Die Figuren in Raja Alems Roman »Das Halsband der Tauben« sind begierig danach, die Mauern zu durchbrechen, die sie von Mekka trennen, und möchten die Fenster zur Welt öffnen – sowohl materiell als auch spirituell.
Raja, die Autorin, ist in den Welten Mekkas zu Hause. Für sie ist Mekka ein kraftvolles Universum, das sich über Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft erstreckt, eine Welt, die jenen fremd ist, die Dinge nur schwarz oder weiß sehen oder die ignorieren, was unter der Oberfläche liegt.
Rajas Mekka ist ein Ort vieler Dinge und ihrer Gegensätze: Aufrichtigkeit und Schwindel, Wohlstand und Armut, architektonische Schönheit und Hässlichkeit, Geflüster der Vergangenheit und Angriff der Zukunft. Realität ist in diesem Roman eine Mischung aus Geschichte, Gegenwart und Fantasie. Einige Figuren sind aus Fleisch und Blut, andere sind das Produkt von Träumen. Haupterzähler ist nicht die Autorin, auch keine ihrer menschlichen Figuren. Es ist eine Gasse in Mekka, »Abu Al-Roos«, die Vielkopfgasse, wo ihre Figuren leben. Wenn die menschlichen Figuren zu Wort kommen und ihre Geschichte erzählen, wird sie mehr zur Offenbarung als zur Erzählung.
Die Augen der Gasse sind weit geöffnet, wenn andere, die Polizei eingeschlossen, zu Bett gehen. Deshalb bekommt sie mehr von all dem mit, was geschieht. Der Inspektor ist nicht in der Lage, den Mörder der jungen Frau zu finden, die nackt in einer der Straßen entdeckt wird und um die sich der Plot spinnt. Aber kennt ihn die Vielkopfgasse? Selbst wenn die Gasse den Mörder kennt, wird sie das Geheimnis nicht lüften. Es gibt nur Hinweise, denen der Leser verzweifelt zu folgen versucht, ohne je Sicherheit zu gewinnen. Die Autorin spielt uns einen Streich, indem sie vorgibt, selbst nach dem Mörder zu suchen. Doch sobald wir denken, den Mörder zu erkennen, führt sie uns wieder weg vom Tatort auf eine neue Fährte.
Das Verbrechen ist komplex und der Mörder hat mehrere Köpfe. Wer Sicherheit sucht und unerkannt bleiben will, muss unkonventionelle Fluchtwege suchen. Konfrontation bringt keine Lösung. Der Raum, in dem sie gefangen sind, ist eng und dunkel. In Aishas Zimmer gibt es kein Fenster und das Licht, das eindringt, kommt aus ihrer Erinnerung — eine Reise nach Deutschland und eine Liebesgeschichte. Oder aus dem virtuellen Raum (durch E-Mails an ihren deutschen Liebhaber) oder aus Welten, die durch reine Imagination eröffnet werden (die Romane von D. H. Lawrence).
Auch die Vergangenheit ist eine Fluchtroute. Der Geschichtsstudent Jussuf wählt sie als Weg, um in eine mächtige spirituelle Welt zu gelangen.
Das Halsband der Tauben ist eine Reise durch Raum und Zeit, ein Versuch, materielle Hürden zu durchbrechen, indem virtuelle oder spirituelle, manchmal auch intellektuelle Freiräume geschaffen werden. Die Figuren sind von Mauern eingeschlossen, und ihr Leben wird von Traditionen, Legenden, strengen gesellschaftlichen Verboten und dem wirtschaftlichen System und seinen Mächten bestimmt. Manche entscheiden sich, an dem Ort zu bleiben, den das Schicksal ihnen zugewiesen hat. Andere entscheiden sich auszubrechen. Sie weigern sich, Gefangene ihrer Lebenswelt und der aufgezwungenen Naturgesetze und gesellschaftlichen Regeln zu bleiben. So wird dieser Roman zur einer Reise zu den Freiheiten der Seele und ihrer uneingeschränkten Kraft.
Aus: http://www.arabicfiction.com