Wenn wir das Reich der Schlangenkönigin Sahmeran betreten, geraten wir in eine magische Welt, wo Zauberkräfte walten, die unser Gefühl für Raum und Zeit verwirren. Die Grenzen zwischen der realen Welt, die mit ihrer banalen Wirklichkeit und einem wackligen topografischen Gerüst durchaus noch wahrnehmbar bleibt, und der fantastischen Welt, in der den »Menschenkindern« – wie die Schlangenkönigin uns nennt – Feen, Riesen, Dämonen, sprechende Tiere, Zwitterwesen, Engel, Propheten und Heilige begegnen, sind durchlässig. Als Grenzübergänge dienen etwa der Brunnen, den Sahmeran als Honigspeicher nutzt, und die chinesische Mauer, deren einzige Pforte nur der Engel Gabriel oder der Prophet Hızır zu öffnen vermag. Sahmeran hat ihren Sommersitz am Berg Kaf, auf dem der Wundervogel Simurg alias Zümrüt Anka zu landen pflegt, der ab und zu auch verirrte Menschenkinder transportiert, und wo, wie wir aus der Geschichte Noahs erfahren, auch die Arche gestrandet ist. Diese verwunschene Welt der orientalischen Märchen ist uns aus Tausendundeine Nacht vertraut. In dem verwirrend heterogenen, unerschöpflichen arabischen Erzählwerk wird beeindruckend dokumentiert, dass die muslimischen Völker der Araber, Perser, Türken, Inder u.a., die heute in unabhängigen Nationalstaaten auch kulturell ihre eigenen Wege gehen, in vormoderner Zeit eine reiche, gemeinsame Märchen- und Mythentradition pflegten. Das haben sie auch ihrem heiligen Buch, dem Koran, zu verdanken, in dem, wie Goethe im West-östlichen Divan hervorhebt, manches »Märchenhafte« zu finden ist. Besonders die Passagen über das Leben der Propheten Noah, Abraham, Salomo und Josef bilden die Grundlage für fantastische, volkstümliche Erzählungen. Die Existenz der Dschinnen (Dämonen) ist durch den Koran belegt, man begegnet Zulkarneyn, dem Zweigehörnten (also Alexander dem Großen), der vom Wasser des Lebens getrunken hat, und erfährt von Salomos Fähigkeit, die Sprache der Vögel zu verstehen. Selbst der Begriff des »verrückten Dichters«, als »Mecnun« auch bei den Türken zur Metapher für den wahnsinnigen Liebenden geworden, stammt aus dem heiligen Buch. Ja, die 12. Sure, die Josefs Schicksal gewidmet ist und in der Allah dem Propheten zu Anfang mitteilt, er werde ihm jetzt die »schönste Geschichte« offenbaren, hat später persische und türkische Dichter zu umfangreichen Epen über das Liebespaar »Josef und Suleika« angeregt.
Der rudimentäre Charakter vieler Geschichten im heiligen Buch ermutigte die Autoren der Korankommentare, der Überlieferungsliteratur und der Prophetengeschichten zu ausschmückenden Ergänzungen, und diese sekundäre religiöse Traditionsliteratur wurde viel beliebter beim einfachen Volk als der Koran, weil sie von Predigern oft mündlich überliefert, aber bald auch in die anderen islamischen Kultursprachen übertragen wurde. Denn das heilige arabische Buch durfte ja nicht übersetzt werden, was zur Folge hatte, dass die nicht arabischen Muslime die auswendig gelernten Verse wie Zauberformeln murmelten.
Das heilige Buch in arabischer Sprache und die Dominanz der Araber führten dazu, dass die besiegten Völker nach ihrer Bekehrung erst relativ spät eigene islamische Literatursprachen entwickelten. Das gilt auch für die Iraner und die aus Zentralasien westwärts gewanderten Türken, deren Geschichte und Literatur uns hier interessiert. Wenn wir die Entwicklungsgeschichte der osmanisch-türkischen Sprache und Literatur verfolgen, fällt auf, dass der Einfluss der persischen Literatur auf die türkische ganz besonders prägend wirkte. Das hat geografische und historische Gründe. Schon in vorislamischer Zeit kamen die Iraner mit den Turkvölkern in Transoxanien in Berührung.
