Ihr Roman Das verborgene Leben der Pflanzen entfaltet eine starke symbolische Aura, vor allem rund um den Wald, die Bäume – und vor allem bei der Beschreibung der beiden Bäume, die sich im öffentlichen Park von Namcheon gewissermaßen umschlingen und umarmen.
Dass ich den Bäumen eine solche Bedeutung zuschreibe, hängt sicher mit meiner Beziehung zur griechischen Mythologie zusammen. Der Park Namcheon ist ja bereits für sich ein symbolgeladener Raum. Ein magischer Ort, wie man ihn zum Beispiel in Märchen und Sagen findet. Ich habe diesen Ort geschaffen, damit die Personen meiner Romane aus der realen Welt fliehen und sich ihren existenziellen Lebensnöten stellen können. Namcheon ist also ein Erzähltrick, den ich mir zugunsten meiner Figuren ausgedacht habe. Damit dieser Ort seine Magie entfaltet, musste auch der Baum dort ungewöhnlich sein. Er musste gewissermaßen die Liebe symbolisieren, mit all ihrer Kraft, Hindernisse zu überwinden. Darum habe ich auch die Palme gewählt: Dieser Baum ist in Korea sehr selten. Außerdem ist die Palme auf eine ungewöhnliche Weise nach Namcheon gekommen. Aber was ich im Roman erzähle, ist kein Märchen: Es ist ja durchaus möglich, dass ein Baumsamen aus einem fernen Land an der koreanischen Küste strandet. Jedes Mal, wenn ein Taifun wütet – und im Sommer ist das sehr häufig – findet man an den Stränden bizarre Objekte: Trümmer von Baumstümpfen, Pflanzen von fernen Ufern …
Der Wald ist allgegenwärtig in Ihrem Roman. Im Westen symbolisiert er oft den Mutterschoß. Ist das auch in Korea so?
Nein, nicht wirklich. Koreaner sehen eher den Berg als den Ort, wo die Wesen empfangen werden. Er hat diese mütterliche Konnotation. Allerdings habe ich selbst durchaus an den Wald als mütterliches Element gedacht, aber vermutlich eher wegen meiner Vertrautheit mit der griechischen Mythologie.
Die Figur des Vaters im Roman hat mich sehr beschäftigt. In der Handlung tritt er selten auf, hat aber eine sehr wichtige Rolle. Nur er kann mit den Pflanzen sprechen, dabei ist er sehr wortkarg …
Der Vater ist gewissermaßen wie der mythologische Weltenbaum, auf dem der Himmel ruht. Er ist auch mit der Palme verbunden, die hier die vollkommene Liebe symbolisiert. Er steht im Mittelpunkt der verschiedenen Liebesgeschichten, um die sich die Handlung dreht. Er verbindet die Pflanzenwelt mit der Sphäre der Menschen. Er ist es ja auch, der Ki-Hyeon den Rechercheauftrag gibt. Also steht er am Anfang und im Mittelpunkt der Geschichte. Korea ist noch sehr in seinen alten Traditionen verankert, und die sind deutlich patriarchal. Ich wollte, dass mein Roman diese Realität spiegelt. Aber inzwischen beginnt auch dies, sich allmählich zu ändern …
Aber die Mutter hat ja auch eine herausragende Rolle: Sie hat die schwierigsten Aufgaben, auch die härtesten, zum Beispiel, wenn sie ihren ältesten Sohn ins Bordell führt.
Im realen Leben lasten alle häuslichen Aufgaben auf den Müttern. Sie sind der Mittelpunkt und halten die Familie zusammen. Was in diesem Roman die Beziehung zum ältesten Sohn betrifft: Er ist ja der Sohn jenes Mannes, den sie über alles geliebt hat, auch wenn diese Liebe unmöglich und unlebbar war. Dieser Sohn ist wie eine Reinkarnation ihres Liebhabers. Darum widmet sie sich ihm mehr als ihrem Gatten.
Warum haben Sie aus der Perspektive von Ki-Hyeon geschrieben?
Weil die Frage der Schuld in dieser Geschichte die entscheidende ist. Nur aus der Perspektive von Ki-Hyeon konnte ich sie wirklich darstellen. So konnte ich eine komplexe Struktur finden und musste nicht einfach linear erzählen. Ki-Hyeon ist ja verantwortlich für den Zustand, in dem sein großer Bruder sich befindet. Und indem ich beschrieb, was U-Hyeon erlitt, wollte ich aufzeigen, wie die soziale Unterdrückung und die politischen Kämpfe des damaligen Korea über das Leben der Individuen hereinbrachen.
Die schwierigen politischen Verhältnisse liegen wie eine Folie über Ihrem Roman. Die Fotografie spielt hier die zentrale Rolle – so wie U-Hyeon sie vor seiner Einberufung in die Armee praktizierte. Was bedeutet das Fotografieren für Sie, warum haben Sie es ins Zentrum des Romans gestellt?
Für U-Hyeon ist das Fotografieren eine ethische, moralische Sichtweise auf die Welt. In den dunklen Jahren, in denen der Roman teilweise spielt, war nicht nur die Fotografie, sondern auch die Literatur und alle anderen Künste daran beteiligt, Zeugnis abzulegen und sich gegen die politische Unterdrückung zu engagieren. Wenn ich die Fotografie ins Zentrum gestellt habe, dann nur, um zu zeigen, wie alle Formen des künstlerischen Ausdrucks sich in jenen Jahren dem Kampf für die Freiheit verschrieben haben.
Ki-Hyeon hofft aber, dass sein Bruder wieder damit beginnt, eher künstlerische Fotos zu machen, indem er Sun-Mi fotografiert.
Ja, ich wollte zeigen, dass die rein ästhetische Dimension in jenen Jahren in den Hintergrund getreten war, dass die private Sensibilität und der Sinn für die Schönheit damals erstickt wurden. Ich wollte also ausdrücken, dass nach dem Ende der Repression die Suche nach dem Schönen wieder möglich wurde. Vielleicht wollte ich auch meine Leser auffordern, nach all dem zu suchen, was sie angesichts der politischen und sozialen Probleme beiseitegeschoben hatten.
Ihr Roman endet mit einer Reihe von Wiederbegegnungen und schließt mit einem Traum.
Am Ende erkennt jeder das geheime Leben der anderen. Die Figuren öffnen sich einander, lernen sich jetzt erst richtig kennen und kommen gewissermaßen zur Ruhe. Dies aber erst nach schmerzhaften Verwicklungen. Der Weg kann ja sehr lang sein bis zu dem Punkt, an dem die Menschen in einer Familie sich einander wirklich öffnen können.
https://lelitterairecom.wordpress.com/2012/09/17/entretien-avec-lee-seung-u-la-vie-revee-des-plantes/