand all der Dinge, die uns während dieser Jahre begleitet haben und die nicht gerade heroisch sind. Im Kontext der kubanischen Literatur der Neunziger teilen meine Bücher die Merkmale der Werke vieler anderer Autoren, die in diesen Jahren geschrieben haben. Da ist dieses Gefühl von Enttäuschung, dieses nostalgische Rückbesinnen auf die Vergangenheit, diese ein wenig apokalyptische Vision von Havanna und der kubanischen Gesellschaft, die auch in den Romanen von Abilio Estévez, Pedro Juan Gutiérrez und Jesús Díaz spürbar sind. Ich glaube, das Wichtigste für mich als Autor war, mir kein Ghetto zu erschaffen und mich selbst nicht als einen Genreautor zu begreifen, der die Sorgen der übrigen Autoren nicht teilt.
Inwiefern glauben Sie, dass Ihre Literatur immer noch unter den Einschränkungen, die ihr die Zensur auferlegt hat, leidet?
Ich fühle mich sehr frei von Einschränkungen, von dieser vorurteilsbehafteten und engen Sichtweise auf die Realität, die den kubanischen Kriminalroman früher beherrscht hat. Ich habe versucht, mit meinen Romanen eine ziemlich schonungslose Chronik des kubanischen Lebens der letzten dreißig, vierzig Jahre zu schreiben. Glücklicherweise sind ein paar Dinge geschehen, die sehr wichtig waren für mein Literaturverständnis. Erstens hat sich die kubanische Gesellschaft in den Neunzigerjahren grundlegend verändert. Die Krisenjahre haben beispielsweise unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert und sie haben auch die Wirklichkeit selbst verändert. Eine dieser Veränderungen war, dass die Autoren jetzt die Möglichkeit hatten – und das war früher überhaupt nicht so –, absolut frei einen Verleger zu suchen. Die Tatsache, dass ich meine Verleger außerhalb Kubas habe, beruhigt mich, obwohl es nach wie vor mein wichtigstes Ziel ist, meine Bücher in Kuba zu veröffentlichen. Ich weiß, dass ich daher mit größter Freiheit schreiben kann, auch wenn ich weiß, dass es Grenzen gibt, die ich nicht überschreiten darf, damit meine Bücher weiterhin in Kuba verlegt werden. Aber diese Grenzen möchte ich auch gar nicht überschreiten, denn würde ich das tun, so würde ich mich auf dem weiten Feld der Politik bewegen. Ich habe kein Interesse daran, dass meine Literatur zu politischer Literatur wird, denn egal ob man für oder gegen etwas schreibt, Literatur, die sich auf das Feld der Politik begibt, droht immer von dieser verschlungen zu werden.
Mario Conde, der Titelheld Ihrer Romane, wird sein Beruf als Polizist von Band zu Band mehr verhasst, bis er schließlich im vierten Roman seine Entlassung erwirkt und sich endlich ganz dem Schreiben widmen kann. Es widerstrebt ihm zutiefst, in den Angelegenheiten der Leute wühlen zu müssen. Wie steht es aber mit seiner sozialen Verantwortung, die er in der Verbrechensbekämpfung übernommen hat?
Mario Conde als feinfühliger Mensch mit einer Lebenseinstellung, die beinahe die eines Schriftstellers oder Künstlers ist, ist eine sehr individualistische Person. Er hat seine Welt auf einige wenige Elemente reduziert, die diese Welt stabil halten. Dazu gehören sein Freundeskreis, seine Bücher und schließlich, in Das Meer der Illusionen, ein zugelaufener Hund. Auch Tamara, die Frau, die er immer geliebt hat, gehört dazu. Er schafft sich einen Mikrokosmos, in dem er der Mensch sein kann, der er ist. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist ihm wichtiger als die soziale Notwendigkeit seiner Arbeit. Seine Selbstfindung musste er viele Jahre aufschieben wegen einer Arbeit, die er eigentlich nie machen wollte. In Adiós Hemingway ist Mario Conde nicht mehr Polizist. Aber das Nachdenken darüber, was für ihn der Abschied von der Polizei bedeutet hat, findet sich erst in dem Roman, den ich gerade beendet habe und der vierzehn Jahre nach Condes Ausscheiden spielt. Er verlässt die Polizei 1989, und der neue Roman spielt 2003. Jetzt hat Mario Conde genügend Distanz, um außerhalb der Polizei zu einem neuen Selbst zu finden. Es stellt für ihn eine große Befriedigung dar, diesen Schritt vollzogen zu haben. Conde stand nie auf der Seite der Mächtigen, sondern im Gegenteil immer auf der der Unzufriedenen. Deshalb fühlt er sich besser, nachdem er die Polizei verlassen hat.
Eine der auffälligsten Eigenschaften Mario Condes ist seine Nostalgie, der große Schmerz, den er empfindet, wenn er an seine Jugendzeit denkt, die letzten Schuljahre im Gymnasium von La Víbora, als er und seine Freunde »arm und sehr glücklich waren«. Jeder der Freunde hatte große Zukunftspläne, aber die Hoffnungen der Jugendlichen wurden nicht erfüllt, und was zurückblieb, ist diese Nostalgie. Inwiefern repräsentiert Conde dadurch eine ganz bestimmte kubanische Generation und inwiefern wird hier eine conditio humana angesprochen?
