Baha Taher wurde für seinen sechsten Roman, Die Oase, mit dem 2008 erstmals verliehenen International Prize for Arabic Fiction (»Arabic Booker«) ausgezeichnet. Der Roman spielt Ende 19. Jh., als Ägypten unter britischer Kolonialherrschaft steht, und die Handlung setzt ein, als der ägyptische Polizeioffizier Machmud als Distriktkommissar und Steuereintreiber in die abgelegene Oase Siwa nahe der libyschen Grenze geschickt wird, ein von rebellischen Berbern bewohntes Gebiet. Die Versetzung bestraft seine Sympathien für die gescheiterte Urabi-Revolte von 1881, die zum Anglo-Ägyptischen Krieg und zur britischen Besatzung geführt hat. Begleitet wird er von seiner irischen Frau, die hofft, in Siwa das Grab Alexander des Großen zu finden und ihre zerbröckelnde Ehe zu retten. Die Figur Machmuds basiert teilweise der historischen Figur eines Polizeioffiziers, der Ende 19. Jh. einen Teil des dortigen Tempelkomplexes in die Luft gesprengt hat, und der Roman untersucht die möglichen Motive – Macht, Besatzung und Rebellion –, die zu diesem Akt der Zerstörung geführt haben könnten.
Maya Jaggi: Die Oase ist ein Roman über Individuen, vielleicht auch über Länder, die zwischen verschiedenen historischen Schichten gefangen sind und versuchen, die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen, die Geschichte von Besatzung und Rebellion zu verhandeln. Welches Interesse haben Sie als Romanschriftsteller an Geschichte? Wo verorten Sie die Linie zwischen Vergangenheit und Gegenwart?
Baha Taher: Ich sehe mich nicht als Autor von historischen Romanen. Die Oase ist nicht ein Roman über die erwähnte Tat; vielmehr hat mich diese Figur des Distriktkommissars fasziniert. Warum hat er das getan? Inwiefern hat diese Tat in der Oase etwas verändert? Und warum ist ihm seine Frau zu diesem gefährlichen Ort gefolgt, wo bereits zwei seiner Vorgänger ermordet worden waren? Ich musste mich natürlich intensiv mit der Geschichte befassen und habe viel gelesen; das hat mich schließlich bis zu Alexander dem Großen geführt, der eine sehr enge Beziehung zu Siwa hatte: Dort wurde er von ägyptischen Priestern zur Gottheit, zum Sohn des Gottes Amun erklärt, und sein letzter Wille war es, in Siwa begraben zu werden. So also kam die Geschichte ins Spiel. Ich hatte das nicht geplant, aber es ergab sich so. Außerdem denke ich, dass nicht historische Ereignisse im Zentrum stehen, sondern die Erkundung der menschlichen Seele. Zwar spielt dieser Roman in einem spezifischen historischen Zeitrahmen, aber im Grunde genommen könnte die Handlung überall und jederzeit angesiedelt sein: Machmud ist gleichzeitig Opfer und Täter, er leidet einerseits unter der britischen Kolonialherrschaft, andererseits spielt er aber in Siwa selber die Rolle des Kolonisators und tut dort genau die Dinge, die er den Briten stets angekreidet hatte.
Könnten Sie das Konzept des ›Opfer-Täters‹ noch etwas ausführen?
Ich möchte auf ein paar Punkte hinweisen, die mir in diesem Zusammenhang wichtig scheinen. Die Gleichzeitigkeit von Opfer- und Täterrolle ist ein Motiv, das sich durch den ganzen Roman durchzieht. Alexander der Große zum Beispiel, der im Roman eine wichtige Figur ist, soll ja ein siegreicher und ruhmvoller Kriegsheld gewesen sein, der viele wunderbare Dinge gesehen hat. Doch in meiner Darstellung fühlt er sich in seinem Innersten in einem gewissen Sinne auch als Unterlegener, denn er hat nicht erreicht, was er zu erreichen hoffte: eine Welt zu erschaffen, in der sich die Rassen der Menschen vereinigten. Was nicht mal Gott geschafft hat, was niemand schaffen kann, wollte er erreichen und ist natürlich daran gescheitert.
Alexander hat andere zum Opfer gemacht und sich gleichzeitig selber Niederlagen bereitet. Im Roman kann man Schritt für Schritt mitverfolgen, wie er sich selber betrügt. Von Aristoteles hat er seine Philosophie: Toleranz zu üben, inmitten der Dinge zu stehen, Gutherzigkeit anzustreben. Aber er konnte es nicht umsetzen, vielmehr war er beeindruckt von den ägyptischen Priestern, die ihn in Siwa nicht nur zur Gottheit, sondern auch zum Pharao gemacht haben. Er wollte die Welt regieren, so wie die Pharaonen in Ägypten regiert haben: für alle Ewigkeit. Weshalb, fragte er sich, gibt es in Griechenland ständig Krieg zwischen den Städten, Bürgerkrieg, während in Ägypten seit Jahrzehnten eine Art Frieden herrscht? Alexander dachte, er könne seine Ziele erreichen, indem er den pharaonischen Despotismus übernehme. Ich hoffe gezeigt zu haben, wie Alexander so zum Opfer seiner eigenen Ideen wird. Ein Opfer kann auch Täter sein – Alexander hat andere geopfert und alle Welt gequält, um eine Idee umzusetzen, aber schließlich hat er nicht nur anderen Niederlagen bereitet, sondern auch sich selbst.
