Wenn Sie glauben, was Sie lesen, dann stellen Sie sich arabische Frauen wahrscheinlich als stille Opfer von repressiven und hoffnungslos rückständigen Gesellschaften vor. Tatsache ist jedoch, dass sie – weit entfernt von Verschleierung und Zurückhaltung – eine führende Rolle spielen in den gegenwärtigen Modernisierungsprozessen im Nahen Osten, und es gibt wenige Bereiche, wo dies so gut sichtbar wird wie in der Literatur.
Nachdem arabische Autorinnen jahrelang die zweite Geige gespielt haben, rückt jetzt eine neue Generation von arabischen Schriftstellerinnen in ihren Dreißigern ins Rampenlicht, und zumal Frauen und Familien die Hauptleidtragenden der Kriege und Religionskonflikte in dieser Region sind, war es noch nie wichtiger als heute, dass ihre Stimmen auch tatsächlich gehört werden. Nur wenige Autorinnen sind so prominent wie die ägyptische Autorin und Journalistin Mansura Eseddin, eine führende Figur beim renommierten Magazin Akhbar al-Adab.
An einer gut besuchten Diskussionsrunde im Rahmen des Edinburgh Festivals sagte sie, das Ausmaß des Interesses an neuer arabischer Literatur habe sie positiv überrascht. »Arabische Autorinnen schreiben heutzutage mutiger denn je zuvor, besonders in Ägypten«, sagte sie. »Sie schreiben über den weiblichen Körper, über Sexualität, über religiöse und politische Themen in einer viel offeneren Art und Weise. Im Grunde genommen sind sie die Gruppe von Autoren, die am meisten wagen und den größten Einfluss auf die neue Literaturszene haben.«
Das mag überraschend klingen für einen Großteil des westlichen Publikums, das seit Langem am Stereotyp der arabischen Frau als passives Opfer festhält. Doch wer bereit ist, den Schleier zu lüften, sieht, dass arabische Frauen schon seit über einem Jahrhundert bei gesellschaftlichen Veränderungen und Revolutionen eine Vorreiterrolle gespielt haben. Vor über hundert Jahren etwa haben Schriftstellerinnen – damals waren das Aristokratinnen, für die das Schreiben eher Hobby als Lebensunterhalt bedeutete – gesellschaftliche und politische Rechte gefordert, damit auch sie an den nationalen Befreiungsbewegungen teilnehmen konnten. Und nicht ganz überraschend für eine Kultur, die immer schon eine Liebe zur Literatur pflegte, gab es lange vor dem Ersten Weltkrieg nicht weniger als 25 feministische Literaturzeitschriften, deren Besitz- und Herausgeberstrukturen vollständig in Frauenhand waren. Bereits in diesen Zeitschriften, die mit mit der internationalen Frauen- und Friedensbewegung vernetzt waren, wurde argumentiert, dass Frauen vom Krieg stets zuerst und stets am meisten betroffen sind, und die arabischen Frauen wurden dazu aufgerufen, ein Ende der Gewalt zu fordern. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs haben Feministinnen – meist aus der aufstrebenden Mittelschicht – lautstark gefordert, das arabische Patriarchat auf den Kopf zu stellen und die Frauen an die höchsten Positionen ranzulassen. Ende der 1960er Jahre war die offene Schilderung der brutalen Unterdrückung von Frauen durch die ägyptische Ärztin und Autorin Nawal al-Saadawi bahnbrechend, und als ihr erster Roman Women at Point Zero in den frühen 1980er Jahren auf Englisch erschien, wurde sie zur sichtbarsten arabischen Frau im Westen.
