Die Türkei erlebte im 20. Jahrhundert eine Zeit stürmischer revolutionärer Umwälzungen. In unserer Anthologie kommen Zeitzeugen dieses Geschehens zu Wort. Es sind subjektive, authentische Texte: Presseartikel, Reden, Tagebücher, Memoiren, Geschichten und einige längere resümierende Artikel von engagierten zeitgenössischen Intellektuellen, denen die Probleme ihres Landes am Herzen liegen. Man spürt den Atem der Geschichte. Viele wichtige Mitspieler des historischen Dramas treten ins Rampenlicht. Die Texte sind weitgehend chronologisch angeordnet und nach Themenkomplexen gebündelt. Sie spiegeln zusammengesehen mosaikartig einen komplexen historischen Prozess: Nach der Auflösung des osmanischen Vielvölkerreiches zieht sich das Problem des türkischen Nationalismus wie ein roter Faden durch die türkische Geschichte, eng verknüpft mit naheliegenden Themen wie der Behandlung der ethnischen und religiösen Minderheiten, der abrupten Verwestlichung der Gesellschaft durch die kemalistische Kulturrevolution von oben, die den Bruch mit der orientalischen Tradition bewusst herbeiführen sollte, eng damit verbunden sind auch die Säkularisierung durch die Schließung religiöser Institutionen und die Frauenemanzipation. Doch um die Mitte des Jahrhunderts setzte eine gegenläufige Dynamik ein. Viele Intellektuelle empfanden einen Identitätsverlust und begaben sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln, während parallel dazu das religiöse Bedürfnis breiter Schichten allmählich zu einer Re-Islamisierung der Gesellschaft führte. Dieses historische Spannungsverhältnis beherrscht mit allen seinen Widersprüchen noch heute die türkische Gesellschaft, die auch nach hundert Jahren nicht zur Ruhe kommt.
Dieser Band bietet auch den kulturhistorischen Kontext zu den literarischen Werken der Türkischen Bibliothek, wobei andererseits die Romane der klassischen Moderne als ergänzende Lektüre zu empfehlen sind. Als Prolog steht ein Gedicht, das im Jahr 1902 die Gemüter bewegte. Eine wortgewaltige, pathetische Hymne und zugleich ein Schmähgedicht auf eine der schönsten Städte der Welt: Konstantinopel-Istanbul, seit 1453 die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, das sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch über drei Kontinente erstreckte, aber schon als »Kranker Mann am Bosporus« in den letzten Zügen lag.
Die westlich inspirierten, »wohltätigen Reformen« (Tanzimat-i Hayriye), die seit 1837 das durch militärische Niederlagen geschwächte Reich heilen sollten, hatten die osmanische Gesellschaft verändert. Westlich gebildete Offiziere, Beamte und Dichter trotzten Sultan Abdülhamit II. 1876 eine Verfassung ab, die er aber nach wenigen Monaten wieder suspendierte. Abdülhamit war durch die permanente Staatsverschuldung und die ökonomischen Zugeständnisse an die Europäer in deren Abhängigkeit geraten. Er führte zwar neben den bestehenden traditionellen, islamischen auch westlich orientierte Schulen und Hochschulen ein, an denen Französisch gelehrt wurde, und machte sich moderne Errungenschaften wie Elektrizität und Eisenbahnen zunutze, doch der krankhaft misstrauische Monarch stützte sich auf ein effektives Spitzelsystem und eine Zensurbehörde, die die Presse in Schach hielt und die Stimmen der kritischen Literaten zum Schweigen brachte. Diese bedrückende geistige Atmosphäre symbolisiert der Nebel (Sis) in Tevfik Fikrets Gedicht, der dicht und lähmend über der Stadt liegt.
