Ein kleines Buch, aber eine Bombe. Überwältigend. Unbedingt lesenswert. Unverzüglich. Ich habe bisher in Georgien über den Krieg nichts Vergleichbares gelesen. Meine allerherzlichste Empfehlung.
Das Sujet hat alle Voraussetzungen, sich zu einer sentimentalen, auf die Tränendrüsen drückenden Erzählung auszuwachsen. Doch Tamta Melaschwilis Buch ist erstaunlich frei von Sentimentalitäten. Der spröde, zurückhaltende Stil, die originelle Rekombination von direkter und indirekter Rede lassen die Authentizität und das Dokumentarische der Geschehnisse besonders hervortreten. Vor allem aber ermöglicht die ungewöhnliche Erzählform dem Leser auch Distanz. Linguistisch gesehen gibt es in der jüngsten georgischen Literatur kaum Vergleichbares. Melaschwilis Sprache bedient sich weder eines bestimmten Dialekts noch auf eines konkreten Slangs oder des sogenannten literarischen Georgisch. Ihre neutrale Sprache schützt den Text vor unnötiger Konkretisierung und verleiht ihm Allgemeingültigkeit.
Tamta Melaschwili stellt tausendmal Gesehenes und Gelesenes (von real Erlebtem ganz zu schweigen) auf ganz neue Art und Weise dar. Der traditionell maskulinisierte militaristische Diskurs wird hier den Frauen überlassen, vielmehr Heranwachsenden, die Frau spielen. Das Buch erzählt offen von den Fantasien zweier pubertierender Mädchen und ihre schmerzvolle Geschichte der Konfrontation mit der bitteren Realität. Und das alles wird scheinbar zufällig von Kriegsereignissen »begleitet«, durch episodenhaft auftretende Personen vermittelt. Im Hintergrund des Ganzen aber sind verminte Felder und am Himmel dröhnende Militärflugzeuge. So dass man jeden Moment ein tragisches Ende erwartet, das Leben aber dennoch weitergeht.
Genau das ist das Besondere an Tamta Melaschwilis Buch: Der Krieg ruft sich immer wieder in Erinnerung, er ist präsent – und auch nicht. Wesentlich ist das private Leben der beiden Protagonistinnen, ihre Gefühle und ihr Leiden. Als ob die Autorin die berühmte Devise der zweiten Welle des Feminismus wiedergibt: »Das Private ist politisch.«
Das Besondere des Buchs besteht auch darin, dass seine Subjekte Frauen sind. Sie erzählen uns ihre Geschichte selbst und wir sehen alles mit ihren Augen. Zudem: Wann hat man in den letzten Jahren ein georgisches Buch gelesen, das von Frauen als Kriegsopfern handelt? Dieser knappe, aber sehr wichtige Text offenbart uns in einem: Die privaten Erlebnisse sind genau so wichtig wie die einzelnen Kriegshandlungen, die erste Menstruation, die Sorge um die Busengröße, die schmerzlichen Etappen sexueller Reifung dies alles verbindet sich in ungewohnter Direktheit, Kühnheit und ohne falschen Ton mit der Geschichte der beiden Hauptpersonen. Eben deshalb ist der hier beschriebene Krieg so menschlich und grausam zugleich. Man könnte sagen: »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht.«
Abzählen ist die Geburt einer neuen Autorin in der zeitgenössischen georgischen Literatur. Die Geburt einer neuen, selbstbewussten Stimme, der es gelingt, bestürzende Realität sehr wahrhaftig und sehr lakonisch in Prosa zu fassen.
Davit Gabunia (Dramaturg und Übersetzer), 21.2.2011
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani, gekürzte Fassung