Sie haben nach der Verleihung des Arabic Booker in Abu Dhabi erwähnt, dass unter anderem die amerikanische Invasion des Iraks 2003 ein Anstoß war, diesen Roman zu schreiben; dass Sie über aktuelle und historische Besatzungen nachdachten.
Es ging mir nicht nur um die Besetzung des Iraks, sondern um jegliche Form von Besatzung in der sogenannten Dritten Welt. Darum habe ich diesen Roman geschrieben, der gleichzeitig von der Besatzung Ägyptens im 19. Jahrhundert und von der Besatzung Siwas handelt. Ich glaube, dass Aggression letztlich auf den Aggressor zurückfällt, dass man, indem man andere Menschen zum Opfer macht, gleichzeitig selber zum Opfer wird, und genau das haben die Amerikaner nach dem Einmarsch in Irak auch erfahren müssen, oder nicht? Jedenfalls ist es das, was sie in Afghanistan erleben.
In Ihrem Roman wechseln sich unterschiedliche Erzählstimmen ab (darunter auch diejenige von Alexander dem Großen), wobei die Geschichte hauptsächlich von Machmud und seiner irischen Frau Catherine erzählt wird. Sie haben schon oft darauf hingewiesen, dass Ihre Figuren keine Repräsentanten von Orient und Okzident (und den damit verbundenen Klischees von Konflikt und unüberwindbaren Gegensätzen) sind, und trotzdem werden sie häufig als solche interpretiert.
Die Oase ist eine Liebesgeschichte, beziehungsweise könnte man die Beziehung zwischen Machmud und Catherine als Teil einer Liebesgeschichte verstehen, die dann halt auf eine spezifische Art und Weise endet. Es war nie mein Ziel, einen Roman über den Konflikt zwischen Orient und Okzident zu schreiben, aber viele Kritiker greifen zu dieser Kategorisierung, sobald eine Geschichte orientalische und westliche Protagonisten enthält. Mich hingegen interessieren die Konflikte innerhalb einer Figur, wie ich bereits am Beispiel Alexander des Großen erläutert habe. Das heißt nicht, dass ich mit Orient und Okzident voll und ganz zufrieden bin; es gibt viele Dinge, die ich gegen den Westen und gegen unsere Brüder sagen könnte, aber was in meinen Büchern passiert, steht nicht symbolisch für die Beziehungen zwischen West und Ost, ganz und gar nicht. Ich kann mit diesem Ansatz gar nichts anfangen.
Sie haben mal erwähnt, dass Machmud in gewisser Weise die arabischen Intellektuellen der letzten zwei Jahrhunderte verkörpert, und Malika, die Berberin, die vollkommene Rebellin. Können Sie das etwas ausführen?
Ich kann es versuchen. Machmud ist ein Intellektueller, das stimmt, aber er ist kein stereotypischer Intellektueller, sondern einer, der Polizeioffizier geworden ist, dessen Vater musikbegeistert war, der eine liberale Erziehung genossen hat. Sein Leben war nicht so wie das anderer Kinder, die von ihren Vätern tyrannisiert werden; er konnte machen, was er wollte. Er war immer sehr erfolgreich bei den Frauen, und Ehe war für ihn kein Thema, bis er Catherine kennenlernte. Machmud verkörpert also nicht den typischen Intellektuellen seiner Zeit, weil er in vielerlei Hinsicht privilegierter war als der durchschnittliche mittelständische Intellektuelle. Und dennoch ist er mit demselben Problem konfrontiert wie andere Intellektuelle: mit dem Scheitern der Revolution. Wissen Sie, warum es diese Revolution gab, und warum sie scheiterte? Die Ägypter wollten Demokratie, haben ein Parlament aufgestellt. Doch die Briten und Franzosen meinten, es sei zu früh für dieses Land, ein Parlament und eine Demokratie zu haben …
Machmud hat auf diese Probleme, die alle Intellektuellen betrafen, auf seine eigene Art und Weise reagiert, und seine Reaktionen waren ganz anders als diejenigen anderer Intellektueller, weil er einen anderen Erfahrungshintergrund hatte: Er musste in dieser abgelegenen Oase arbeiten, er hatte eine irische Frau, und er war von sich selbst und seinen Taten wenig überzeugt. Er versucht ständig, sich zu rechtfertigen und zu erklären, warum er, der sich als Opfer fühlt – seine Versetzung nach Siwa kommt einer Strafe gleich –, nun andere zum Opfer machen muss.
Malika ist tatsächlich eine vollkommene Rebellin. Sie lebt in einer sehr engen, traditionellen Gesellschaft, und seit ihrer frühen Kindheit war ihr Leben eine Herausforderung, weil sie sich gegen all diese Traditionen stellte: Sie benahm sich wie ein Junge, sie betrat Tempel, die nicht mal Männer betreten durften, und kopierte die Figuren und Zeichnungen, die sie dort auf den Wänden vorfand. Jemand wie diese rebellische Malika, eine junges, intelligentes Mädchen in einer traditionellen, restriktiven Gesellschaft, hat keine Chance. Darum ist sie für mich eine vollkommene Rebellin. Sie war sich bewusst, dass sie außergewöhnlich ist …
Maya Jaggi, 27.08.2009
Englische Originalversion unter http://www.pwf.cz/archivy/texts/interviews/bahaa-taher-edinburgh-taster_2936.html