»Am letzten Freitag, dem ›Tag des Zorns‹, war ich gemeinsam mit den Protestierenden auf der Straße. Zusammen mit Freunden habe ich an einer friedlichen Demonstration teilgenommen, die bei der Amr Ibn al-As Moschee in Alt-Kairo begann, nahe der Kirche St. George. Wir zogen los, den Slogan ›Das Volk will den Sturz des Regimes!‹ skandierend – und wurden vom Tränengas in Empfang genommen, welches die Polizei auf uns abfeuerte. Wir versuchten, mit den Worten ›Friedlich! Friedlich!‹, die wir den Polizisten laut zuriefen, zu zeigen, dass wir keine feindlichen Absichten hegten, sondern lediglich unsere Freiheit forderten. Doch dies hat ihre Brutalität nur noch verstärkt. Die Kämpfe begannen sich auf die Seitenstraßen des altehrwürdigen, mehrheitlich koptischen Stadtviertels auszudehnen.
Zusammen mit einem Freund rettete ich mich in ein schmales Gässchen. Dort wurden wir von den Bewohnern herzlich begrüßt. Sie warnten uns davor, den Rückzug via U-Bahn-Station zu versuchen, und verwiesen uns auf eine andere Fluchtroute. Viele von ihnen schlossen sich sogar den Protesten an. Schließlich hat ein Mann uns persönlich mit seinem Auto in Sicherheit gebracht.
Der Duft der tunesischen ›Jasminrevolution‹ ist schnell in Ägypten angekommen. Nachdem der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali erfolgreich aus Tunis verjagt worden war, ist auf Facebook bald der Ruf nach einer ägyptischen Revolution laut geworden, die am 25. Januar beginnen sollte. Doch die Öffentlichkeit hierzulande machte sich über diese jungen Leute lustig, die über Twitter und Facebook zu Protesten aufriefen: Seit wann wurde denn der Funke der Revolution an einem vorher festgelegten Datum gezündet? War die Revolution etwa zu einem romantischen Rendezvous geworden?
Auf den Social-Network-Plattformen waren solche Zweifel allgegenwärtig, aber selbst Zyniker – mich selbst eingeschlossen – begannen, Hoffnung zu schöpfen, als die Aufrufe nicht versiegten. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Twitter- und Facebook-Generation erfolgreich im ganzen Land Hunderttausende für ihr Anliegen gewinnen können. Die meisten von ihnen waren junge Leute, die zuvor nicht politisch aktiv gewesen waren und nicht zu den traditionellen Kreisen der Opposition gehörten. Die Muslimbrüder stehen – anders als vom Regime behauptet – nicht hinter diesem Volksaufstand. Diejenigen, die alles initiiert und organisiert haben, schäumen vor Wut über die Polizeigewalt, Repression und Folter des Mubarak-Regimes.
Schon zu Beginn der Proteste hat die Regierung beschlossen, die Menschen mit äußerster Gewalt und Brutalität zu behandeln, in der Hoffnung, dass sich die tunesische Erfahrung hier nicht wiederholen würde. Seit Tagen schon atmen die Ägypter statt Sauerstoff Tränengas ein – so viel war davon in der Luft, dass man von Kleinkindern und älteren Menschen hört, die in ihren Wohnungen an den Dämpfen erstickt sein sollen.
Die Sicherheitskräfte in Kairo haben zunächst Gummigeschosse auf die Protestierenden abgefeuert, dann sind sie zu scharfer Munition übergegangen. Dutzende Menschen wurden getötet. In Suez, wo die Demonstrationen furchtbar gewalttätig verlaufen sind, wurde schon ab dem ersten Tag scharfe Munition eingesetzt. Eine Freundin, die dort lebt, schrieb mir in einer Nachricht, die Stadt habe am Donnerstagmorgen ausgesehen, als hätte sie gerade einen besonders brutalen Krieg durchlebt: brennende, zerstörte Straßen, und überall Leichen. Niemals, so die Freundin, würden wir erfahren, wie viele Menschen den Polizeikugeln zum Opfer gefallen sind.
Nachdem wir uns am Freitag aus Alt-Kairo in Sicherheit gebracht hatten, gingen meine Freunde und ich Richtung Tahrir-Platz, der Mittelpunkt der Neustadt und der Ort, an dem die größten Proteste stattfanden. Wir schlossen uns einem Demonstrationszug mehrheitlich junger Leute an, der sich einen Weg durch die Innenstadt bahnte. Aus der Ferne konnten wir das Grollen des Protests auf dem Tahrir-Platz hören, und immer wieder auch Geschrei und Gewehrschüsse. Schritt für Schritt gewannen wir an Boden, und wir wurden immer zahlreicher. Die Leute teilten sich Coca-Cola Flaschen, benetzten sich mit Mineralwasser das Gesicht, um die Wirkung des Tränengases zu dämpfen. Einige trugen Masken, wiederum andere hatten ihre Kufija mit Essig benetzt.
Ladenbesitzer händigten den Demonstranten Mineralwasserflaschen aus, und von Zeit zu Zeit haben Zivilisten Essen verteilt. Frauen und Kinder lehnten sich aus Fenstern und von Balkonen, um in den Chor der Dissidenten einzustimmen. Ich werde nie vergessen, wie eine aristokratische Frau mit ihrem Luxuswagen durch die schmalen Seitengassen fuhr und den Demonstranten zurief, sie sollten sich nicht entmutigen lassen, denn bald würden sich Zehntausende von Mitbürgern aus anderen Stadtteilen ihnen anschließen.
Nachdem wir einige Male vergebliche versucht hatten, die Sicherheits-Checkpoints zu durchbrechen und zum Tahrir-Platz zu gelangen, setzten wir uns in ein Café, um uns auszuruhen. Drei Offiziere der Sicherheitskräfte des Regimes, alle drei in Zivil, nahmen neben uns Platz. Sie schienen vollkommen entspannt, als ob der Feuerlärm, das Geschrei, die Zahlen der Toten und Verletzten Ägypter – im Hintergrund lief Al Jazeera – unbemerkt an ihnen abprallen würde. In der ganzen Stadt waren sie und ihre Kollegen präsent, um ihre Landsleute auszuspionieren.
Am Freitagabend wurde die Lage von Stunde zu Stunde chaotischer. Im ganzen Land brannten Polizeistationen und die Parteibüros der herrschenden National Democratic Party. Ich musste heulen, als ich hörte, wie 3000 Freiwillige eine Menschenkette rund um das Nationalmuseum gebildet hatten, um es vor Plünderern und Vandalismus zu schützen. Diejenigen, die so etwas tun, sind eindeutig gut gebildete, kultivierte Menschen – und nicht Vandalen oder Plünderer, so wie sie jetzt von denjenen betitelt werden, die Ägypten seit Generationen ausplündern und zerstören.
Wegen der Ausgangssperre konnte ich nicht nach Hause zurückkehren, also übernachtete ich bei einer Freundin, die in der Nähe des Parlamentsgebäudes und des Innenministeriums wohnt, in einer der unruhigsten Gegenden der Stadt. Die ganze Nacht lang war der Lärm der Gewehrkugeln zu hören. Vom Fenster aus sahen wir, wie die Polizei ungestraft auf Demonstranten zielte und auf eine Tankstelle feuerte, vielleicht um eine Explosion zu provozieren. Trotz alledem, und trotz der Ausgangssperre, ließen die Demonstrationen nicht nach, angeheizt von der Wut auf das viel zu lange Zögern Mubaraks, sich ans Volk zu wenden – ein paar Stunden später war es dann die Wut über die klägliche Rede, die er schließlich hielt.
Am Samstagmorgen machte ich mich wieder auf den Heimweg. Ich ging über Glasscherben, die auf den Straßen lagen, konnte noch die Überreste der Feuer riechen, die in der Nacht zuvor gewütet hatten. Die Armee, vom Regime gerufen, um die Proteste niederzudrücken, war überall. Zuerst versuchte ich, über den Tahrir-Platz zu gehen, um zu sehen, ob das Museum sicher war. Ein Passant sagte mir, dass die Armee den Leuten verbiete, auf den Platz zu gehen, und dass Schüsse fielen. ›Schießt die Armee auf die Demonstranten?‹, fragte ich besorgt. ›Natürlich nicht‹, antwortete er zuversichtlich. ›Die ägyptische Armee hat noch nie auch nur eine einzige Kugel gegen einen ägyptischen Bürger gerichtet, und sie wird es auch jetzt nicht tun.‹ Beide hofften wir, dass dieser Wunsch sich bewahrheiten möge, dass die Armee sich auf die Seite der Bevölkerung stellen würde.
Jetzt, wo die Armee die Demonstrationen überwachte, waren die Polizeikräfte vollständig aus den Straßen verschwunden, wie um der Bevölkerung höhnisch zu demonstrieren, dass es keine Alternative zu ihrer Präsenz gab, nur Chaos. In der ganzen Stadt tauchten nun bewaffnete Banden auf, Geschäfte plündernd, die Bevölkerung terrorisierend. (Samstagnacht wollte eine Bande das Gebäude, wo ich mich gerade aufhielt, ausrauben, aber es gelang ihnen nicht einzubrechen.) Freiwillige haben Komittees gebildet, um sich gegen die Kriminellen zur Wehr zu setzen. Man wird das Gefühl nicht los, dass das Regime ganz bewusst das Chaos anheizt.
Am späten Samstagabend traf ich auf meinem Weg durch das wohlhabende Garden City Quartier eine weinende Frau. Ich fragte sie, was los sei, und sie erzählte mir, dass ihr Sohn, der in einem Luxushotel arbeitete, von einer Polizeikugel am Hals getroffen worden war, obschon er nicht an den Demonstrationen teilgenommen hatte. Jetzt lag er im Spital, gelähmt, und sie war gerade auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz, um für ihn Krankenurlaub zu beantragen. Ich umarmte sie und versuchte sie zu trösten. Durch ihre Tränen sagte sie: ›Wir können nicht darüber schweigen, was geschehen ist. Schweigen ist ein Verbrechen. Das Blut derjenigen, die gefallen sind, darf nicht umsonst geflossen sein.‹
Sie hat recht. Schweigen ist ein Verbrechen. Selbst wenn das Regime uns weiterhin mit Kugeln und Tränengas bombardiert, den Internetzugang sperrt und unsere Mobiltelefone kappt, werden wir dennoch Mittel und Wege finden, um unsere Stimmen in der Welt hörbar zu machen, um Frieden und Gerechtigkeit zu fordern.«
New York Times, 30.01.2011
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