(Aus: www.motherjones.com)
Jamaica Kincaids Büro am Claremont-McKenna-College, wo sie Professorin für Literatur ist, ist voller Hinweise auf ihre politischen Ansichten. Dort steht eine Obama-Tasse, eine Statuette des Lincoln Memorials und – »nur zur Provokation«, wie sie sagt, – eine Miniaturbüste von Karl Marx. Als ich sie ein paar Wochen vor der Wahl besuchte, um ein Interview mit ihr zu machen, und das Thema unvermeidbar aufkam, machte Kincaid abrupt eine Pause und sah schockiert auf ihre Kleidung: »Ich trage mein Obama-Shirt nicht«, schrie sie. »Ich musste mich morgens beeilen. Das ist eine ernste Sache – es ist ein Talisman. Ich trage es jeden Tag.«
Ihre politische Sensibilität ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, welche wichtige Rolle die Themen Klasse und Herkunft in ihrem Werk einnehmen – einmal ganz abgesehen von ihrer eigenen Lebensgeschichte. Kincaid wurde als Elaine Potter Richardson im kolonialen Antigua geboren und von ihrer Familie, die kaum Geld hatte, mit 16 Jahren in die USA geschickt, um als Au-Pair-Mädchen in Scarsdale, einem schicken Vorort von New York City, zu arbeiten. Mit 25 hatte Kincaid einen Job beim New Yorker ergattert, wo sie zwanzig Jahre bleiben sollte. Mittlerweile ist sie 63 und hat ein Dutzend Bücher geschrieben, unzählige Preise gewonnen und ist dabei auch noch hip geblieben: Sie ist süchtig nach Game of Thrones und Homeland, und wenn ihr Handy klingelt, hört man »Ni**as in Paris« von Jay-Z und Kanye.
Ihr neues Buch Damals, jetzt und überhaupt zeigt, wie aktuell sie wirklich ist. Ihr erster Roman seit zehn Jahren basiert lose auf der Scheidung vom Komponisten Allen Shawn (dem Sohn von William Shawn, ehemaliger Herausgeber des New Yorker). Es ist eine nüchterne, moderne Analyse eines Ehelebens, das vom Nachbarn, der sich als Transvestit verkleidet, bis zum Nintendo-süchtigen Sohn alles einschließt. In unserem ausführlichen Interview sprach Kincaid über ihre Defizite als Mutter, die Konversion zum Judentum und ihre kurze Karriere als Background-Sängerin für eine bekannte Drag Queen.
Mother Jones: Es gibt im Internet viele Theorien, warum Sie Ihren Namen geändert haben, als sie mit dem Schreiben begonnen haben.
Jamaica Kincaid: Oh Gott, das Internet! Der Grund war, dass ich über meine Familie geschrieben habe, im Besonderen über meine Mutter, und ich wollte nicht, dass sie es erfuhr. Außerdem dachte ich, dass ich scheitern würde. Ich hatte immer Angst davor, dass sie von meinen Misserfolgen erfahren würde.
Warum Jamaica?
Das hatte irgendwie Stil. Das war eine Zeit in meinem Leben, in der ich mich besonders für Frivolitäten interessierte. Ich trug mein Haar sehr kurz und bleichte es, ich rasierte mir die Augenbrauen ab und zog sie mit einem Eyeliner nach und ich trug Kleidung aus den 20ern und 30ern. Ich war eine Art Kunstfigur. Ich verbrachte Stunden damit, mich anzuziehen. Dann ging ich in die Büroräume des New Yorker – ich hatte gerade begonnen, als Autorin für »Talk« zu schreiben – und hing mit meinen Freunden Ian Frazier und George Trow herum. Dann gingen wir einen trinken. Es ging nur darum, sich selbst darzustellen. Es existieren allerlei Fotos aus dieser Zeit. Es wundert mich, dass man nichts im Internet findet – zum Glück. Um Ihnen zu zeigen, wie dumm ich war: Ich war Background-Sängerin für die Drag Queen Holly Woodlawn – sie war eine von Andy Warhols Superstars. Damals wollte ich Background-Sängerin werden. Keine richtige Sängerin, ich kann nämlich gar nicht singen.
Weshalb sind Sie Schriftstellerin geworden?
Wer mich von Kindesbeinen an kannte, war nicht überrascht, dass ich Schriftstellerin geworden bin, weil ich immer geschrieben habe. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, geschrieben zu haben, weil ich das noch gar nicht wirklich konnte. Ich habe vermutlich so getan habe, als wäre ich Schriftstellerin. Ich liebte es zu lesen und ich tat so, als hätte ich die Bücher, die ich las, geschrieben. Als ich zehn Jahre alt war, tat ich eine ganze Zeit lang so, als wäre ich Charlotte Bronte, nachdem ich Jane Eyre gelesen hatte.
Wie haben Sie das angestellt?