In den letzten Jahrzehnten jedoch hat sich ein Genre post-feministischer Literatur herausgebildet, die einen etwas nuancierteren, kultivierteren Stil pflegt und sich vom kämpferischen Feminismus von Autorinnen wie al-Saadawi entfernt hat, ja diesen sogar als alten Hut kritisiert, der nur dazu diene, westliche Stereotypen vom rückständigen, frauenfeindlichen Araber zu zementieren. An der Qualität dieser Autorinnen gab es nie einen Zweifel – Übersetzungen von Romanen der Irakerin Alia Mamdouh, der Libanesin Hoda Barakat, der Syrierin Hamida Na’na und der Ägypterin Salwa Bakr haben international Anerkennung gefunden. Aber die Möglichkeiten für das internationale Publikum, diese Autorinnen zu lesen, waren äußerst spärlich gesät. Große internationale Verlage, konservativ und risikoscheu, haben sich mehrheitlich an die großen Namen des etablierten Kanons arabischer Literatur gehalten: Nobelpreisträger Nagib Machfus, Elias Khouri, Abdelrahman Munif, Gamal Al-Ghitani – alles Männer. Jetzt, wo die sogenannte gläserne Decke schneller denn je am Sinken ist, kommt für die jüngste Generation von Autorinnen wieder Hoffnung auf. Viele von ihnen stammen aus Konfliktzonen wie der schiitischen Gemeinschaft in Südlibanon oder den Industriegebieten und dem Kleinbauernmilieu im Irak, Ägypten und Tunesien – Gebiete und Regionen, über die man im Westen so gut wie gar nichts weiß.
»Heutzutage schreiben Autorinnen ganz anders als al-Saadawi«, erklärt Eseddin. »Sie behandelt Männer als Feinde, welche die Frauen unterdrücken. Die neuen Schriftstellerinnen hingegen – und zu ihnen gehöre auch ich – sind der Meinung, dass arabische Männer und Frauen gleichermaßen das Opfer politischer und gesellschaftlicher Unterdrückung sind; dass wir alle, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, gemeinsam darunter leiden.« Eseddin weiß um die Neigung des westlichen Publikums, arabische Autorinnen wie sie selbst als Sprachrohr für alle Frauen im Nahen Osten sehen zu wollen. Sie wehrt sich deshalb gegen das simple Label »Feministin«: »In erster Linie bin ich eine Autorin, und als Autorin bin ich ein Mensch, der gegen jede Form menschlichen Leidens ist.« Doch dann fährt sie fort: »Ja, ich bin auch eine Feministin, aber ich glaube, wenn man als Autorin allzu stark einer Ideologie verpflichtet ist, besteht die Gefahr, für alle anderen Dinge blind zu werden, die rundherum noch passieren. Eine Autorin muss viele verschiedene Perspektiven berücksichtigen können. So kreiere ich zum Beispiel gerne männliche Protagonisten ganz unterschiedlicher Couleur, weil mir wichtig ist, das ganze Panorama der ägyptischen Gesellschaft und seiner Probleme zu betrachten.«
Der Aufstieg der gerade mal 30-jährigen Eseddin ist eine bemerkenswerte Aschenbrödel-Geschichte. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf am Nil mit vier Geschwistern, hat sie als Neunjährige ihren Vater verloren. Für viele Kinder wäre ein solcher Schicksalsschlag verheerend, aber Eseddins Mutter, eine starke und unabhängige Frau, hat dafür gesorgt, dass ihrer Tochter die Träume erhalten bleiben. Mit achtzehn Jahren zog sie nach Kairo, wo sie eine Ausbildung als Journalistin absolvierte; bald danach kehrte sie dem Dorfleben endgültig den Rücken, indem sie beim Fernsehen zu arbeiten begann. Voller Selbstvertrauen begann Eseddin, Kurzgeschichten zu schreiben – etwas, mit dem sie sich bereits an der Universität versucht hatte –, und ihr erster Erzählband, den sie mit 25 Jahren veröffentlichte, wurde von der Kritik gefeiert. Es folgte eine Anstellung beim Literaturmagazin Akhbar Al-Adab, eines der renommiertesten im Nahen Osten, herausgegeben vom berühmten Schriftsteller Al-Ghitani. Nach wenigen Jahren erhielt Eseddin bereits den wichtigen Posten der Literaturredakteurin. Ihr Ehemann Yasser Abdalhafez, ebenfalls ein erfolgreicher Autor, ist Mitherausgeber. Die vierjährige Tochter Nadine besucht seit Kurzem den Kindergarten. Es fällt Eseddin schwer, über ihr Privatleben zu sprechen; das Interesse an ihrer Person, das der bemerkenswerte Erfolg ihrer Bücher mit sich bringt, behagt ihr offenbar nicht. Sie lächelt bescheiden und scheint bereit, aufdringliche Fragen abzublocken. Dennoch bezieht sie klare Stellung zu den Wendepunkten in ihrem Leben, zum Verlust ihres Vaters und zum Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren.
