In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es meiner Erinnerung nach kaum einen vergleichbar starken Erstling. Es gab sicher sehr talentierte, scharfsinnige oder kunstvolle Debüts, doch keines war so konsequent und zutiefst bewegend. Es ist ein Buch über den Krieg, in dem kein einziger Schuss fällt und nur einige müde Kämpfer erscheinen. Und doch offenbaren sich die Schrecken des Krieges besonders heftig, denn es geht um Jugendliche und Kinder. Die Autorin wollte nach eigener Aussage die andere, verdeckte Seite des Krieges zeigen. „Krieg wird im Allgemeinen als Sache der Politiker und Militärs, das heißt, der Männer, angesehen. Ich aber will mit diesem Text zeigen, dass es eine zweite, verdeckte Seite gibt, die Erfahrung von Frauen und Kindern, die Erfahrung der einfachen Menschen in der Konfliktzone oder im Krieg. Und ich will zeigen, dass diese zweite Seite nicht weniger tragisch und hart ist als die erste, die Front, an der vorwiegend Militärs und Politiker stehen.“
Natürlich denkt man beim Lesen sofort an Samatschablo in Südossetien und den Russisch-georgischen Krieg vor zwei Jahren, zu Recht, denn eben dieser letzte Krieg veranlasste Tamta Melaschwili, dieses Buch zu schreiben. Hat man es aber zu Ende gelesen, wird einem klar, dass seine Protagonistinnen außerhalb der Grenzen einer konkreten Konfliktzone sind. Der Handlungsort ist weder Zchinwali noch Gori oder Achalgori. Gesprochen wird kein bestimmter Dialekt, benutzt werden Familiennamen aus verschiedenen Gebieten Georgiens, und die Vornamen der ungewöhnlichen Helden sind betont haupstädtisch, ja eine erbärmliche Karikatur derselben. Aus der Grundidee hat die Autorin eine in sich geschlossene Erzählung geschmiedet, in der Gefühle, Gedanken und Gespräche mit erstaunlicher Genauigkeit beschrieben werden. Und das Ganze fast bar jeder Sentimentalität.
„Die Idee dazu hatte ich schon seit Langem. Ursprünglich war es eine sehr knappe und nicht besonders gute Erzählung. Die Idee gefiel mir aber und ich spürte, dass ich den Text ausbauen musste, um Wirkung zu erzielen. Im Sommer habe ich dann versucht, solch einen Text zu schreiben. Zeit hatte ich genug, um mich hinzusetzen und in Ruhe zu arbeiten. Meine früheren Texte hatte ich immer in einem gewissen Affektzustand, sehr schnell niedergeschrieben. Diesmal war es ein durch und durch überlegter Text, an dem ich monatelang gesessen und gearbeitet hab. Ich hätte nie gedacht, dass man einen Text auf diese Weise schreiben kann. Ich hab immer geglaubt, man brauche zum Schreiben bloß eine Muse. An diesem Text nun habe ich ganz hart gearbeitet.“
Es kann also mit guten Gewissen behauptet werden, dass Tamta Melaschwili in diesem Sommer zum erstenmal spürte, was es heißt, Schriftstellerin zu sein. Dies ist nicht nur ein großes Glück für die Autorin selbst, sondern auch für den Leser, der die „Geburt“ einer Autorin unmittelbar erlebt. Insbesondere weil die Autorin selbst nichts verbirgt, uns nichts vormacht und sehr ehrlich erzählt.
Abzählen ist im Vergleich zu Tamta Melaschwilis vorhergehenden zwei, drei Erzählungen, die ich bis dahin gelesen hatte, ein echter Sprung nach vorn. Abgesehen von dem brisanten Thema ist die meisterhafte Art und Weise des Erzählens hervorzuheben. Ich bin mir fast sicher, dass Narratologen noch nach Jahren auf diesen knappen Text zurückgreifen werden, um gewisse Techniken zu illustrieren. Weitaus wichtiger aber ist Melaschwilis dramaturgisches Gespür. In jedem Kapitel dieses Werkes geschieht etwas, was dem Leser bedeutsam erscheint. Das heißt, das Tempo der Erzählung lässt nie nach, im Gegenteil, es steigt und lässt uns mit jeder Szene weniger Zeit und Raum zum Durchatmen. Zum Beispiel die Szene des unbeerdigten Toten, der Verbrennung der Kleider von Gefallenen, der Vortäuschung eines epileptischen Anfalls und viele andere, die das Werk zu einem glühenden Ganzen schmieden.
Tamta Melaschwili fing, wie sie sagt, zur richtigen Zeit mit Schreiben an. Sie ist 31 Jahre alt, nach Meinung vieler das beste Alter, um Gedanken und Gefühle in Prosa auszudrücken Sie wurde 1979 in Ambrolauri geboren und schloss die Mittelschule dort ab. Danach zog sie nach Tbilissi, wo sie an der Staatlichen Universität an der Fakultät für Internationale Beziehungen studierte. Wie es oft passiert, entdeckte sie bald, dass sie das falsche Fach gewählt hatte. Sie arbeitete dann an verschiedenen Stellen, ging für ein Jahr nach Deutschland und machte später in Budapest den Master in Gender Studies. Obwohl sie seit ihrer Kindheit schreibt, ist sie der Meinung, dass sie erst in Deutschland ernsthaft mit Schreiben begann, als sie sich beim georgischen Literaturportal literatura.ge registrierte.
„Mit dem Schreiben habe ich in Deutschland begonnen, nicht aus Heimweh, sondern weil mir langweilig war. Es war wohl auch Zufall, denn gerade in der Zeit hatte ich mich bei literatura.ge registriert. Sicher war da schon immer ein Keim in mir, ich habe immer gern gelesen und geschrieben. Doch dieses Portal hat eine große Rolle gespielt, mich zum Schreiben animiert und eine bessere Leserin aus mir gemacht.“
Die Veröffentlichung des ersten Texts fällt in die gleiche Zeit: „Auch die erste Publikation erfolgte im Rahmen von literatura.ge – ich beteiligte mich am Wettbewerb ZERO [Kranich]. 2006 erhielt ich den Preis der Jury und meine Erzählung erschien in einer Anthologie. Von dem wenigen, das ich bisher geschrieben habe, mag ich diese Erzählung ganz besonders. Später wurde sie in der Anthologie ‚Die 15 besten Erzählungen‘ (Bakur Sulakauri Verlag) aufgenommen. Später, ich glaube, 2008, wurde eine weitere Erzählung von mir in einer Kopro-Ausgabe von lib.ge und Siesta Verlag veröffentlicht.“
Tamta Melaschwili schreibt zwar wenig, aber das kann sich auch als sehr fruchtbar erweisen, wie ihr jüngstes Werk zeigt. (...) Die georgischen Autorinnen und Autoren haben in der letzten Zeit bewiesen, dass sie den Krieg bei weitem adäquater wahrnehmen und verstehen, als es Medien und Politiker tun, die mit falscher Hysterie reagieren.
Beitrag in Radio Tawisupleba (Radio Free Europe/Radio Liberty) 23.01.2011
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani