Der 2006 verstorbene Nobelpreisträger Nagib Machfus war der Balzac Ägyptens. In seinen 33 Romanen – darunter sein Meisterwerk, die Kairo-Trilogie –, seinen 16 Erzählbänden, 30 Drehbüchern und in seinen Theaterstücken hat er eine große Comédie Humaine geschaffen, bevölkert von den Einwohnern der ausufernden Metropole Kairo, deren Leben die Geschichte des Landes verkörpern: gerissene Ladenbesitzer und herzlose Bürokraten, geschwätzige Bettler und sinnliche Frauen, Huren und Heilige, verzweifelte Eltern und hungrige Studenten.
Machfus’ frühe Romane spielen in der pharaonischen Vergangenheit, doch in den 1940er Jahren begann er, sich dem zu stellen, was man nur als Ägyptens Krise der Moderne bezeichnen kann. Aus dieser Phase stammt Das junge Kairo, das 1945 – noch vor seinem bekannteren Roman Die Midaq-Gasse – publiziert wurde und nun erstmals in Übersetzung vorliegt.
Der Roman spielt in den 1930er-Jahren, als sich Ägypten an einem Scheideweg befindet, in einer Phase, wo die traditionellen Werte immer stärker von europäischen Einflüssen unterminiert werden, wo die einen Frauen eingesperrt werden und von vergitterten Balkonen auf Kairos enge Gässchen hinunterblicken, während andere sich auf weiten Boulevards in der neusten Mode aus Paris präsentieren und die ägyptischen Universitäten neu auch Frauen zulassen. Das Land steht unter britischem Einfluss und wird vom korrupten, raffgierigen König Farouk und einem verkommenen Beamtenapparat aus Türken und Tscherkessen regiert, während die Arbeitslosigkeit immer weiter um sich greift und Studenten Hunger leiden.
Im Zentrum des Romans steht ein verführerisches Arrangement: Die Hauptfigur, der 24-jährige Machgub, ist (wie es Machfus selbst war) Philosophiestudent an der King Fuad Universität, der heutigen Cairo University, ein hagerer junger Mann aus armen ländlichen Verhältnissen, der buchstäblich am Hungertuch nagt. Um seinen Magen zu füllen und um seinen erkrankten Vater zu unterstützen, lässt sich Machgub auf einen teuflischen Pakt ein: Er willigt ein, die Geliebte eines hochrangigen – und verheirateten – Beamten zu heiraten, ohne sie vorher gesehen zu haben; im Gegenzug erhält er einen guten Posten, der es ihm ermöglichen wird, seiner frommen Familie im staubigen Provinznest al-Kanatir Geld zu schicken. Am Hochzeitstag entdeckt er dann, dass es sich bei seiner Braut um Ichsan handelt, die ehemalige Freundin eines seiner besten Freunde, die er »mit ihren tiefschwarzen Haaren, ihrer reinen, elfenbeinernen Haut und ihren rosigen Lippen« selbst seit Langem begehrt hatte.
Die Frauenfiguren sind bei Machfus auf einfühlsame und vielschichtige Weise portraitiert. Ichsan ist eine moderne ägyptische Frau, die Goethe und italiensiche Malerei liebt und ein Studium aufgenommen hat, um später Karriere machen zu können. Aber auch bei ihr führt der drohende Hunger letztlich zur Zerstörung ihres jugendlichen Glanzes, und als sie dem Arrangement zustimmt, geschieht dies mit dem stillschweigenden Einverständnis ihres geldgierigen Vaters, dessen Vermögen für Drogen und Gewinnspiele dahingegangen ist und der gerne selbst von ihrer ehelichen Verbindung mit einem reichen Mann profitieren will.
Ichsan wird zwar Machgubs Ehefrau, empfängt aber in gewissen Nächten dessen Arbeitgeber Kassim, währenddessen sich Machgub in Bars und Cafés die Zeit um die Ohren schlägt. Natürlich läuft das Ganze nicht nach Plan. Die Brillianz von Machfus liegt in der Darstellung der Mischung von Gut und Böse im menschlichen Charakter. Machgub und Ichsan entwickeln eine gegenseitige Zuneigung und anscheinend auch ein leidenschaftliches Sexleben, während sie gleichzeitig das faustische Arrangement mit dem wohlhabenden Kassim aufrechterhalten, entzückt von den Annehmlichkeiten, die dieses mit sich bringt – eine schöne Wohnung, ein großes Büro mit Telefon, und vor allem: keinen Hunger mehr leiden zu müssen. Doch Machgub ist eine dostojewskische Figur und ein moralischer Nihilst, und er ist so von seinem neuen Lebensstil eingenommen, dass er seine Eltern vernachlässigt und es versäumt, ihnen Geld zu schicken. Der Höhepunkt des Romans, wo alle Figuren aufeinandertreffen, erinnert dann an eine französische Farce, die Machgub von dem Schrecken der Selbsterkenntnis nicht verschont.
Diese Handlung ist unglücklicherweise eingerahmt von schemenhaften philosophischen Diskussionen zwischen Figuren, die je eine unterschiedliche Position repräsentieren und nach den ersten fünf Kapiteln so gut wie verschwinden: Neben dem Nihilisten Machgub sind dies Ali Taha, der Sozialist, Ahmad Badir, Journalist und Mitglied der nationalistischen Wafd-Partei, und Mamun Radwan, ein islamistischer Fundamentalist. (1994 hat Machfus das Attentat eines Fundamentalisten überlebt, nachdem die Kontroverse über seine Darstellung des Propheten Mohammed als Frauenheld in seinem 1959 erschienenen Roman Die Kinder unseres Viertels wieder aufgeflammt war.)
Machfus schreibt ein klassisches Arabisch, das mit dem shakespearschen Englisch vergleichbar ist und sich nicht so leicht übersetzen lässt, besonders in den Dialogpassagen. Dennoch entwickelt die manchmal gezierte, gehobene Sprache des Romans, die immer wieder von sinnlichen Passagen und lebhaften Schilderungen durchbrochen wird, einen ganz eigenen Rhythmus, dem man gerne folgt.
Trotz seinen Schwachstellen ermöglicht dieser Roman einen einzigartigen Blick auf einen spezifischen historischen Moment im Leben von Ägyptern, die in traditionellen Haushalten aufgewachsen sind und deren Existenz durch die Moderne erschüttert wird. Wenn man den Hunger, die Korruption, die Verbitterung, den Anstieg von Fundamentalismus und den intensiven arabischen Nationalismus verstehen will, dann wird man es hier in diesem Buch umgesetzt finden.
The New York Times, 19.06.2008. http://www.nytimes.com/2008/06/19/books/19smith.html