»Es war sehr schwer, als mein Vater gestorben ist«, sagt sie. »Die Tradition verlangte, dass meine Mutter bei meinen Onkeln um Erlaubnis bitten musste, als ich das Dorf verlassen wollte. Ich war das erste Mädchen, welches aus dem Dorf nach Kairo ging. Ursprünglich war es so ausgemacht, dass ich in Kairo studieren und dann ins Dorf zurückkehren würde, aber nach meinem Studium ging ich dann einfach nicht mehr zurück.«
»Meine Mutter war die Einzige, die mich wirklich ermutigt hat, ich selbst zu sein und nicht einfach das zu tun, was von mir erwartet wurde«, fährt Eseddin fort. »Sie wollte, dass ich ein anderes Leben habe als sie selbst. Sie hatte immer Ärztin werden wollen, wie ihre Brüder auch, aber damals war es Mädchen aus solchen Verhältnissen nicht erlaubt, eine höhere Ausbildung zu verfolgen, und sie durfte ihre Schulbildung nicht abschließen. Das war tragisch, weil meine Mutter sehr intelligent war, eine kluge Frau. Sie war immer davon überzeugt, dass ihr Leben anders verlaufen wäre, hätte man ihr erlaubt zu studieren.«
Stattdessen hat die Mutter ihre Tochter zum Schreiben animiert und freute sich an der aufstrebenden Karriere ihrer Tochter. »Meine Mutter war sehr stolz auf die Idee, dass aus ihrer Tochter eine Schriftstellerin wird«, meint sie. »Sie sagte jeweils, wenn ich eine Autorin sein wolle, müsse ich so gut werden wie Nagib Machfus oder Jussuf Idris. Zwei legendäre Autoren – dass ihre Tochter weniger als diese Männer erreicht, war für sie unzulässig.« Und ihre Tochter Nadine? »Ich möchte, dass sie ihr Leben so gestaltet, wie sie es will – ob sie nun Künstlerin, Ärztin, Autorin oder etwas anderes wird, denn die Möglichkeit, selbst eine Auswahl zu treffen, ist das Allerwichtigste.« Da hält Eseddin inne und gesteht dann unvermittelt, dass sie an der Ein-Kind-Ehe nichts ändern wolle – was für den Nahen Osten sehr unüblich ist. »Ich liebe Mädchen so sehr, dass ich froh bin, ein Mädchen statt einen Jungen bekommen zu haben. Natürlich war ich während der Schwangerschaft hauptsächlich darum besorgt, ob Nadine hübsch sein würde, aber ich bin wirklich sehr froh, dass ich eine Tochter habe. Der Beweis dafür ist, dass ich nicht glücklicher sein könnte als jetzt mit Nadine, und nun möchte ich keine weiteren Kinder.«
Eseddin besucht ihr Heimatdorf regelmäßig, wo ihr Erfolg den Familienmitgliedern die Augen geöffnet und inspirierend gewirkt hat, so auch bei ihren Onkeln, die nun ihre Töchter ermutigen, Mansura als Vorbild zu nehmen. Aufgrund ihrer Herkunft – sie stammt aus einer religiösen Familie und ist mitten im konservativen ländlichen Ägypten aufgewachsen – hat Eseddin ein brennendes Interesse an Frauenfragen entwickelt, was sich nicht zuletzt in ihrem mutigen Schreibstil niederschlägt. Sie hat keine Hemmungen, traditionelle Schranken zu durchbrechen, und hat mit ihren literarischen Figuren und Themen wie Weiblichkeit, Sexualität und Gewalt sowohl Kontroversen als auch Bewunderung ausgelöst.