Doch eines Morgens im Juli 1908 wollen die Istanbuler ihren Augen nicht trauen: Zwischen den gewohnten, langweiligen Verlautbarungen des Hofes in den gleich geschalteten Zeitungen steht eine unscheinbare Nachricht, die bald wie eine Bombe explodiert. Der Sultan hatte die Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt. Was war geschehen? Hüseyin Cahit und Falih Rifki beschreiben sehr lebendig diese eigenartige »revolutionäre Atmosphäre« von 1908. Es war der erste Militärputsch im 20. Jahrhundert: Junge türkische Offiziere, die in Saloniki stationiert waren und dem damaligen Geheimbund Einheit und Fortschritt angehörten, waren nach Istanbul marschiert und hatten dem Sultan dieses Zugeständnis abgerungen. Man nennt die Zeit zwischen 1908 und 1918 die Jungtürkenzeit oder die Zweite Konstitutionelle Periode. Doch bevor sich ein verfassungsgemäßes demokratisches System konsolidieren konnte, mussten die Jungtürken eine religiöse Konterrevolution niederschlagen, zwei Kriege auf dem Balkan führen, Aufstände in den arabischen Provinzen und Überfälle westlicher Mächte auf osmanische Territorien in Afrika abwehren. Denn die Europäer hatten schon heimlich das Erbe des »Kranken Mannes« als Beute unter sich aufgeteilt und waren an einem Erstarken des Osmanischen Reiches nicht interessiert. Das Zeitalter des Nationalismus hielt nun auch im Vielvölkerreich der Osmanen Einzug. Die Völkerschaften, die unter seinem Dach versammelt waren und lange Zeit in relativer Harmonie miteinander gelebt hatten, verfolgten nun ihre eigenen nationalen Ziele. Aber das geistige Leben in Istanbul blühte auf, Zeitungen und Zeitschriften überschwemmten den Markt, und auch die türkischen Intellektuellen, die sich bislang nicht als Türken, sondern als Osmanen definiert hatten, suchten nach einer identitätsstiftenden Geisteshaltung. Geradezu rührend beschreibt Ömer Seyfettin (Die Flaggen der Freiheit) den Traum eines jungen Offiziers vom völkerübergreifenden osmanischen Patriotismus. Ideologien, wie der Panislamismus mit dem osmanischen Kalifen an der Spitze, der kosmopolitische Osmanismus und der Turkismus beziehungweise Panturkismus standen zur Debatte. Aus den von Türken bewohnten Gebieten im zaristischen Russland kamen Intellektuelle wie Ahmet Agaoglu, Yusuf Akçura und Sadri Maksudi Arsal nach Istanbul und versuchten durch Artikel und Vorträge das ethnische Bewusstsein der osmanischen Türken zu wecken. Ein Forum für geistige Auseinandersetzungen wurde der Türken-Herd (Türk Ocai), ein Klub, in dem Vorträge gehalten wurden, wobei unter der Zuhörerschaft und den Rednern bald auch Frauen waren. In der Jungtürkenzeit gab es die ersten Emanzipationsbestrebungen, und das Erziehungssystem wurde von Frauen wie Halide Edip, Nakiye Elgün und Nezihe Muhittin reformiert.
