Claudia Piñeiro wird als neuer leuchtender Stern am argentinischen Literaturhimmel gehandelt. Klaus Jetz sprach mit ihr über lateinamerikanische und argentinische Literatur und ihr belletristisches Werk.
Frau Piñeiro, welche Kriterien sind es, die eine(n) Autor(in) über die Grenzen des Landes hinaus bekannt machen?
Ausländische Verleger interessieren sich meist für Autoren, die etwas zu erzählen haben, die Geschichten erzählen. In Argentinien haben wir eine lange Tradition des Experimentierens mit Stil und Sprache. Aber diese Literatur hat es meist schwerer, weil sie nur von wenigen Leuten gelesen wird. Großen Erfolg in Europa hatten unsere großen Erzähler, Autoren wie Borges und Cortázar erlangten einen hohen Bekanntheitsgrad. Heute aber sind es Romanautoren, die gelesen werden. Und die ausländischen Verleger gehen auf Nummer sicher: Sie suchen nach Romanen mit landestypischen Besonderheiten und zugleich mit universeller Thematik, denn die Leser sollen mitfühlen, sich mit den Romanpersonen identifizieren können.
Warum entstanden so viele argentinische Meisterwerke außerhalb Argentiniens? Woher rührt diese Außenansicht? Hat sich das mittlerweile geändert?
Viele Autoren mussten während der letzten Militärdiktatur das Land verlassen, viele kehrten danach zurück, andere nicht. Ich glaube, diese Vorstellung, dass die wichtigsten Werke im Ausland entstehen, ist ein Überbleibsel der aus den 70er und 80er Jahren. Heute ist das anders, aber in den Köpfen lebt diese Vorstellung weiter. Viele argentinische Autoren lebten, schrieben und publizierten im Exil in Mexiko, in Spanien oder in Frankreich. Zu Hause gab es Zensur, es wurde kaum etwas veröffentlicht. Diese Vorstellung von der Außenansicht, glaube ich, geht auf diesen historischen Kontext zurück.
Gibt es eigentlich einen nennenswerten Literaturaustausch zwischen den lateinamerikanischen Ländern? Schreiben argentinische Autoren eher für den Binnenmarkt, für ein lateinamerikanisches oder eher für ein europäisches Publikum?
Vor einigen Monaten wurde in Kolumbien eine Liste mit den bekanntesten 39 lateinamerikanischen Autoren unter 39 Jahren erstellt. Ich sah mir die Liste an und kannte nur vier oder fünf Namen, unter anderem einen befreundeten Autor aus Argentinien. Dem zeigte ich die Liste, und auch er kannte fast niemanden. Es gibt fast keinen Literaturaustausch zwischen den Ländern Lateinamerikas. Manchmal schämt man sich, weil man in andere lateinamerikanische Länder reist, zwar die Klassiker kennt, nicht aber die zeitgenössischen Autoren. Mir scheint es, dass mehr Austausch mit Europa stattfindet als zwischen den Ländern des Subkontinentes. Selbst die zeitgenössische Literatur Uruguays kennt man kaum in Argentinien, obwohl man nur den Fluss überqueren muss. Wir sollten eigentlich unseren Austausch intensivieren, uns dafür interessieren, was in den anderen Ländern in literarischer Hinsicht passiert.
Warum schreiben Sie? Warum haben Sie Ihren alten Beruf, Wirtschaftsprüferin, aufgegeben?
Ich habe immer geschrieben, aber es ist nicht leicht, in Argentinien von der Literatur zu leben. Das ist in anderen Ländern sicher auch so. Solange man nicht bekannt ist und regelmäßig publiziert, muss man noch etwas anderes machen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So kommt es, dass der eine im Hauptberuf Mathematiker ist, der andere Historiker oder wie ich früher eben Wirtschaftsprüferin.
Schreiben Sie Frauenliteratur? Gibt es in Ihrem Werk typische Frauenthemen?
