Raúl Argemí konnte sich in den letzten Jahren auch in Spanien, wo der Argentinier verlegt wird, einen Namen machen. Seine Kriminalromane haben zahlreiche Preise gewonnen, und auf der Semana Negra de Gijón gehört er inzwischen zum festen Kern der Teilnehmer. Seit 2000 lebt Argemí in Barcelona, unweit der zentral gelegenen Plaza de la Universidad. Im ersten Stock des Wohnhauses liegt seine kreative Zone, sein Laptop steht am Fenster mit Blick auf einen geschützten, ruhigen Patio, in dem er gern seinen Mate trinkt, denn ohne Mate geht es natürlich nicht … Argemís persönliche Geschichte ist eng mit der Geschichte seines Landes verknüpft. 1946 wurde er in La Plata, im Bundesstaat Buenos Aires, geboren. Während seiner Kindheit und Jugend kam es in Argentinien zu einer Serie von Militärputschen (1955, 1962, 1966); ein Klima von Unterdrückung und Terror beherrschte den Alltag, sodass Argemí keinen anderen Weg für sich sah, als in den bewaffneten Widerstand zu treten, und so schloss er sich dem Ejército de Liberación 22 de agosto an:
Als ich klein war, gab es mehrere Militärputsche, Bombardierungen, Tote, Folterungen. Ich bin mit dieser Verbindung von Gewalt und Politik aufgewachsen. Daher war es nur logisch, dass ich in die Guerilla eintrat, im bewaffneten Widerstand kämpfte und dann ins Gefängnis kam. Dass ich nicht tot bin, ist nur Zufall.
Ab 1974 saß er als politischer Häftling zehn Jahre im Gefängnis. Während dieser harten sowie prägenden Zeit bildete er sich über Gespräche mit anderen politischen Gefangenen unterschiedlichster Berufsgruppen weiter und verfolgte das Tagesgeschehen über Berichte, die die Besucher infiltrierten und die systematisch unter den Gefangenen weitergereicht wurden. Hier begann er ernsthaft mit dem Schreiben und musste bei alldem einen konstanten innerlichen Kampf führen:
Dort merkst du, dass der Mensch zu allem fähig ist, zu den engelhaftesten Dingen und zu den schrecklichsten Schweinereien. Dort gibt es alles. Es zeigt dir, dass du fast alles bist, was möglich ist. Ich glaube, wenn sie dir im Gefängnis sagen, dass du zehn Jahre bleiben wirst, dann stirbst du. Aber du hast dort auch einen Ort des Kampfes, du versuchst, dich nicht fertigmachen zu lassen. Während der Militärdiktatur haben sie vor allem versucht, dich zu brechen, dich mit psychischem oder physischem Druck, mit der Isolierung von deiner Familie oder damit, dich allein essen zu lassen, mit allem Möglichen innerlich zu brechen. Also ist dein Raum des Kampfes, dass sie das nicht schaffen.
1976 kam es erneut zum Putsch. General Videla führte fortan seinen Schmutzigen Krieg (guerra sucia) gegen Regimegegner. Erst 1983 kam mit Präsident Alfonsín die Demokratie zurück ins Land, und Argemí wurde infolgedessen 1984 freigelassen. Auf politische Vergeltungsmaßnahmen verzichteten er und seine Leidensgenossen jedoch, um die junge Demokratie nicht zu gefährden:
Als das Land 1983 mit Präsident Alfonsín zur Demokratie zurückkehrte, hatten diejenigen, die gefangen gewesen waren, viele offene Rechnungen zu begleichen. Wir wurden alle auf die eine oder andere Weise gefoltert. Viele haben – ich zum Glück nicht – Mutter, Vater, Geschwister verloren. Sie waren tot oder für immer verschwunden. Aber wir waren politisch, also steckst du dir deine offenen Rechnungen in die Hosentasche.
Nach einer kurzen Übergangszeit in Buenos Aires, während der er auch für die Zeitungen Claves und Le monde diplomatique schrieb, arbeitete Argemí fünfzehn Jahre lang als Journalist der Tageszeitung Río Negro in Patagonien (General Roca). Hier entstanden die Romane Los muertos siempre pierden los zapatos (veröffentlicht 2002) und El Gordo, el Francés y el Ratón Pérez (1996). In Los muertos siempre pierden los zapatos ermittelt ein Journalist und Ex-Guerillero zusammen mit seinem jungen Kollegen in einer Sache, in der Politik und Verbrechen unauflöslich verschmelzen. In dem erzähltechnisch wenig überraschenden Roman geben eine Vielzahl von Personen, Erinnerungen und Action-Szenen einen Vorgeschmack auf die nachfolgenden, viel stringenter konzipierten Romane. El Gordo, el Francés y el Ratón Pérez wurde bisher nur in Argentinien veröffentlicht. Der Roman erzählt die überaus makabre Geschichte einer Entführung, bei der es ursprünglich nur um Geld gehen sollte. Sie endet aber mit der brutalen Massakrierung eines reichen Firmeninhabers, der fast die ganze Stadt ökonomisch beherrscht. Der zu oft in seinem Leben gedemütigte Lakai im grünen Kittel, El Gordo (der Dicke), sieht dabei die Chance, einmal auf der anderen Seite der Macht zu stehen. Psychologisch und gesellschaftlich interessant erdacht, bietet der Roman viel Raum für Reflexion über die Konsequenzen von Gewalt.
Ebenfalls während seiner Zeit in Patagonien begann Argemí mit den Arbeiten an Penúltimo nombre de guerra (2004; dt. Chamäleon Cacho, 2008) und Patagonia Chu Chu (2005). Jedoch erst als er im Jahr 2000 nach Spanien umzog, konnte er diese beiden Romane beenden. Chamäleon Cacho ist sein am stringentesten konstruierter und komplexester Roman, der drei wahre Geschichten miteinander kreuzt und ihnen in ihrer fiktiven Synthese einen neuen Sinn verleiht. Der Protagonist Cacho verfügt über die besondere Gabe, andere Menschen bis zur Perfektion nachzuahmen. Während der Diktatur hat er so als falscher Militär politische Häftlinge gefoltert, und in der Demokratie versucht er, durch sein chamäleonhaftes Versteckspiel einer Strafe für seine Verbrechen zu entrinnen:
Es war für mich sehr schwer, diesen Roman zu schreiben. Ich habe acht Jahre lang immer wieder daran gearbeitet, weil ich ihn verdauen musste. Die einfachste Erklärung für das Verhalten von Cacho wäre, dass Folterer Psychopathen sind. Aber so ist es nicht. Das Schlimmste an ihnen ist, dass sie keine Psychopathen sind. In der Mehrzahl der Fälle verhalten sie sich wie Beamte. Von soundsoviel bis soundsoviel Uhr foltern sie, und von soundsoviel bis soundsoviel Uhr sehen sie mit ihren Kindern fern oder gehen zu einem Fußballspiel. Die Angelegenheit ist also noch viel wahnsinniger. Da fragt man sich: Sind wir sehr weit weg von dieser Art von Beamten? Und darüber wollte ich schreiben, eine Untersuchung dessen, was im Kopf des Folterers vorgeht.
Patagonia Chu Chu liest sich hingegen wie eine humoristische Mischung aus Abenteuerroman und patagonischem Western, ganz im Gegensatz zu der Ernsthaftigkeit, Härte und Brutalität der vorhergehenden Romane. Zwei Gangster, die eigentlich gar keine sind, überfallen einen Zug mit einer altmodischen, kleinen Dampflok in einem nostalgisch anmutenden Setting. Sie wollen den Bruder des einen befreien, der von einem Gefängnis in ein anderes verlegt werden soll. Argemí erklärt diese Änderung im Tonfall:
Bevor ich nach Spanien kam, hatte ich schon mit Patagonia Chu Chu angefangen. Der Roman konnte zwei unterschiedliche Wege einschlagen, einen sehr unangenehmen und einen sympathischen. Als ich dann Chamäleon Cacho beendete, spürte ich die Notwendigkeit, Patagonia Chu Chu in der sympathischen Weise zu schreiben, weil ich die Bösewichte satthatte. Ich wollte einen Roman schreiben, in dem alle Figuren liebenswert waren, sodass mir und dem Leser das Buch Spaß machen würde.
Die Idee zum darauffolgenden Roman entstand bereits im Gefängnis. Siempre la misma música (2006; dt. Und der Engel spielt dein Lied, 2010) erzählt die Geschichte gemeiner Verbrecher, die sich zu Zeiten der Diktatur mit der Politik verbünden müssen, um ihre Geschäfte weiter tätigen zu können. Da hinein mischt sich ein tödlich endender Konflikt zwischen zwei Männern, dem Boss einer kleinen mafiosen Organisation und einem seiner Handlanger. Und der Engel spielt dein Lied verfügt über eine ähnliche Sogwirkung wie Chamäleon Cacho. Auch hier bedient sich Argemí wieder mehrerer Erzählperspektiven, Zeitebenen und präzise verknüpfter Handlungsstränge, die den Leser nicht nur hervorragend unterhalten, sondern fast wie nebenbei auch viel über Argentinien erzählen:
Die Idee zu Und der Engel spielt dein Lied kam mir, als ich gefangen war und wir ein bisschen Kontakt zu gemeinen Gefangenen hatten. Mir fiel auf, wie diese Typen in einer politischen Situation lebten, die ihnen völlig fremd war und sie einen Dreck interessierte, die aber Auswirkungen auf ihre Geschäfte hatte. Die Guerilla hatte die Straßen eingenommen, und dadurch wurden ihre Machenschaften schwieriger. Dazu kam, dass sich die Militärdiktatur über den illegalen Handel mit was auch immer beschwerte. Die Geschichte handelt eigentlich nicht von Marginalisierten, sondern von Marginalisierten in dieser Situation, in der sie sich gezwungen sehen, hohe Politik zu betreiben, um zu überleben, und nicht, weil sie sich für Politik interessieren.