Doch der Erste Weltkrieg, in den sich die jungtürkischen Führer (Enver Pasa, Talât Pasa und Cemâl Pasa) an der Seite Deutschlands einmischten, führte zur militärischen Katastrophe und damit zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Die jungtürkischen Führer befleckten in diesem Krieg die türkische Ehre, indem sie sich der grausamen Armenierverfolgung schuldig machten. Sie flohen 1918 nach Deutschland. Lange Zeit unbeachtete frühe Texte über die armenische Thematik von Hüseyin Cahit und Falih Rifki zeigen, wie selbst Persönlichkeiten, die den Jungtürken nahestanden (Hüseyin Cahit und Halide Edip), ihren Abscheu über diese Gräuel nicht verbergen konnten. Alle Territorien außer Anatolien und einem kleinen Gebiet in Rumelien gingen dem Reich verloren. Die alliierten Mächte waren begierig, ihre längst vorbereiteten Aufteilungspläne zu verwirklichen. Die Zeit zwischen 1918 und 1923 nennt man die Zeit des Waffenstillstands (Mütareke), in der die Sultansstadt und die osmanische Regierung unter der Kuratel fremder Mächte standen, die die nicht türkischen, nicht muslimischen Bevölkerungsteile in ihren Animositäten gegen die Türken bestärkten und sie für ihre Pläne instrumentalisierten. Süreyya Agaoglu beschreibt, wie sie als rebellische Halbwüchsige diese Besatzungszeit erlebt, nachdem ihr Vater Ahmet Agaoglu, wie viele andere türkische Patrioten, von den Alliierten als Sympathisant der Jungtürken nach Malta deportiert worden war. Als am 14. Mai 1919 unter dem Schutz der Entente-Mächte griechische Truppen in ¥zmir einfielen, schlug der türkische Patriotismus erstmals hohe Wogen. Auch Halide Edip und Nakiye Elgün hielten flammende Reden auf öffentlichen Plätzen gegen die Ungerechtigkeit der Westmächte, die vor Abschluss eines Friedensvertrags vollendete Tatsachen schaffen wollten. In Anatolien regte sich Widerstand, und am 19. Mai 1919 landete Mustafa Kemal Pasa, der sich 1915 als heldenhafter Kommandeur im Krieg an der Dardanellenfront bewährt hatte, in Samsun am Schwarzen Meer. Er hatte den offiziellen Auftrag von der Sultansregierung, die osmanische Restarmee in Anatolien zu inspizieren und die aufflammenden Aufstandsbewegungen unter Kontrolle zu bringen. Doch wie er in einer in diesem Band abgedruckten Passage aus seiner berühmten Rechtfertigungsrede von 1927 ausführt, hatte er angeblich bereits damals das Ziel vor Augen, das osmanische Sultanat und Kalifat abzuschaffen, eine demokratische Regierung zu ermöglichen und dem türkischen Volk damit die Souveränität zu übertragen. Diese Ideale wurden durch vorbereitende Kongresse in Erzurum und Sivas und die Wahl und Einberufung einer Nationalversammlung sowie die Bildung einer nationalen Regierung in dem zentralanatolischen Provinzstädtchen Ankara sukzessive verwirklicht. Damit stellte sich Ankara gegen den osmanischen Sultan und Kalifen Vâhitettin, der mit den Besatzungsmächten kollaborierte und durch eine Fetwa des Seyhülislam die Führer der Nationalbewegung, neben Mustafa Kemal u.a. auch Halide Edip und ihren Gatten Dr. Adnan Adivar, zum Tode verurteilen ließ. Aus dem besetzten Istanbul strömten national gesinnte Helfer herbei. Der Schriftsteller Yakup Kadri, der als Berichterstatter für Istanbuler Zeitungen nach Anatolien zog, beschreibt die unterschiedliche Atmosphäre der Jahre 1920/21 in der unterdrückten Sultansstadt Istanbul und in Ankara, der Hochburg der Nationalisten.
Zunächst musste aber Anatolien von den Feinden befreit werden. Innerhalb von drei Jahren gelang es Mustafa Kemal und seinen Mitstreitern in einer unglaublichen Kraftanstrengung, die inneranatolischen Kämpfe für die nationale Sache zu entscheiden und die Griechen 1922 wieder aus Anatolien und Izmir zu vertreiben. Damals wurde ihm der Ehrentitel Gazi, heldenhafter Frontkämpfer, verliehen. Diese Ereignisse werden von Halide Edip, die in Ankara und an der Front in unmittelbarer Nähe des Führungsstabs als Journalistin und Soldatin mitwirkte, in ihren Erinnerungen Mein Weg durchs Feuer, die auch in der Türkischen Bibliothek erschienen sind, detailliert beschrieben. Wie Halide Edip äußern sich auch andere Persönlichkeiten, die damals eine wichtige Rolle spielten, wie etwa der General Kazim Karabekir und Dr. Riza Nur (er hatte verschiedene Ministerämter inne), in ihren erst später publizierten Memoiren sehr kritisch über Mustafa Kemals Vorgehen und den Tenor seiner Rechtfertigungsrede, in der er alle Erfolge sich selbst zuschreibt.