Wir Schriftstellerinnen meinen, dass unsere Literatur universell sein sollte, wir machen keine Frauenliteratur oder Literatur für Frauen. Natürlich liest eine Frau Kafkas Brief an den Vater anders als ein Mann. Und ein Mann liest eine Mutter-Tochter-Beziehung anders als eine Frau. Ich meine, dass wir Literatur schreiben und dass die Klassifizierungen uns dann von anderen übergestülpt werden. Der Protagonist in meinem letzten Roman Die Donnerstagswitwen ist ein Mann, und ich habe mich bemüht, aus der Sicht eines Mannes zu schreiben. Ich hoffe, dass es mir einigermaßen gelungen ist.
Fühlen Sie sich einer literarischen Generation zugehörig? Stehen Sie in engem Austausch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen? Welche sind Ihrer Meinung nach die Besten?
Ich gehöre zu einer Zwischengeneration, habe Kontakt zu jüngeren und älteren Autoren. Zu den älteren, mit denen ich in Kontakt stehe, gehören Juan Martini oder Eduardo Belgrano Rawson, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Bei den jüngeren handelt es sich um Kollegen, die gerade erst in Anthologien veröffentlicht werden. Es gibt in Argentinien diese Tradition des literarischen Austausches unter Kollegen. Das Alter spielt aber keine Rolle, weil wir uns seelenverwandt fühlen, die gleiche Sprache sprechen und ähnliche Interessen haben.
Welche Autor(inn)en hatten Einfluss auf Sie, auf Ihr Werk?
Hier könnte ich alle nennen, die ich gelesen habe, denn alle ihre Werke hatten einen Einfluss auf mich. Aber wenn ich einen besonders erwähnen soll, der Einfluss auf meine Romane hatte, dann würde ich Manuel Puig nennen. Er weist einige Charakteristika auf, an denen ich mich orientieren konnte. Er thematisierte diese kleinen Welten, die Welt der Frauen, was passiert, wenn man ein Haus betritt, die Tür schließt, was darin vorgeht. Er war Drehbuchautor, wie ich, hatte also auch diesen sehr filmischen Blick auf die Dinge, er war Dramaturg, auch ich bin Dramaturgin. Mir gefiel sein Umgang mit der Sprache, das Umgangssprachliche, die sorgfältige Ausarbeitung der Dialoge, die sprachliche Wahrhaftigkeit in seinem Werk, all das hat Eindruck auf mich gemacht und mich beeinflusst. Von den Ausländern würde ich Proust nennen. Zwar schreibe ich nicht wie Proust, aber ich genieße diese Lektüre, und sie hilft mir bei der Umsetzung von Beschreibungen und Darstellungen. Auch englische Autoren haben mich beeinflusst, David Lodge zum Beispiel, der ein sehr ironischer Autor ist, oder J. M. Coetzee aus Südafrika, dem ich mich sehr nahe fühle. Er ist zwar Afrikaner, aber dieser Kontinent hat ebenso viele Probleme wie Lateinamerika. Wenn er über Afrika schreibt, fühle ich mich ihm sehr nahe. Und dann sind da noch Klassiker zu nennen wie Tschechow oder Kafka, deren Einfluss auf mein Werk sicher nicht zu leugnen ist.
Würden Sie sagen, dass die heutigen Autor(inn)en sich emanzipiert haben von der langen argentinischen Erzähltradition, den großen Vorbildern wie Borges und Cortázar? Wen bevorzugen Sie, Borges oder Cortázar?
Ich glaube, dass wir ganz anders schreiben. Niemand schreibt wie Borges, der war ein Genie. Meine Generation sieht in den beiden noch die Vorbilder und Meister. Die Generation nach mir hat sich bereits mehr entfernt, sich weiter emanzipiert, die Verbindung gekappt, obwohl das kaum möglich ist wegen der Omnipräsenz der beiden Autoren und ihrer Werke. Wahrscheinlich hat das mit dem ungestümen Drang der Jugend nach Unabhängigkeit zu tun. Als Leserin mag ich beide in gleicher Weise, obwohl sie sich sehr unterscheiden. Borges ist schwerer zu lesen, die Lektüre von Cortázar ist schneller, aber beide sind genial und zählen zu den bedeutendsten Autoren der Weltliteratur.
Sind Ihre Themen argentinisch oder universell?
