Wie kommt es bloß, dass diese grausame Geschichte von so viel Schönheit erzählt, ja sogar Glücksgefühle auslöst? Raami beobachtet in ihrer Gefangenschaft »Flammenbäume in voller Blüte« und Reisfelder mit »kniehohen Halmen so geschmeidig wie die Haare eines Babys«. Den Sonnenaufgang beschreibt sie als »rosafarbenen Schleier des Himmels, der sich die Farbe der Lotusblumen lieh«. Vaddey Ratner erzählt durchgehend aus der Perspektive des Kindes (wohlgemerkt eines Kindes mit einer Vorliebe für Poesie). Raami stellt sich »kleine Tevoda-Kinder vor, die in den bauchigen Wolken über uns schwebten und mit den Spitzen ihrer goldenen Speere testeten, ob sie schon reif waren«. Ein geplündertes Haus sieht sie als Folge eines Drachenangriffs. Sie betet zum Regime, als sei es Gott.
In Interviews hat Vaddey Ratner erklärt, dass sie sich entschied, lieber einen Roman als Memoiren zu schreiben, weil sie damals zu jung war, »um Details zu erinnern«. Als fiktionales Werk ist Im Schatten des Banyanbaums weniger ein Zeugnis von Hass als eine Aussöhnung mit der Vergangenheit. Einmal erzählt Raamis Kindermädchen, dass Geschichten sind »wie Fußspuren der Götter. Sie führen uns vor und zurück durch Zeit und Raum und verbinden uns mit dem ganzen Universum«. Hier herrscht kein Zorn, sondern eine fast unerschöpfliche Kraft zum Mitgefühl.
Ligaya Mishan, New York Times
Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da entschied sich Vaddey Ratner zu schweigen. Als sie elf Jahre alt war, hatte die Herrschaft der Roten Khmer ihre Welt auf Hunger, Angst und Verlust reduziert. Sie wollte nicht darüber sprechen. Ratner war ein lebendiges Skelett, das auf den Reisfeldern Kambodschas arbeitete, während der Tod ihre Familie, ihre Heimat und ihre Seele verschlang. Heute ist Vaddey Ratner 41 Jahre alt, eine kleine Frau mit hohen Wangenknochen und tiefbrauenen Augen. Sie sieht perfekt und königlich aus, obwohl sie als Folge einer Kinderlähmung hinkt. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße in Potomac, wo es nichts gibt, das sie vom Schreiben ablenkt. Auf eine besondere Art schreibt sie seit mehr als 35 Jahren an ihrer Geschichte.
Ihr Buch ist ein Versuch, in Kontakt mit den Seelen der Verstorbenen zu bleiben, indem sie ihre Erinnerungen zum Leben erweckt. »Es gibt keinen Grund dafür, dass ich überlebt habe oder ein Mensch wie mein Vater gestorben ist«, sagt Ratner mit Tränen in den Augen. »Aber ich glaube daran, dass ein Teil von ihm in mir weiterlebt – und dass diejenigen, die das Buch lesen, sich an meinen Vater und die anderen Toten erinnern werden. Ich hatte Angst, dass man sie vergisst.«
Ratner und ihre Mutter lebten nach der Flucht in die USA zunächst in Missouri und später in Minnesota, wo Ratner mit zwei Halbschwestern, die ihre Mutter nach dem Krieg zur Welt brachte, aufwuchs. Während der letzten Monate unter den Roten Khmer war Ratner stumm geworden. »Ich entschied mich für das Schweigen, weil ich nicht in Worte fassen konnte, was ich da sah«, sagt sie. Aber in den USA lernte sie Englisch und redete pausenlos. »Mir wurde diese Sprache geschenkt, die nichts mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Ich hatte die Freiheit, eine neue Stimme, eine andere Ausdrucksweise zu entwickeln. Ich konnte sein, wer ich wollte.«
Ratner gehörte zu den besten Absolventen ihrer High School und studierte im Anschluss südostasiatische Geschichte und Literatur an der Cornell University. 1992, mit 21 Jahren, kehrte sie zurück nach Kambodscha. Sie wollte sichergehen, dass ihr Vater nicht irgendwie überlebt hatte und auf sie wartete. »Ich wollte von mir selbst sagen können: Ich bin zurückgegangen, sobald ich die Möglichkeit dazu hatte.« Natürlich war er nicht da. »Und das zerstörte erneut alles.« Schon früh dachte sie darüber nach, ihre Geschichte aufzuschreiben. »Ich hatte das Gefühl, erklären zu müssen, warum ich überlebt habe, während viele meiner Familienmitglieder gestorben sind.«
Ellen McCarthy, Washington Post