In Eseddnis Werken wird nicht nur ihr Sinn für soziale Gerechtigkeit und für die Freiheit der Frau spürbar, sondern auch ihr Interesse an arabischer Geschichte und an den modernen Gesellschaften des Nahen Ostens, die sie als Journalistin bestens kennt. Und für eine Frau, deren Großmutter sie als Kind mit den Geschichten der Kobolde, Monster und Feen, die den Nil bevölkern, vertraut gemacht hat, ist es nicht erstaunlich, dass sie auch eine Fülle arabischer Folklore und religiöser Metaphorik in ihre Texte einfließen lässt. So verbindet sie die Vergangenheit Ägyptens mit der modernen Lebenswelt. »Ich möchte die Wurzeln der ägyptischen Rückständigkeit ergründen«, erklärt sie, eine Rückständigkeit, die trotz der Revolution von 1952 fortbestehe. »Auch fünfzig Jahre danach leiden wir immer noch, als ob wir den Kolonialismus losgeworden sind, nur um die Opfer von Militärregimes zu werden. Aber ich mag es nicht, auf eine direkte, augenfällige Art und Weise über solche Dinge zu schreiben. Ich gebe diesen starken Themen gerne einen künstlerischen Anstrich und verwende eine exotische Bildsprache, Fantasie- und Traumelemente, die ihrerseits eine wichtige Tradition innerhalb der arabisch-islamischen Kultur haben.«
»Auch der Körper ist etwas, das mich sehr interessiert«, so Eseddin weiter. »Für viele arabische Autorinnen ist der Körper ein Symbol für Freiheit, eine Möglichkeit, liberale Ideen auszudrücken. Ich selber habe dazu eine ambivalentere Haltung, da der Körper auch ein Ort des Leidens oder der Schlüssel zum Verstehen einer Person sein kann. Am meisten jedoch interessieren mich die dunkle Seite der menschlichen Psyche und das Exotische, d.h. wie wir durch Exotisches und Fantasien mit unseren alltäglichen Problemen umgehen.«
Auch wenn Eseddin und die neuen post-feministischen Autorinnen weniger polemisch auftreten als Al-Saadawi und die ältere Generation, wehrt sie sich entschieden dagegen, die Männer ganz von ihrer Verantwortung zu befreien: »In einem Land wie Ägypten, generell in den arabischen Ländern, hat ein Mann eine riesige Mitschuld am Leiden der Frauen«, sagt sie. »Aber er trägt nicht alleine die Schuld. Das Problem sind nicht nur die einzelnen Männer, die den Frauen ihre Freiheit verwehren, sondern auch die Unterdrückung durch diktatorische Regimes, von der die ganze Gesellschaft betroffen ist. Auch diese Regimes tragen die Schuld an der Unterdrückung von Frauen und Männern. Dazu kommt ein anderer, schwieriger Aspekt: einer der Hauptgründe, warum Frauen leiden, sind andere Frauen. Innerhalb der Familie, besonders in ländlichen Gebieten, hat das weibliche Familienoberhaupt sehr viel Macht. So kontrollieren zum Beispiel Großmütter die gesamte Familie und verlangen von den Männern, mit ihren Frauen strenger umzugehen, weil es die Tradition so erfordere.«
Die hart erkämpften Rechte arabischer Frauen sind ungleich verteilt: den Frauen aus der urbanen Mittelschicht geht es viel besser als Frauen im ländlichen Gebieten. Auf dem Höhepunkt der antikolonialen Euphorie der 1950er und 1960er Jahre hatten Frauen schnelle Fortschritte auf gesellschaftlicher und politischer Ebene erzielt. Aber nach der überwältigenden Niederlage der arabischen Truppen gegen die israelische Armee im Sechstagekrieg 1967 wurde die ganze Region von einem Defätismus erfasst, der sich in der reaktionären Politik des darauffolgenden Jahrzehnts niederschlug. In Ägypten ist Präsident Sadat mithilfe islamistischer Kräfte scharf gegen die Linke vorgegangen, im Irak hat Saddam Hussein die Macht an sich gerissen, Syrien machte unter Assad einen Rechtsrutsch und im Iran übernahmen die Ayatollahs die Kontrolle.