Doch die unermüdliche Willenskraft, das Durchsetzungsvermögen und taktische Geschick Mustafa Kemals befähigten ihn zu der Führungsposition, die er nun übernahm. Das Scheitern des kosmopolitischen, multiethnischen, multilingualen osmanischen Vielvölkerstaats machte die Erfindung des türkischen Nationalismus zu einer dringlichen Aufgabe. Mustafa Kemals Vision war ein säkularer, monoethnischer, türkischer Nationalstaat, der eingebunden war in die westliche Zivilisation. Mithilfe der Ankaraner Nationalversammlung schaffte er 1922 das Sultanat ab, rief 1923 die Republik und Ankara zu ihrer Hauptstadt aus und annullierte 1924 das Kalifat. Der freiwillige Verwestlichungstrend bei vielen gebildeten Osmanen der Tanzimat-Zeit wurde nun zu einer von oben verordneten Verpflichtung für alle türkischen Bürger. Mustafa Kemal bemühte sich jedoch zunächst, die islamische Religion für die nationalen Interessen zu nutzen. Das zeigen seine Freitagspredigt in Balikesir und der Bericht des Koranlesers Yasar Okur über die Türkisierung des Gebetsrufes (Ezan).
Die türkischen Intellektuellen, die schon in der Jungtürkenzeit im Istanbuler Türken-Herd um eine tragfähige nationale Ideologie gerungen hatten, scharten sich in Ankara um den Republikgründer: Falih Rifki Atay, Rusen Esref Ünaydin, Yakup Kadri Karaosmanoglu, Hasan Cemil Çambel sowie die oben genannten Russland-Türken gehörten zu den häufigen Gästen in der berühmten Tischrunde. Sie erzählen selbst aus ihren Erinnerungen, die durch ihren panegyrischen Stil wesentlich zum Atatürk-Mythos beitrugen, aber vor allem wird diese Zeit von ihren Töchtern, Süreyya Agaoglu und Adile Ayda, lebendig geschildert. Texte von Frauen sind in unserem Band zahlreich vertreten, fühlten sie sich doch als »Töchter der Republik«, die nun in der Öffentlichkeit wirkten und alle Berufe ergreifen durften. Sabiha Gökçen, Atatürks Ziehtochter, wurde sogar eine anerkannte Pilotin.
Mustafa Kemal, der zwar endlose anregende Gespräche über alle ihn umtreibenden Themenbereiche führte und oft Spezialisten in die nächtliche Runde herbeiholen ließ, pflegte einen autoritären Führungsstil und traf nach intensivem Brainstorming schließlich seine Entscheidungen doch selbstherrlich. Einer der kritischen Geister, der Journalist Zekeriya Sertel, der mit seiner Frau Sabiha später die linke Presse in Istanbul repäsentierte, schildert eine solche Tischrundensitzung aus seiner Perspektive. Wie Mustafa Kemal in seiner Rede selbst andeutet, konnten manche seiner alten Freunde und Kameraden diese so folgenreichen, aber meistens spontan und unerwartet gefassten Beschlüsse nicht guten Gewissens mittragen. So waren bald nach der Republikgründung einige der alten Gefährten nach dem versuchten Attentat auf Mustafa Kemal 1926 in Izmir zum Tode verurteilt oder verbannt worden oder waren wie Halide Edip und ihr Mann Adnan Adivar freiwillig ins Exil gegangen. Zwei Versuche, ein demokratisches Mehrparteiensystem einzuführen, waren gescheitert, doch Mustafa Kemal, der seit der Einführung der Nachnamen 1934 nur noch Atatürk, Vater der Türken, genannt wurde, blieb - wie die Nachrufe zeigen - bis zu seinem Tode und darüber hinaus der von vielen hochverehrte, ja vergötterte Retter des Vaterlands und segensreiche Reformator. Selbst der Sozialist Zekeriya Sertel zollt ihm im Rückblick Respekt für seine Lebensleistung.
