Die Geschichten für den allerliebsten Liebling schrieb Kipling für seine Tochter – als Antwort auf ihre täglichen Warum-Fragen
Rezension zur Kinderbuchausgabe (ZEIT-Edition, 2008)
Manche Geschichten wollen so dringend vorgelesen werden, dass sie ihre Bücher beinahe zum Zappeln bringen vor Ungeduld. Dazu gehören, nach all den Jahren – sie erschienen 1902 –, Rudyard Kiplings »Geschichten für den allerliebsten Liebling«. Auf Englisch heißen sie just-so stories, und sie klären dringend klärungsbedürftige Fragen, zum Beispiel, woher das Kamel seinen Höcker hat, warum das Nashorn so runzelig ist oder wie die Gürteltiere entstanden sind. Angeblich »wahre«, naturwissenschaftliche Abhandlungen zu diesen Phänomenen können da nicht ansatzweise mithalten.
Obwohl die Geschichten mehr als 100 Jahre alt sind, klingt ihr Ton eigenartig modern, ironisch und ist geprägt von liebevoller Ernsthaftigkeit. Für Kipling gibt es kein pseudopädagogisches Sichherabbeugen zum Kind, keine Unterschätzung der kindlichen Humorkapazität – und erst recht keine moralistische Belehrung. Dazu konnte sich der Autor wohl auch stets viel zu gut daran erinnern, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein. Besonders schreckliche Erfahrungen machte er selbst, dessen freundliche, warmherzige Eltern in Indien lebten, in einer englischen Pflegefamilie, wo der Sechsjährige hart und ungerecht bestraft und geschlagen wurde. Seinen eigenen Kindern, das schwor sich Kipling, wollte er eine andere Kindheit bereiten.
Doch so fortschrittlich sein Kinderbild anmutet, so sehr vermögen uns andere Aspekte seines Schreibens heute zu irritieren. Kiplings Erwachsenenwerk ist zumindest in Teilen umstritten wegen seiner unbefangen kolonialistischen Perspektive gegenüber weniger aufgeklärten und gesegneten Völkern als den Briten. Seiner Zeit und seinem Herkunftsland gemäß, spricht er in seinen Kindergeschichten von »Negern«, Irmela Brender hat das in ihrer ausgezeichneten Übersetzung nicht unterschlagen.
Betroffen von dieser Wortwahl ist in dieser Sammlung nur eine Erzählung, die schildert, wie der Leopard seine Flecken bekam – hochinteressant übrigens, aber die Auflösung soll uns an diesem Punkt nicht von dem Problem ablenken. Kipling benutzte das Wort »Neger« 1902, ohne dass es für ihn einen beleidigenden Beiklang gehabt haben muss – aber von einer gewissen Herablassung wird es auch nicht frei gewesen sein. Deshalb verletzt der Begriff heute unsere Sensibilität für akzeptable ethnische Bezeichnungen. Und schon stecken wir – wie so oft bei historischen Texten - in der Klemme: Hätten wir die fragliche Geschichte ganz weglassen sollen? Die Übersetzung auf heutige Ansprüche hin verändern, damit aber auch literarische Wahrheit verändern? Wir haben uns dagegen entschieden. Literatur ist lebendig, harmlose Bedeutungen können mit der Zeit gefährlich werden, gefährliche harmlos. Wenn es um Kinder geht, dann sind hier, genau wie bei sehr aufwühlenden oder unheimlichen Textstellen, die Eltern gefragt: Sie müssen einordnen, kommentieren, einen Kontext liefern. Dieser Mühe sind Kiplings witzige, mitunter anarchische und subversive Texte allemal wert.
»Geschichten für den allerliebsten Liebling« erschienen in ZEIT-Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser« 2008
http://services.zeit.de/jungeleser/titel/band-4-rezension.htm