In der Autorenbiografie stand, dass sie als Kindermädchen in Belgien gelebt hatte, dass sie sehr arm war und es ihr richtig schlecht ging. In der Hitze von Antigua zog ich mir ganz viel an, tat so, als wäre mir kalt, als wäre ich völlig allein in Belgien und als hätte ich Jane Eyre geschrieben und niemand würde es lesen. Und mein Leben hat das dann nachgeahmt: Ich endete in einer kühlen Gegend als Schriftstellerin, arm und als Kindermädchen!
Wie haben Sie anfangs in New York überlebt?
Ich habe bei Freunden auf der Couch übernachtet. Sie warfen mich irgendwann hinaus. Bevor ich mit dem Schreiben anfing, arbeitete ich als Empfangsdame. Ich versuchte, bei verschiedenen Magazinen unterzukommen, aber niemand wollte mich, weil ich nicht richtig tippen konnte und weil man keine jungen schwarzen Frauen beschäftigte. Aber ich habe das nicht wirklich verstanden. Ich habe den Rassismus nicht wirklich verstanden, weil ich in einer schwarzen Gesellschaft aufgewachsen bin, deshalb war es mir ein Rätsel, wie es möglich war, mich nicht zu mögen (lacht). Ich habe nichts Gesetzeswidriges getan, sonst würde ich es Ihnen sagen.
Hatten Sie kein Laster?
Doch, LSD, eindeutig.
Wie haben Sie George Trow vom New Yorker kennengelernt?
Ich traf Michael O'Donoghue, den Herausgeber des National Lampoon, im Aufzug. Wir kamen ins Gespräch und er sagte: »Ich kenne jemanden, der dich sehr mögen würde.« Und er stellte mich George vor, der mich wie eine Schwester behandelte. Er fand mich witzig, deshalb nahm er mich zu Veranstaltungen mit. Ich sagte etwas, und er schrieb es auf. Und was ich sagte, erschien im »Talk of the Town«. George schrieb: »Wir waren mit unserer kecken schwarzen Freundin Jamaica Kincaid hier oder dort«. Der Rest der Kolumne bestand daraus, was ich gesagt hatte (lacht). Und eines Tages fragte er: »Möchtest du [den Chefredakteur] Mr. Shawn kennenlernen?« Ich hatte keine Ahnung, wer Mr. Shawn war, und sagte ja. Mr. Shawn sagte, ich könne für das Magazin schreiben. Ich schrieb etwas auf, eigentlich mehr Notizen für mich und ein paar Gedanken. George gab Mr. Shawn den Zettel und er publizierte genau das, was ich geschrieben hatte. So hat alles angefangen.
»Kecke schwarze Freundin«, hat Sie das nicht gestört?
Überhaupt nicht! Ich wurde sehr streng erzogen – wie eine Art schwarze Kolonialversion eines unterdrückten Engländers. Lustig und keck und schwarz – das gefiel mir. Ich wollte als Kind immer Afro-Amerikanerin sein – und Schriftstellerin. Ich liebe afro-amerikanische Ausdrucksformen. Ich wollte immer, dass mein Haar aussieht wie das eines Modells im Ebony-Magazin.
Mögen Sie Hip-Hop?
Ich liebe Hip-Hop. Erinnern Sie sich, als Kanye West einmal pro Woche einen Song veröffentlichte? Mein Sohn schickte mir die Songs regelmäßig, weil wir sie beide mochten. Wissen Sie noch, als Mrs. Gore und diese andere Senatorengattin sich abwertend über Rap-Texte äußerten? Sie war entsetzt von den Songtexten, so wie viele Eltern – diese Sorgen hatte ich nie.
Nicht einmal wegen der frauenverachtenden Texte?
Ich werde Frauenfeindlichkeit im Hip-Hop sicher nicht verteidigen. Aber es hat mich nicht derart beschäftigt wie etwa das Hustler-Magazin. Die amerikanische Gesellschaft ist wirklich witzig: Die Kultur der Weißen darf alles und kommt damit durch, aber sobald es eine schwarze Person tut, wird etwas hineininterpretiert.
In Ihren Werken finden Frauen ihre Stärke in ihrer Weiblichkeit – in ihren eigenen Körpern und in ihrem Geschlecht.
Man sagt doch über Männer, dass ihr Zuhause für sie wie ein Schloss ist. Bei Frauen ist das ihr Körper. Das Recht einer Frau, selbst zu entscheiden, ist mir sehr wichtig. Das ist mein Zionismus. Es ist wie das Recht zu atmen. Eine Frau ist machtlos, wenn sie nicht über ihre eigene Fortpflanzung entscheiden darf. Die Gesellschaft kann über alles sprechen, aber nicht über das Dasein der Frau als Reproduktionswesen. Ich denke, aus diesem Gefühl heraus schreibe ich.
Wie kam es, dass Sie zum Judentum konvertiert sind?
Oh, darüber rede ich nicht besonders viel. Ich habe einen Juden geheiratet und wir haben gemeinsam Kinder bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihr Leben vollständiger machen würde, wenn sie mit dem Wissen über jüdische Traditionen aufwachsen würden.