Mustafa Kemals Reformwerk, das er in den 1920er- und 1930er-Jahren mit außerordentlicher, atemberaubender Konsequenz verwirklichte, betraf nicht nur das Rechtswesen und die Religion, sondern alle Bereiche des Alltagslebens. Einen recht umfassenden Überblick über die Auswirkungen der Reformen in einer eher konservativen Familie bietet Nezih Neyzi in seinen Erinnerungen aus der Villa in Kiziltoprak in Kadiköy. Ganz besonderen Wert haben wir darauf gelegt, von den Zeitzeugen etwas über die Folgen des Alphabetwechsels (1928) und der forcierten Sprachreform für die Entwicklung der modernen türkischen Literatur zu erfahren. Der rigorose Bruch mit der literarischen Tradition der osmanischen Zeit führte dazu, dass die jüngeren Generationen die alten Texte gar nicht mehr lesen konnten. Wie schwer es war, unter diesen Bedingungen aus dem Nichts mit einer permanent künstlich bearbeiteten Sprache eine neue türkische Literatur von Weltgeltung zu schaffen, bringt uns die abwägende Rede des Dichters Ozansoy 1935 vor den Schülern des Galatasaray-Gymnasiums nahe. Der Westen applaudierte der Türkei Atatürks. Wie Ozansoy voller Stolz bemerkt, schrieb damals eine französische Zeitung, die junge Türkei habe »sechs Jahrhunderte in zwölf Jahren« übersprungen. Aber aus der Perspektive des anatolischen Metris-Hügels, wie sie mitten im Befreiungskrieg von den Feldherren vorgegeben und von Yahya Kemal und Yakup Kadri im Feuer nationaler Begeisterung durch den Artikel Die drei Hügel ins historische Licht gerückt worden war, ließ sich dann doch nicht so einfach ein nationales Epos von Rang schreiben. Wie Adile Ayda berichtet, äußerte sich Mustafa Kemal recht unzufrieden gegenüber dem Nationaldichter (Millî Sair) Mehmet Emin, der in Ankara einfach nicht produktiv genug war. Trotz aller Gesetze und Verordnungen aus Ankara lebte die einfache Bevölkerung weiter im traditionellen Milieu, das fest verwurzelte Patriarchat verhinderte in konservativen Familien die Frauenemanzipation, und wenigen gelang es wirklich, die nun vorgegebenen westlichen Werte zu verinnerlichen. Da auch die jungen Lehrer bei allem guten Willen die westlichen Reformen nur halb verdaut hatten, wurde viel Verwirrung in den Köpfen angerichtet. Eine sehr aufschlussreiche Hintergrundlektüre über die Probleme der frühen Republikjahre bietet Adalet Agaoglus Roman Sich hinlegen und sterben, der in der Türkischen Bibliothek vorliegt.
Der Republikgründer selbst hatte wohl erkannt, dass es nötig war, eine Hochschulreform durchzuführen, um sein Projekt der tief greifenden Verwestlichung nicht scheitern zu lassen. Das ließ sich mit den verfügbaren einheimischen Hochschullehrern kaum erreichen. Daher wurde eine ganze Reihe von deutschen Professoren, die als Juden oder Antifaschisten im Dritten Reich unerwünscht waren, in die Türkei berufen, um in Istanbul und Ankara an den Hochschulen zu unterrichten. In den Erinnerungen ihrer türkischen Studentinnen und Studenten (Mina Urgan, Azra Erhat, Niyazi Berkes) entsteht ein vielschichtiges Bild dieses Unternehmens. Eine andere Perspektive auf das türkische Hochschulleben, nämlich auf die Technische Universität, vermittelt der in der Türkischen Bibliothek erschienene biografische Roman Der Mathematiker von Oguz Atay über den Gelehrten Mustafa Inan, der den mühevollen Aufstieg über die kargen Internate der anatolischen Provinz und ein Studium in Zürich zur internationalen Kapazität geschafft hatte.