Argemí las als Kind und Jugendlicher viele Abenteuerromane (Verne, Salgari) sowie Agatha Christie, die ihn irgendwann langweilte. Erst Chandler stellte für ihn ein Schlüsselerlebnis dar:
In einem bestimmten Alter in der Pubertät beginnt man – vor allem in der Dritten Welt – ein implizites soziales Bewusstsein zu entwickeln. Man hat das Gefühl, dass alles den Bach runtergeht. Und auf einmal erklärt dir Chandler ein paar Dinge. Man beginnt zu verstehen, dass die Polizei immer gegen einen ist, und Chandler erklärt dir das.
Meistens schreibt Argemí seine Romane aus der Täterperspektive. Einen Vertreter des Gesetzes als Protagonisten und Fokus der Erzählung kann er sich in Argentinien nicht vorstellen:
Als ich anfing, Kriminalromane zu schreiben, bemerkte ich, dass ich keine Lust hatte, sie mit einem Protagonisten zu schreiben, der Polizist war, weil ich Polizisten nicht mochte, oder einem Privatdetektiv, weil ich sie noch weniger mochte. Diese Figuren sind in Südamerika einfach nicht glaubwürdig.
Die Unmöglichkeit, an Gerechtigkeit zu glauben, unterscheidet ihn grundlegend von seinem Vorbild Chandler. In Argemís Romanen geht es vielmehr um die Mechanismen einer systematischen, institutionalisierten Ungleichheit und Ungerechtigkeit:
Philip Marlowe ist eine Figur, die an Gerechtigkeit glaubt; er glaubt, dass Gerechtigkeit möglich ist, und er ärgert sich darüber, dass die Richter sie nicht durchsetzen. Auf der anderen Seite weißt du in Lateinamerika, dass sie sie nicht durchsetzen werden, da das hier gegen die Natur wäre.
Argemí beschreibt den aktuellen lateinamerikanischen Kriminalroman als den sozialen Roman unserer Zeit. Das Genre eigne sich besonders gut dafür, die Gewalt, die er in seinem Land erlebt hat, in der Literatur zu verarbeiten:
Die Geschichten, die ich im Grunde in all meinen Romanen erzähle, haben mit impliziter Gewalt zu tun, der Gewalt des Alltags. Und ich glaube, dass der Kriminalroman die beste Art und Weise ist, davon zu erzählen.
Von Raúl Argemí wird in den nächsten Jahren noch oft die Rede sein. Er ist ein großer Könner auf dem Gebiet der vielschichtigen Handlungsführung mit raffinierten Vor- und Rückblenden und sinnstiftender Perspektivierung. Seine Romane sind durchtränkt von einer politisch desaströsen Zeit, von der man hierzulande wenig zu wissen scheint, die jedoch in ihrer literarischen Aufarbeitung weit über Argentinien hinaus wirkt, wiederholen sich doch Gräueltaten wie Folter und verfassungswidrige Inhaftierungen in allen möglichen Ländern, die unter autoritären Regimen leiden oder sich im Krieg befinden. Das Politische und Historische stehen jedoch in Argemís Romanen nie im Vordergrund. Sie bilden vielmehr die Folie, vor der die Figuren agieren und ihre zugleich persönlichen wie auch symptomatischen Konflikte austragen. So bleiben seine Bücher immer das, was sie sein wollen: Kriminalromane (und keine politischen Pamphlete). Vordergründig geht es oft um völlig unpolitische Verbrechen wie Drogenschmuggel, Geldwäsche oder Entführung und um die Frage, wie und warum sich ein beliebiger Mensch in eine Situation begibt, in der er Schuld auf sich lädt. Im Hintergrund sind diese Taten jedoch mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen verknüpft und werden durch den besonderen Kontext erst erklärbar.
Aus: Titel-Magazin, 20.09.2008. Nach einem Interview von Doris Wieser mit Raúl Argemí vom 28.08.2008.