Waren Sie vorher religiös?
Ja. Ich wurde als wesleyanische Methodistin erzogen. Und ich habe tatsächlich die ganze Bibel gelesen. Aber das Neue Testament mochte ich nie. Es geht mir zu sehr um einzelne Personen – wie eine frühe Form des People-Magazins. Ständig dieses »Und dann hat er zu mir gesagt. Und dann hat er zu dir gesagt. Und dann hat er das getan! Und ich mochte ihn. Er mochte mich am liebsten. Er war näher dran. Und wir waren beste Freunde. Und dort haben wir uns getroffen.« Ich habe es nie gemocht!
Die Sweets, das Paar im neuen Roman , ist Ihnen und Ihrem Ex-Mann nachempfunden, richtig?
(lacht laut)
Ich weiß, der Roman ist nicht autobiografisch, aber ...
Ja, es gibt einige Ähnlichkeiten. Wissen Sie, man schreibt diese Dinge mitten in der Nacht in der Prosa der eigenen Gedanken auf und man vergisst, dass es bedeutsam sein wird. Alles, was ich schreibe, ist autobiographisch, aber nichts davon ist genau so passiert – Sie wissen doch, eine Lüge ist nur eine Lüge. Die Wahrheit ist kompliziert. Es ist wahr, dass ich Schriftstellerin bin, dass ich mit einem Komponisten verheiratet war und dass ich in einem Städtchen in Neuengland gelebt habe. Aber meine Kinder heißen nicht Herakles und Persephone, und meine Tochter verschwindet nicht alle sechs Monate in der Unterwelt und taucht im Frühling wieder auf.
Haben Sie vom Standpunkt einer Frau geschrieben, deren eigene Ehe gerade geschieden worden war?
Ich glaube schon. Ich denke, dass ich versucht habe zu verstehen, wie das passieren kann. Es ist wie bei einem Unfall – du nimmst das Telefon ab, jemand sagt »Ihre Mutter ist tot. Ihr Auto ...«. Ich habe nie damit gerechnet, dass das Alltägliche plötzlich zu einem Unfall werden kann. Plötzlich gehst du die Treppen hinunter und der Kiefernboden ist eine Kiesgrube. Ich habe versucht zu verstehen, wie das Alltägliche plötzlich zum Unerwarteten wird.
Haben Sie Angst vor dem Moment, in dem Ihr Ex-Mann das Buch lesen wird?
Nein (lacht). Überhaupt nicht. Bis Sie es erwähnt haben, ist mir nie aufgefallen, dass es um jemanden geht, den ich kenne. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass sie nie etwas von mir liest. Das war großartig, weil ich so viel über sie schreiben konnte, wie ich wollte. Und meine Kinder interessieren sich nicht für meine Bücher. Ich war immer froh, dass sie mich nicht als Schriftstellerin gesehen haben. Ich schätze, Kinder sehen ihre Eltern nicht als besonders versiert an; sie denken nur: »Oh, da ist Mum.«
Herakles und Persephone ärgern sich über ihre Mutter, weil sie so viel schreibt.
Nun ja, ich wurde nachdenklich, als die Kinder einmal sagten: »Du hast uns immer zu spät vom Bus abgeholt.« Sie erinnern sich daran, wie ich verschwunden bin und viel geschrieben habe. Ich hingegen erinnere mich daran, immer zu wenig Zeit gehabt zu haben. Das Zimmer, in dem ich schrieb, war neben der Küche. Denn obwohl sie ein Kindermädchen hatten, wollte ich wissen, was sie machten und mich nicht abschotten. Ich erinnere mich an etwas, was Nora Ephron einmal gesagt hat: Alles, was gut für dich ist, ist schlecht für deine Kinder. Das habe ich nie vergessen. Ich denke, dass es sich für meine Kinder in mancher Hinsicht so anfühlte, als sei mein Erfolg nicht mit ihrem völligen Wohlbefinden vereinbar. Ich glaube, dass viele Mütter sich so fühlen. Aber so ist das eben. Es spricht nichts dagegen, »alles zu haben« – das Leben ist nicht einfach.
Sie sind bekannt für Ihren ausgefallenen Satzbau. Es gibt einen Satz im neuen Buch, der zwei Seiten lang ist.
Das ist fabelhaft! Ich hoffe, die Perspektive ändert sich darin. Dafür bin ich bekannt.
Machen Sie sich Sorgen, dass das Ihre Leser abschrecken könnte?
Ich könnte nie schreiben, wenn ich den Leser im Kopf hätte. Das sage ich meinen Studenten ständig. Wenn ich etwas tun wollte, bei dem ich die Reaktionen der Leute im Hinterkopf behalten müsste, würde ich Mitt Romney werden – über ihn sage ich am liebsten gemeine Dinge. Warum sollte man sich dem Schreiben widmen, wenn man dabei die Reaktionen der Leute im Hinterkopf hat?
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