»In Ägypten ist man wieder rückständiger geworden«, meint Eseddin. »Heutzutage hat sogar die Bewegung der verschleierten Frauen wieder Aufwind. In den 1960er und 1970er Jahren war es normal, Frauen in Röcken oder legerer Kleidung zu sehen, heute hingegen sieht man Frauen im Hijab oder komplett verschleiert. Diese Rückkehr zur Religion hat mit den kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten zu tun. Viele Mädchen und Frauen denken, dass Amerika gegen Araber ist, nur weil wir Muslime sind, und als Reaktion darauf halten sie sich noch stärker an die Religion. So ist Religion zum Hauptbestandteil ihrer Identität geworden, um Amerika herauszufordern.«
»Wie es längerfristig weitergeht«, fügt sie hinzu, »hängt von den politischen Entwicklungen in den nächsten Jahren ab, besonders in Ägypten, das für die gesamte Region eine kulturelle und politische Vorreiterrolle hat.« Echte Demokratie sei der einzige zukunftsträchtige Weg. Demokratie, die Möglichkeit, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen und die Regierung gegebenenfalls abzuwählen, gebe den Menschen das Gefühl, Verantwortung zu tragen und Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben. Demokratie bereite den Weg für mehr Zusammenhalt und Zusammenarbeit unter den Bürgern und habe direkte Auswirkungen auf die Situation der Frauen, denn ein Mann unterdrücke seine Frau oft deshalb, weil er außerhalb des Hauses völlig machtlos ist, keine Kontrolle hat über sein eigenes Leben. Und Männer, die keine Redefreiheit und keinerlei politischen Einfluss haben, machten wiederum dasselbe in ihren Familien, wenn Frauen und Kinder ihre Bedürfnisse artikulieren wollten.
»Wenn es faire Wahlen gäbe und Ägypten eine liberale, fortschrittliche Regierung hätte, wäre die Situation der Frauen viel besser, aber wenn Islamisten wie die Muslimbrüderschaft an die Macht kämen, wäre das sogar noch schlimmer. Islamische Regierungen wie diejenigen in Saudi-Arabien und im Iran unterdrücken die Rechte der Frauen; liberale, gebildete, intellektuelle und arbeitstätige Frauen sind dort ein Feindbild.« Die gesamte Region sei an einen historischen Tiefpunkt gelangt, herbeigeführt von brutalen Marionettenregierungen, der von Amerika geführten Invasion des Iraks und von den Kriegen Israels gegen Libanon und Palästina. Im Irak, sagt Eseddin, seien Frauen die Hauptleidtragenden der barbarischen Besetzung. »Sie sind eine leichte Beute, werden einerseits von amerikanischen Soldaten gefoltert, erniedrigt, sogar vergewaltigt, und andererseits verwehren ihnen die islamistischen Terrorgruppen ihre Rechte.«
Der Libanon sei früher eine Hochburg der Freiheit im Nahen Osten gewesen, erklärt Eseddin. Libanesische Frauen würden zwar mehr Freiheiten genießen, aber sie litten unter dem Fluch des Krieges: »Vom Bürgerkrieg zur israelischen Invasion in Beirut 1982 und vom Massaker von Qana bis zum letzten Krieg: Immer sind es die libanesischen Frauen und Kinder, die den Preis der Kriege bezahlen müssen, die sie nie gewollt haben.«