Einige türkische Intellektuelle, die auf Staatskosten im westlichen Ausland studiert hatten und die säkulare, westlich orientierte Politik des Republikgründers grundsätzlich bejahten, beklagten gleichzeitig aber den Verlust einer kontinuierlichen eigenen Tradition. Allmählich wurde die rigorose Verwestlichungspolitik wohl doch als eine Art Gehirnwäsche empfunden. Die Suche nach den eigenen Wurzeln und einem nationalen Geschichtsbewusstsein beginnt bei Sabahattin Eyuboglu schon im Todesjahr Atatürks 1938. Der Freundeskreis, den er um sich scharte, arbeitete enthusiastisch an den kulturpolitischen Aktivitäten des Erziehungsministers Hasan-Âli Yücel mit, der 1938-1945 unter Inönu amtierte. Yücel initiierte das Projekt des literarischen Übersetzungsbüros in Ankara, wo die herausragenden Werke der Weltliteratur von bekannten Schriftstellern, wie etwa Orhan Veli und Sabahattin Ali, ins Türkische übertragen wurden, und er beförderte die Einrichtung von Dorfinstituten, die endlich auch den Kindern in den anatolischen Dörfern eine gediegene Schulbildung vermitteln sollten. Der Bericht eines der Absolventen dieser Dorfinstitute, des Schriftstellers Talip Apaydin, zeigt einerseits die rückständige Haltung vieler Verantwortlicher im anatolischen Hinterland, die die Dorfinstitute misstrauisch beobachteten, und andererseits das Engagement der Idealisten um Eyuboglu, die hohe Ansprüche an die Dorfjugend stellten und anscheinend auf begeisterten Widerhall stießen. Dieses vielversprechende Projekt verlief nach 1946 im Sande, als mit der Gründung der Demokratischen Partei (DP) und ihrer Propaganda allen sozial engagierten Persönlichkeiten eine linke Gesinnung unterstellt wurde. Aber der Kreis um Eyuboglu ließ sich nicht entmutigen. Zusammen mit dem Althistoriker und Schriftsteller Halikarnas Balikçisi und der Altphilologin Azra Erhat trat er für einen türkischen, sogenannten Blauen Humanismus ein, der das kemalistische Geschichtsbild, das vor allem an der zentralasiatischen Herkunft der Türken orientiert war, variierte. Azra Erhat, eine glühende Verehrerin Atatürks, war mutig genug, dessen berühmte nationalistische Formel »Wie glücklich, wer sagen kann, ich bin Türke« abzuwandeln in den Satz: »Wie glücklich, wer sagen kann, ich stamme aus Anatolien.« Damit konnte der unheilvolle monoethnische, monolinguale türkische Nationalismus unterlaufen werden. Alle Kinder Anatoliens, angefangen bei den Hethitern, waren Vorfahren und Brüder der Türken. Die Geschichte Anatoliens war die Geschichte der Türken. Zentralasien lag so unendlich fern, aber auch Anatolien war den Istanbuler Intellektuellen lange fremd geblieben. Es musste erst geistig erobert werden. Eyuboglus Freundeskreis rief Blaue Fahrten in die Ägäis ins Leben, die bis heute in dessen Tradition fortgeführt werden. Man wollte sich die griechische Kultur Kleinasiens, die inzwischen nach Meinung der türkischen Humanisten mit der islamisch-mystischen Religiosität (Mevlana, Yunus Emre) verschmolzen war, selbst aneignen und nicht durch ein christlich geprägtes Antikenbild des Westens vermitteln lassen. Murat Belge kritisiert zwar diese Ideen als eine konstruierte Ideologie, bejaht aber die Proklamation der historischen Kontinuität, weil sie auch die osmanische Geschichte einbezieht, die von den frühen kemalistischen Ideologen, ebenso wie die osmanische Sprache und Literatur, verunglimpft und negiert worden war.