Dort haben Türken die islamische religiöse Tradition weitgehend von den Persern übernommen, die früh zum Islam übergetreten waren. In den von islamisierten Türken errichteten Fürstentümern waren dann oft iranische Wesire tonangebend und setzten das Persische als Amtssprache durch. Türkische Herrscher wirkten als Mäzene persischer Dichter und beschleunigten dadurch den Prozess der Etablierung des Neupersischen zur zweiten Literatursprache des Islam. Diese enge politisch-kulturelle Symbiose, die Iraner und Türken schon in Zentralasien und Horasan verband und die wechselseitig befruchtend wirkte, wurde nach der Westwanderung der oguzisch-türkischen Stämme, zu denen die Seldschuken und Osmanen gehörten, in Kleinasien sogar gefestigt. Die Islamisierung und Türkisierung Kleinasiens war ein langer Prozess, der mit dem Sieg der Großseldschuken über ein großes byzantinisches Heer bei Malazgirt 1071 begann. Noch vor dem vollständigen Zusammenbruch des Byzantinischen Reiches konnte sich in der mittelanatolischen Stadt Konya im 13. Jahrhundert unter den türkischen Seldschuken ein kulturelles Zentrum herausbilden, in dem die persische Sprache und Literatur gepflegt wurden. Dort wirkte der große persische Dichter Celâleddîn Rûmî, der mit seinem Vater vor dem Mongolensturm aus Balch geflohen war. Die Türken nannten ihn liebevoll Mevlânâ, unseren Herrn, denn sein mystisches Epos, kurz Mesnevî (das Doppeltgereimte) genannt, wurde neben dem Koran fast zu einem heiligen Buch für die Perser und besonders die Türken. Wie erwiesen ist, hat Mevlânâ in seinem Mesnevî viele volkstümliche Geschichten aus seiner neuen Heimat Anatolien verarbeitet. Der nach ihm benannte Sufi-Orden der Mevlevîs, der tanzenden Derwische, galt immer als tolerant. Kleinasien war ja seit eh und je ein Schmelztiegel der verschiedenen Ethnien und Religionen, und die Glaubensvorstellungen und Bräuche der einheimischen Griechen, Armenier, Kurden und anderer vermischten sich mit denen, die Türken aus Zentralasien importiert hatten. Der von allen Türken hochverehrte Yunus Emre (etwa 1240–1320) gehört zu den volkstümlichen Dichtern sufischer Prägung. Auch die unserem Band vorangestellten Tekerleme-Gedichte stammen aus diesem Milieu der frühen anatolischen Mystik.
Seit dem 14. Jahrhundert gewannen die Osmanen, ein anderer oguzisch-türkischer Stamm, allmählich die Oberhand in Kleinasien und in weiten Teilen des Balkans; ein Siegeszug, der in der entscheidenden Niederlage der Byzantiner und der Eroberung Konstantinopels 1453 gipfelte. Am Hofe der Osmanen in der neuen Hauptstadt Istanbul wurde dann das Osmanisch-Türkische endgültig zu einer anerkannten islamischen Kultursprache. Aber die osmanischen Türken blieben auf dem Gebiet der Literatur immer iranophil, selbst als sich die beiden Völker seit der Gründung des zwölferschiitischen Safawidenreiches Iran um 1500 politisch und religiös feindselig gegenüberstanden. Die osmanisch-türkische höfische Poesie, die sogenannte Diwan-Dichtung, die einer Mischsprache mit vielen Lehnwörtern aus dem Arabischen und Persischen und einer raffinierten Poetologie huldigte, ja sogar das quantitierende Aruz-Metrum übernahm, blieb eine Domäne der gebildeten Schicht. Die Gattungen der klassischen islamischen Literaturen der Araber und Perser wurden nachgeahmt und abgewandelt. Dazu gehörten die Gedichtformen (Kasside, Gazel, Vierzeiler) und auch die von den Persern geschaffenen gereimten Epen (Mesnevî), wie das Heldenepos, das mystische Lehrgedicht und besonders die beliebten romantischen Epen, in denen die Schicksale berühmter Liebespaare dargestellt wurden. Daneben blühte in Anatolien eine reiche volkstümliche Poesie und Erzählkunst in einfacher türkischer Sprache, die lange auf mündlicher Überlieferung beruhte und stark von der islamischen Mystik geprägt war. Doch auch auf dieser volkstümlichen Ebene wurden in den Themen und Motiven vielfältige Ursprungselemente aus dem ganzen islamischen Kulturbereich und dem heimischen Umfeld kaleidoskopartig vermischt.