Dennoch ist sie optimistisch, denn mit der ägyptischen Tradition intellektueller Freiheit und progressiver Ideen bestehe die Chance, dass ihr Land die Entwicklung der gesamten Region positiv beeinflussen könnte. Denn es sei sehr schwer für die reaktionären Kräfte, diese Schichten der ägyptischen Gesellschaft zu zersetzen – es gebe also Grund zur Hoffnung. Allerdings wird Ägypten selbst einige Turbulenzen durchmachen müssen, wenn sich die Situation tatsächlich verbessern soll. Es ist allgemein bekannt, dass Präsident Hosni Mubarak die jüngsten Wahlen manipuliert hat, um an der Macht zu bleiben, und seither brutal gegen öffentliche Kritik an Amerika und Israel vorgeht – genau so, wie es auch in Saudi-Arabien und Jordanien geschieht. In Kairo gibt es wöchentlich Angriffe von Polizisten und regierungstreuen Schlägertruppen auf Demonstranten und Gläubige, die vor den Moscheen anti-westliche, regierungskritische Botschaften verbreiten. Dass der Widerstand gegen das Regime wächst, zeigen die von der größten Oppositionsbewegung, der progressiven, liberalen Kifaya (Movement for Change) organisierten Massenproteste gegen Mubarak und den Krieg gegen Libanon und Palästina, der von der Nasseristischen Partei, der Sozialistischen Arbeiterpartei und sogar von der Muslimbruderschaft gutgeheißen wurde. Und damit schließt sich der Kreis wieder: Besatzung, Krieg, das Leiden von Frauen und Familien, und zum Schluss Palästina, der ewig ungelöste Katalysator.
Für Eseddin ist die Gleichung allzu offensichtlich: von Krieg befreit zu sein würde auch das Ende des Leidens von Frauen und Familien und Fortschritt für die arabische Gesellschaft bedeuten. Einer spontanen Eingebung folgend, improvisiert sie eine Elegie für die palästinensischen Frauen. Ganz in der Figur einer palästinensischen Mutter versunken, beginnt sie mit geschlossenen Augen zu rezitieren:
Kein Frieden ohne Gerechtigkeit. Ist das so schwierig zu verstehen für den amerikanischen Präsidenten und den israelischen Premierminister? Ich habe mein Zuhause verloren und kann nicht in Frieden leben – aber meine Träume werde ich niemals verlieren. Sie sind das Einzige, was mir geblieben ist. Das Leben einer Palästinenserin ist schwieriger als das Leben der Frauen überall sonst auf der Welt. Das sage ich nicht, weil ich ihr Mitleid wecken will. Ich glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit unserer Welt. Tag für Tag stelle ich fest, dass wir auf einer blinden Welt leben. Ich spreche von unserem schwierigen Leben, weil sprechen und schreiben meine Form des Widerstandes und mein Versuch sind, die brutalen, irrsinnigen Ereignisse zu verstehen. Weiß jemand, was es heißt, stundenlang an einem Militär-Checkpoint anstehen zu müssen, nur weil man zur Arbeit möchte? Was es bedeutet, sein Zuhause, seine Kinder, sein Leben und sein Gedächtnis zu verlieren, immerzu und immer mehr zu verlieren, ohne je Schuld auf sich geladen zu haben außer der Tatsache, dass man Palästinenserin ist in dieser wilden und blinden Welt?
Sie beendet die Elegie und schaut auf, die Augen nass, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. Ihr Schreiben – die »Waffe ihrer Wahl«, wie sie es nennt – vermag Tausende von Leser/innen zu berühren; aber am Ende findet sie darin keine Zuflucht vor dem Schmerz, unter dem die Frauen des gesamten kriegzerrütteten Nahen Ostens zu leiden haben.
Camden New Journal, 20.10.2006
http://www.thecnj.com/review/101906/books101906_04.html