Auch der westlich gebildete Literaturhistoriker, Dichter und Romancier Ahmet Hamdi Tanpinar begab sich auf die Suche nach der verlorenen osmanischen Kulturtradition. Sein Artikel über die Vorbereitung der 500-Jahr-Feier der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen 1953 zeigt eindringlich, wie er diese Stadt liebte, die zugunsten Ankaras in der Republikzeit vernachlässigt worden war. In seinem Roman Seelenfrieden, der auch in der Türkischen Bibliothek erschienen ist, macht er die schmerzliche Zerrissenheit zwischen den zwei Welten, der westlichen und der östlichen, in der Geisteshaltung seines Protagonisten Mümtaz vor allem am Beispiel der Musik spürbar. Diese intellektuellen Bemühungen, ein türkisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen, das auf historischer Kontinuität beruhte, waren weder antiwestlich noch antikemalistisch. Vielmehr hätte der selbstbewusste Rückgriff auf die Geschichte des multikulturellen osmanischen Vielvölkerreiches die Härten des monoethnischen, monolingualen Nationalismus mildern können.
Doch in der Zeit nach Einführung des Mehrparteiensystems 1946 und während der Regierungszeit der Demokratischen Partei wurde die Minderheitenpolitik aggressiver, wie die Berichte über die wohl vom faschistischen Deutschland inspirierte Vermögenssteuer zeigen, die den Nichtmuslimen, besonders den Juden, auferlegt wurde. Hinzu kamen das antigriechische Pogrom im September 1955 und der auf die Minderheiten ausgeübte Zwang, Türkisch zu sprechen. Zudem wurde auch bald ein antikemalistischer, populistischer Zug in der Religionspolitik deutlich. Der Dichter Orhan Veli bemerkt ironisch und bestürzt zugleich, dass die erste Maßnahme der Menderes-Regierung die Wiedereinführung des arabischen Gebetsrufs war und befürchtet, dass nun bald die Verunglimpfung aller säkularen Geister erfolgen werde. Falih Rifki zieht schon Anfang der 1960er-Jahre die bittere Bilanz, dass seit der Einführung des Mehrparteiensystems durch Zugeständnisse an die religiösen Gefühle breiter Schichten die säkularen Reformen Atatürks, die die Türkei aus dem Mittelalter in die westliche Zivilisation führen sollten, gescheitert seien, denn die Religion sei wieder fest verankert im türkischen Schulsystem und die Türkei wieder ein Land der Derwische und Scheiche.
Die Kommunistenfurcht, die trotz des Bündnisses der Ankaraner Nationalregierung mit der Sowjetunion, das schon im Befreiungskrieg geschlossen wurde, immer latent vorhanden war, steigerte sich nach 1950 fast zur Paranoia. Nâzim Hikmets Schicksal, das uns seine Freunde, die Sertels, schildern, steht am Anfang dieser Entwicklung. Auch die Sertels selbst, in deren Zeitschrift Tan freimütig über Demokratie und Sozialismus debattiert wurde, mussten 1950 das Land verlassen. Selbst so harmlosen Gemütern wie den Blauen Humanisten wurde eine sozialistische Gesinnung nachgesagt. Die Schilderung Vedat Günyols über die Babeuf-Affäre ist ein einzigartiges Zeugnis dieser irrationalen Politik.
Die Innenpolitik der Türkei wurde seit 1960 von Militärputschen bestimmt. Im Zehnjahresrhythmus übernahm das Militär die Macht und schaltete kurzfristig die Parteien aus. Das Eingreifen des Militärs in den Jahren 1960, 1971 und 1980 wird von den Intellektuellen verschieden beurteilt. Es richtete sich gegen linke, religiöse und partikularistische Bestrebungen, die angeblich die Einheit der Türkei und die säkularen kemalistischen Errungenschaften gefährdeten. Das Militär gilt daher als Hüter des Kemalismus, aber im Einzelnen bleiben das Vorgehen des Militärs und seine Motive undurchschaubar. Wir haben einen Artikel des Juristen und Literaten Tahir Abaci ausgewählt, der die Militärputsche im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Literatur behandelt. Der Aufruf der Schriftstellerin und Journalistin Oya Baydar richtet sich an die Intellektuellen ihrer Generation, die sich trotz der bösen Erfahrungen mit Militärputschen nicht deutlich genug von einem angeblich geplanten Putsch durch die sogenannte Ergenekon-Gruppe distanziert haben. Dieser Artikel von 2009 ist noch aktuell. Dabei zeigt sich deutlich, wie gespalten die türkische Gesellschaft heute ist. Die nationalistischen Kemalisten und die alten Linken sind sich einig in der Ablehnung der Re-Islamisierung. In diesem Zusammenhang fürchten sie die neue gebildete Schicht, die aus Anatolien in die Städte gezogen ist und durch deren religiöse Haltung der Islam in der Politik wieder mehr Macht gewonnen hat. Das zeigen die Wahlerfolge der AKP unter Tayyip Erdogan und Abdullah Gül seit 2002.