Ich glaube, sie sind argentinisch, können aber auch universell gedacht werden. Als der Roman Die Donnerstagswitwen erschien, schrieb die spanische Autorin Rosa Montero in El País, dieses Ambiente des abgeschotteten Familienlebens in städtischen Siedlungen oder Ghettos des Wohlstands erinnere sie an die Abschottung Europas gegen Afrika, an die Festung Europa, die krampfhaft versuche, ihren Wohlstand gegen den Ansturm der Elenden zu verteidigen. Natürlich geht es in dem Roman um die argentinische Wirtschaftskrise der 90er Jahre, den Bankrott von 2001, eine Krise, die Argentinien wahrscheinlich viel schlimmer getroffen hat, als die derzeitige weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Die europäischen Leser werden die Folgen der Arbeitslosigkeit und des Wohlstandsverlustes, die ich in meinem Roman beschreibe, heute viel besser nachvollziehen können.
Gibt es autobiografische Elemente in Ihrem Werk? Welche?
Ja, die gibt es immer, Eigenschaften, die man von sich kennt und an die bösen und guten Romanpersonen weitergibt. Die Mutter in Elena weiß Bescheid leidet an Parkinson. Auch meine Mutter hatte Parkinson. Das heißt aber nicht, dass Elena meine Mutter ist oder ihr ähnlich ist. Ich kenne die Krankheit eben sehr gut, ihre Auswirkungen auf den Körper, den Patienten, auf die ganze Familie. Die Krankheit meiner Mutter, die ich intensiv aus der Nähe verfolgt habe, hat auch mein Leben beeinflusst und ist Teil desselben.
Das ist also der Grund für die perfekte Beschreibung einer in ihrem Körper gefangenen Frau?
Ja, meine Mutter litt und starb an Parkinson. Und ich lebte und litt mit ihr, konnte die Krankheit und ihre Symptome aus der Nähe beobachten. Natürlich habe ich viel über Parkinson gelesen, alles, was ich in die Hände bekam, im Internet fand. Aber ich glaube, dass man mit einem Parkinson-Patienten zusammenleben muss, um die Krankheit im Detail und realistisch beschreiben zu können.
Welcher Ihrer Romane kommt dem Krimi am nächsten?
Ganz die Deine sicherlich, da das zentrale Verbrechen, der Mord an der Sekretärin, bis zum Schluss eine Rolle spielt. In Elena weiß Bescheid und Die Donnerstagswitwen ist die Aufklärung von Verbrechen zweitrangig. Es geht nicht darum, einen Täter zu ermitteln oder die Umstände eines Verbrechens aufzuklären. Ich schreibe keine Kriminalromane, benutze aber Elemente des Krimis als Vehikel, um soziale Probleme zu thematisieren.
Was erzählen Sie uns in Die Donnerstagswitwen, Ihrem dritten Roman, der in deutscher Übersetzung erscheint?
Ende der 1990er Jahre, als die Wirtschaftskrise auf ihren Höhepunkt zusteuert, werden außerhalb von Buenos Aires, auf dem Gelände eines vornehmen Wohnkomplexes, drei Leichen im Pool gefunden. Drei tote Männer, die ertrunken sind und deren Schicksal sich keiner erklären kann. In Rückblicken erzähle ich die letzten zehn Jahre ihres Lebens, die Geschichte und Geschicke ihrer Familien, Begebenheiten, die in die 90er Jahre zurückreichen und die schließlich erklären, wie es zu diesem tragischen Ende gekommen ist.
Welche Rolle spielt die letzte Militärdiktatur in Ihrem Werk?
Ich schreibe über die heutige Zeit oder die Wirtschaftskrise der 90er Jahre, und die ist nicht losgelöst von der Militärdiktatur zu sehen. Bis in die heutige Zeit wirft die Diktatur ihre Schatten, und das fließt auch in meine Romane ein, beeinflusst die Personen in meinen Romanen, die alle die Diktatur erlebt haben. In Die Donnerstagswitwen etwa spielen die Toten eine Rolle, die noch immer überall verscharrt liegen. Wir wissen um die Massengräber, die Toten in den Flüssen. In dem Roman stoßen Bauarbeiter in Buenos Aires auf Skelette. Diese Szene ist als Metapher der Militärdiktatur zu sehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Piñeiro.