In den Ego-Dokumenten, die den Übergang vom Osmanischen Reich zur Republik illustrieren, sticht ein Werk hinsichtlich seiner kritischen Einstellung bezüglich der Deportationen besonders hervor: Halide Edib Adivars Memoirs of Halide Edib, 1926 in englischer Sprache in England und in den Vereinigten Staaten erschienen. Diesen Memoiren zufolge hat Halide Edib 1916 vor ungefähr 700 Personen einen Vortrag vor dem Türkischen Herd (Türk Ocagi), einer pan-turanistischen Organisation, gehalten, in dem sie die Deportationen und Massaker verurteilte. Einige der Unionisten verlangten von Talat Pasa, Halide Edip dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Da Talat Pasa ein guter Freund von Halide Edip war, weigerte er sich jedoch. Interessanterweise wurde sie unmittelbar nach diesem Vortrag nach Syrien geschickt, um in der Region die Schulen zu reformieren. In den Memoiren wird diese Reise als »erzwungener Auftrag« beschrieben, zweifelsohne eine Umschreibung für den Begriff Exil.
Obwohl 1915 die Deportationen stattfanden, schreibt Halide Edip, dass sie an ihrer engen Beziehung zu dem herausragenden armenischen Komponisten Komtas Vartabet festhielt. Eines Tages spielte Goumitas Halide Edip eine Melodie vor, die er zur Begleitung der biblischen Hymnen vorbereitete, er wählte dazu den Psalm 101. »Und er begann zu singen. Doch bald trat an die Stelle der religiösen Andacht ein Ausdruck von Schmerz, Zorn und Auflehnung. Als er zum Schluss kam, erhob er sich langsam und sang mit donnernder Stimme und hoch aufgesteckten Armen. Ich erschrak, und als ich in der Bibel nachschlug, stieß ich auf die letzten Zeilen des Psalms 101, in denen David von der Ausrottung aller Übeltäter singt. Auch Komitas schien verstört, so als schämte er sich nach diesem Ausbruch. Wir ahnten, dass wir einander tief in die Seelen geschaut hatten. Dabei war uns zugleich das ständig wachsende armenische und türkische Leid, die ständig anschwellende Flut vergossenen armenischen und türkischen Blutes bewusst.
Im Jahre 1915 gelang es dem Türkischen Herd, Komitas das Exil zu ersparen, doch schon im Jahr darauf erlitt er einen psychischen Zusammenbruch. Doktor Adnan sprach bei Talât Pasa vor, und so wurde Komitas zur Behandlung nach Paris geschickt. Dort soll er in einer Nervenheilanstalt gestorben sein.«
An eine nicht-türkische Leserschaft gerichtet und möglicherweise mit der Vorstellung, dass die Erwähnung von Deportationen den Blick auf das Thema zu einseitig erscheinen ließe, konzentriert sich Halide Edip in dem Abschnitt, der auf diese Passage folgt, auf das Leiden der Muslime. Einen Tag nach ihrem Vortrag, der die Unionisten erbost hatte, erhält sie ein Buch, das die von den Armeniern gegen die türkische Seite begangenen Greuel dokumentiert. Halide Edip behauptet, dieses Buch belege, dass der Gewalt genau so viele muslimische wie armenische Leben zum Opfer gefallen waren. In beiden Fällen entfernt sich Halide Edip von ihrem rein kritischen Standpunkt und geht Kompromisse ein, indem sie die Deportationen als »gegenseitige Massaker« bezeichnet, als »armenisch-türkische Massaker«. »Sie haben uns dasselbe angetan«, lautet ihr Argument. Soweit ihr Bericht im Englischen. In den als Das glyzinienumrankte Haus (Mor Salkimli Ev) in den Sechzigerjahren ins Türkische übersetzen Memoiren ist der größere Teil dieser Inhalte zensiert worden.
Halide Edip anerkennt, dass sie eine Nationalistin ist, jedoch eine, die Gewalt und Krieg gegenüber höchst kritisch eingestellt ist. Auch wenn sie keine klaren politischen Lösungen zur Verhinderung von Krieg und Gewalt anbieten kann, hinterfragt sie immerhin, ob es nicht ein Widerspruch sei, sich für die Möglichkeit eines »pazifistischen Nationalismus« einzusetzen.
Aus: Adak, Hülya: »The Protracted Purging of the Tyranny of Nationalism (Turkish Egoducuments and the Possibilities of Armenian-Turkish Reconciliation)«, in: Hans-Lukas Kieser, Elmar Plozza (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. / The Armenian Genocide, Turkey and Europe. Chronos Verlag, Zürich 2006, S. 110f.
Aus dem Englischen von Lorenz Oehler
Zitat aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen