Eine Nachbemerkung
Ich fahre oft und gern mit der Bahn. Spannender als jedes Buch, das ich auf eine Zugreise mitnehme, sind die Geschichten, die meine Mitreisenden mit sich tragen. Wir haben uns daran gewöhnt, immer nur auf der obersten Tonspur zu kommunizieren, gern die immer gleiche Platte aufzulegen, die Politik zu beklagen, das Wetter, die wirtschaftlichen Verhältnisse. Aber das wirklich Interessante liegt darunter verborgen, und das wird nur offenbar, wenn wir unserem Gegenüber zuhören und neugierig sind auf die Erfahrungen des anderen. Und dann passiert das Wunder. Jeder ist bereit, einmal etwas Besonderes zu erzählen, sich zu öffnen.
Das ist der Moment, bei dem ich es kaum noch wage, nachzufragen, einen Hustenreiz unterdrücke und fast das Atmen einstelle, um meinen Gesprächspartner nicht bei seinen Gedanken zu stören.
Nach solchen Zugfahrten habe ich oft das Gefühl, viel gelernt zu haben. Seit Jahren erzähle ich dann meiner Familie und meinen Freunden, was ich erlebt habe. Wenn eine Geschichte mich besonders berührt hat, mache ich Notizen. So haben sich viele kleine schwarze Bändchen mit kurzen Aufzeichnungen gefüllt.
Wie aber wurde aus den Geschichten ein Buch? An einem Abend, ich saß gerade auf meinem Balkon mit einem Glas Wein, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass eine der Personen an meinem Ärmel zupfte. Es war Nama, der unbedingt festgehalten werden wollte. Was soll das jetzt, murrte ich, ging aber zu meinem Notebook. Gegen ein Uhr morgens hatte ich ihn im Kasten und druckte die Geschichte aus. Dann ging ich wieder auf den Balkon, prostete mir zu und trank meinen Wein aus. Ich hatte Geburtstag.
Am nächsten Tag, im Kreis meiner Freunde, fiel mir der Text wieder ein, und ich las ihn vor. Dadurch veränderte sich der Abend in einer Weise, die ich nicht vorhergesehen hatte. Wir spekulierten darüber, wie es Nama wohl weiter ergehen wird, und jeder berichtete über eigene Begegnungen und Geschichten aus der Bahn. Von da an saß ich regelmäßig am Computer und schrieb. Fast täglich stupste mich die eine oder andere Figur aus meinem Notizbüchlein an, die offenbar auch ihre Geschichte erzählen wollte. Manchmal konkurrierten sie auch untereinander. So war ich abends auf meinem Balkon alsbald von einem bunten Trüppchen verschiedener Charaktere umgeben, denen ich längst Namen gegeben hatte, um mit ihnen zu kommunizieren.
Was aber ist das Besondere an Begegnungen unterwegs? Es hat wohl mit der unvergleichlichen Situation während einer Bahnfahrt zu tun. Zum einen ist die Frist des Zusammenseins kurz und beschränkt. Jeder hat zudem die Freiheit, aufzustehen und den Platz zu wechseln, auszusteigen aus einer Situation, falls sie unbehaglich wird. Diese Szenerie macht das Bahnabteil zu einem Raum, in dem Begegnungen möglich sind. Je nach Sitzplatz, Großraum oder Abteil, bieten sich unterschiedliche Konstellationen. Im Großraumwaggon neben einer einzelnen Person oder im Speisewagen ergibt sich ein Zwiegespräch. In einem Zugabteil oder an einem Tisch mit mehreren Personen bilden sich Gruppen mit einzigartigen Interaktionen. Wer neugierig ist auf Menschen, wird hier reich beschenkt.
Ich danke allen, denen ich im Zug begegnet bin und die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Da ich sie natürlich aus den Augen verloren habe, konnte ich sie nicht fragen und hoffe inständig, dass ich keinem auf die Füße getreten bin.
Wiesbaden, den 22. April 2013
Sia Bronikowski