El Conde ist nicht nur ein Enttäuschter, er ist auch ein Nostalgiker, der immer versucht, eine Welt zu rekonstruieren, die mehr imaginär als real ist. Denn die Erinnerung und die Nostalgie verändern immer unsere Sichtweise auf die Wirklichkeit. Diese idyllische und romantische Sichtweise verdankt Conde seiner Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die viel weiter zurückliegt als sein eigenes Erleben. Er sehnt sich nach einem anderen, früheren Leben, von dem er gelesen und gehört hat und das er auf diese Weise miterlebt hat. Er übernimmt die Nostalgie der anderen und empfindet sie, als wäre sie seine eigene. Zum Beispiel fasziniert ihn das Havanna der Fünfzigerjahre. Diese Eigenschaft von Mario Conde hat tatsächlich viel mit meiner Generation zu tun, der ersten Generation, die gänzlich innerhalb des revolutionären Kuba aufgewachsen ist und ihre Ausbildung gemacht hat. Im Revolutionsjahr 1959 war ich vier Jahre alt. Das heißt, beinahe mein ganzes bewusstes Leben hat innerhalb des revolutionären Prozesses stattgefunden. Meine Schulzeit beginnt erst nach dem Triumph der Revolution. Wir sind innerhalb dieses Prozesses aufgewachsen und waren Teil von ihm, da wir zuerst als Studenten und später, in den Achtzigerjahren, im Beruf direkt am Revolutionsprozess beteiligt waren. Unsere Weltanschauung und unser Denken wurden vom Leben im revolutionären Kuba geprägt. Als sich 1989/90 diese Wirklichkeit zu verändern begann, nicht nur in Kuba, sondern auch vor allem in Europa und der Sowjetunion, fingen wir an, die Wirklichkeit anders wahrzunehmen und eine neue, komplexere Sichtweise auf unsere eigenen Jahre in Kuba zu entwickeln. Dass zum Beispiel die Berliner Mauer – das materielle Zeichen dafür, dass es in der Welt zwei verschiedene Systeme gab – verschwinden könnte, hatten wir uns einfach nicht vorstellen können. Als die Mauer fiel, drangen Geschichten zu uns, von denen wir kaum glauben konnten, dass sie wirklich passiert waren. Das war natürlich ein großer Schock. Dazu kommt, dass Kuba in diesen Jahren eine schwere wirtschaftliche Krise durchlief. Kuba verlor seine Handelspartner, verlor die Unterstützung der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten, und wir haben hier richtiggehend gehungert. All das hat die Kubaner und im Speziellen die Kubaner meiner Generation aufgerüttelt. Es hat meine Generation an einem Punkt überrascht, an dem man auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten steht. 1990 war ich genau fünfunddreißig Jahre alt, das heißt, ich war am Höhepunkt meiner Möglichkeiten, die Ausbildung war abgeschlossen, ich war noch jung. Und dann bricht die Welt auf einmal auseinander. Zum Glück war die Literatur meine Rettung. In diesen Jahren habe ich sehr viel gearbeitet. Die Literatur hat mir einen emotionalen Rückhalt gegeben. Aber das verhindert nicht, dass meine Generation eine nostalgische Sehnsucht nach jener Zeit empfindet, in der wir glaubten, dass die Dinge besser sein würden.
Eine der Neuerungen in Ihren Kriminalromanen gegenüber den traditionellen Romanen des Genres in Kuba besteht darin, dass sowohl Opfer als auch Täter aus hohen Sphären der kubanischen Gesellschaft stammen und es sich um vermeintlich »vertrauenswürdige« Personen handelt. Wollen Sie die Verbrecher eher als Individuen darstellen oder mit ihnen auf Mängel im politischen System Kubas aufmerksam machen?
Das war ein wohlüberlegter Vorsatz. Ich wollte nicht, dass die Verbrecher in meinen Romanen einfache Straßengauner sind. Ich habe versucht, die Verbrechenswelt in einen anderen Sektor der Gesellschaft zu verlegen, und zwar in den Sektor dieser Tadellosen, dieser Perfekten, die, wenn sie ein Verbrechen begehen, es in größeren Dimensionen tun und damit viele Personen in Mitleidenschaft ziehen. In den früheren kubanischen Kriminalromanen waren die Guten und die Bösen deutlich unterscheidbar. Die Verbrecher waren schlecht, die Polizisten gut, die Agenten des Feindes schlecht, die Agenten der Staatssicherheit gut. All das wollte ich umkrempeln. Deswegen gibt es bei mir korrupte Polizisten und verbrecherische Minister oder Vizeminister wie Rafael Morín aus Ein perfektes Leben.
Doris Wieser sprach mit Leonardo Padura am 8. November 2004 in der Casa de las Américas in Havanna.