Als meine viel zu früh verstorbene Kollegin Doris Morf und ich uns vor dreißig Jahren daranmachten, ältere Menschen nach ihren persönlichen Erlebnissen während der deutschen Besetzung unseres Landes zu befragen, da war der Bergier-Bericht noch nicht erschienen und das Selbstbild der Schweiz als unschuldiges Opfer nationalsozialistischer Aggression noch durch nichts erschüttert. Man wollte sich – wie es auch heute noch vereinzelt der Fall ist – an die Jahre zwischen 1940 und 1945 am liebsten überhaupt nicht erinnern und schon gar nicht darüber sprechen. Auf unserer Suche nach auskunftswilligen Gesprächspartnern stießen wir damals oft auf schroffe Ablehnung, und es brauchte eine Menge Überzeugungsarbeit, bevor wir uns ans Protokollieren der Geschichten aus einer verdrängten Zeit machen konnten.
Drei Jahrzehnte später, zu einem Zeitpunkt, wo sich die Schweiz darauf vorbereitet, die 70. Wiederkehr der Neuproklamation der Eidgenossenschaft am 27. April 1945 würdig zu begehen, scheint es angebracht, diese Erinnerungen dem Lesepublikum noch einmal vorzulegen. Von unseren Auskunftspersonen, von denen schon damals die meisten im AHV-Alter waren, ist kaum mehr jemand am Leben, und die jüngste Generation von Schweizerinnen und Schweizern hat keine Möglichkeit mehr, sich aus erster Hand über eine Zeit zu informieren, in der Negatives und Positives, Kollaboration und Widerstand so eng verzahnt nebeneinander existierten, dass jedes pauschalisierende Urteil über jene düstere Ära notwendigerweise falsch sein muss.
Seit das Buch zum ersten Mal erschien, hat sich unsere Haltung zur traurigsten Periode der eidgenössischen Geschichte in einzelnen Punkten verändert. Aber die Zielsetzung, die Doris Morf und ich damals formulierten, scheint mir, wo die direkten Erinnerungen immer mehr verblassen, heute so wichtig zu sein wie damals: die große Geschichte durch die Geschichten des »kleinen Mannes« lebendig und nachvollziehbar zu machen.
Für die Neuauflage wurden an den Berichten, die wir damals gesammelt haben, keine Änderungen vorgenommen. Das gilt auch für jene Fälle, wo historische Ereignisse offensichtlich falsch dargestellt werden. Historische Werke über die Zeit des Anschlusses an das Dritte Reich gibt es genügend; Hitler auf dem Rütli soll zeigen, wie einzelne Menschen diese Zeit erlebt haben – oder wie sie sich im Nachhinein zu erinnern glaubten, sie erlebt zu haben.
Charles Lewinsky