Den »alten Eliten« ist vor allem die islamische Frauenbewegung unheimlich. Nermin Abadan-Unat, eine Frauenforscherin und Feministin der ersten Stunde, verteidigt die kemalistische Frauenpolitik, während türkische Neofeministinnen eine Instrumentalisierung der Frauen in der frühen Republik herausstreichen und dagegen die Selbstbestimmung junger muslimischer Frauen anerkennen, die aus eigenem Antrieb das Kopftuch tragen. Unter den islamischen Intellektuellen ragt die Schriftstellerin und Journalistin Cihan Aktas hervor, deren Artikel die Probleme und das Ansehen Kopftuch tragender muslimischer Studentinnen behandelt. Der Dichter und Politologe Ismet Özel, der vom Kommunismus zum Islamismus konvertierte, sieht die verwestlichte Schicht der türkischen Intellektuellen, die in einem permanenten, unheilbaren geistigen Zwiespalt leben, als leere, charakterlose Wesen. Für ihn ist die bedingungslose Hinwendung zum Islam der einzige Ausweg.
Es erscheint wie ein Lichtblick, dass nach der Öffnung der Türkei in die globale Welt seit den späten 1980er-Jahren viele Tabuthemen, die jahrzehntelang verdrängt worden waren, allmählich zur Sprache kommen. So wurden die Erinnerungen von Fethiye Çetin an ihre armenische Großmutter und deren grausames Schicksal ein Erfolg in der Türkei. Auch der kurdische Schriftsteller Mehmed Uzun konnte an die volkstümlichen kurdischen Erzähltraditionen anknüpfen und sogar in kurdischer Sprache schreiben. Reha Çamuroglu repräsentiert die große Gruppe der Aleviten, der Ali-Verehrer, die ihre synkretistischen religiösen Traditionen fast vergessen hatten, weil sie jahrhundertelang (ausgenommen in der Zeit des Befreiungskrieges) von der sunnitischen Mehrheit ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Çamuroglu beschreibt die verschiedenen Definitionen des Alevitentums, die nach der Renaissance, die es seit 1989 erlebte, im Schwange sind und eine Spaltung der Aleviten herbeigeführt haben.
Den Abschluss unseres Bandes bildet ein bemerkenswerter Essay des marxistischen Kulturkritikers Murat Belge, der vor allem den türkischen Nationalismus kritisch beleuchtet und in diesem Zusammenhang auch die Kurdenproblematik historisch untersucht. Er spricht die Hoffnung aus, dass die Menschheit durch eine zukünftige globale Gesellschaft aus der Sackgasse des Nationalismus gerettet werden kann. Für einen marxistischen Denker scheint es erstaunlich, dass er den multikulturellen Vielvölkerstaat der Osmanen als das vormoderne Modell einer kosmopolitischen Gesellschaft gelten lässt. Damit hat sich der Kreis geschlossen.
In unseren vielen Treffen in Istanbul und Freiburg haben wir versucht, aus einer Fülle faszinierender Texte eine Auswahl zusammenzustellen, die die letzten hundert Jahre der türkischen Geschichte lebendig machen. Wir selbst haben dabei viel Überraschendes entdeckt und hoffen, dass auch die Leser die Lektüre genießen und von diesen ganz persönlich gehaltenen Aufzeichnungen und Reflexionen angerührt, erheitert und belehrt werden.
Von Hülya Adak und Erika Glassen