Diese kurze historische Darstellung der verwickelten kulturpolitischen Konstellationen in der multiethnischen islamischen Welt kann vielleicht verdeutlichen, wie schwer es ist, genuin türkische Traditionen in Anatolien auszumachen. Dazu kommt, dass die gebildeten Osmanlıs an der Volksliteratur wenig interessiert waren. Sie disqualifizierten die türkische Umgangssprache noch im 19. Jahrhundert verächtlich als grobes Türkisch (Kaba Türkçe), ja sie wollten selbst nicht gerne als Türken bezeichnet werden. So nimmt es nicht wunder, dass die volkskundliche Forschung erst spät einsetzte und zunächst von westlichen Turkologen betrieben wurde. Bahnbrechend wirkte der Ungar Ignacz Kunos, der in Budapest bei Hermann Vambery Turkologie studiert hatte und als junger idealistischer Gelehrter auszog, um in Istanbul Zeugnisse türkischer Volksliteratur zu sammeln. In einer Vorlesungsreihe über »Die Türkische Volksliteratur« beschreibt er vor türkischen Studenten der frühen Republikzeit (1925/26) detailliert seine frustrierenden Erfahrungen und ersten Erfolge in den Jahren 1885 bis 1890. Dieser authentische autobiografische Bericht ist eine unschätzbare historische Quelle, aus der wir erfahren, wie es um die Rezeption der volkstümlichen Literatur im spätosmanischen Reich bestellt war. Süleyman Efendi, der angesehene Scheich der Özbeken-Tekke in Istanbul/Üsküdar, wo die zentralasiatischen Türken auf ihrer Pilgerreise nach Mekka haltzumachen pflegten, machte Kunos wenig Hoffnung, volkstümliche Literatur im Osmanenreich zu finden, und vertraute ihm an: »Die Osmanlıs sind Muslime, keine Nationalisten.« (Osmanlılar ehl-i Islamdır, ehl-i millet degildir.) Doch Kunos ließ nicht locker. Als Erstes gelang es ihm, Lieder (Türkü) – auch mit politischen Anspielungen –, Wiegenlieder (Ninni) und Wechselgesänge (Mani) im »nationalen« türkischen, Silben zählenden, akzentuierenden Versmaß aufzuzeichnen. Im heiligen Monat Ramadan verbrachte er fast jede Nacht nach dem Fastenbrechen in einem Café in Istanbul/Aksaray, wo er das türkische Schattenspiel und seine Hauptfiguren Karagöz und Hacµvat kennen und lieben lernte. Er veröffentlichte bald die Übersetzung einiger Stücke, die er mithilfe türkischer Bekannter aufgezeichnet hatte. Das Pendant zum Schattenspiel, das Spiel der Mitte (Orta Oyunu) mit echten Schauspielern, war unter Abdülhamid II. in Istanbul verboten. Kunos reiste extra nach Eskisehir, um das Orta Oyunu persönlich zu erleben.
Aber Kunos, der die deutschen Hausmärchen der Gebrüder Grimm kannte, hatte sich in den Kopf gesetzt, türkische Märchen (Masal) zu sammeln und aufzuschreiben. Es mutet fast grotesk an, dass er im literarischen Salon der eleganten Dichterin Nigar Hanım (1862–1919) in Beisein des damaligen Erziehungsministers Münif Pascha (1828–1910) und des bekannten Schriftstellers Recaizade Mahmut Ekrem (1847–1914), einer der prominentesten osmanisch-türkischen Romanschreiber, also in einem Kreis von Intellektuellen, die sich westlichen Ideen zugewandt hatten, auf die ersten türkischen Volksmärchen stieß. Denn der junge Kunos brachte durch sein enthusiastisches Eintreten für die türkische Volkssprache – er gab einige Lieder (Türkü), die er gesammelt hatte, zum Besten – diesen reservierten Literatenkreis zum Nachdenken. Als er klagte, wie verzweifelt er auf der Suche nach Volksmärchen (Masal) sei, meldete sich schüchtern aus dem Hintergrund die betagte Mutter der Nigar Hanım. Auf Drängen der Gäste erzählte nun die alte Dame, nicht ohne die unverzichtbare Tekerleme-Einleitung, das Märchen vom Holzfäller. Kunos war begeistert und zeichnete Tekerleme und Märchen sorgfältig auf. Er ermahnte die osmanischen Literaten, indem er Goethe und die Brüder Grimm als Vorbilder hinstellte, sich um die eigenen volkstümlichen Schätze zu kümmern.
Die kreative Neugier und die Erfolge von Kunos wirkten nicht nur auf die Literaten anregend, sondern seine Publikationen in deutscher und ungarischer Sprache setzten die türkische Volkskunde in Gang. Das war ein spannender Prozess. Zuerst sammelten westliche Turkologen, darunter auch deutsche, wie Georg Jacob, Theodor Menzel und Otto Spies, türkische volkstümliche Literatur, vor allem Märchen, und publizierten sie in deutscher Sprache. Aber allmählich zeigten auch türkische Verlage Interesse. Seit Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete man mündlich überlieferte Texte auf und verbreitete sie in osmanischen Steindrucken. Der deutsche Orientalist Hellmut Ritter weilte als Militäradjutant im Ersten Weltkrieg in Istanbul und ließ sich vom letzten Hofschattenspieler der osmanischen Sultane einen ganzen Ramadan-Zyklus der Karagöz-Schattenspiele diktieren und veröffentlichte ihn nach und nach zweisprachig in drei Bänden. Solche Aktivitäten wurden dann in der Republikzeit (seit 1923) staatlich gefördert, denn unter der Flagge des türkischen Nationalismus wurde das volkstümliche nationale Erbe gepflegt, während die komplizierte osmanische Hochsprache und die Diwan-Literatur in Ungnade fielen. So führten die rigorose Sprachreform, durch die arabische und persische Wörter ausgemerzt werden sollten, und die Übernahme des leicht abgewandelten lateinischen Alphabets 1928, die diese Operation beschleunigten, dazu, die hohe Literatur der Osmanen vergessen zu lassen. Davon waren sogar die ersten türkischen Romane, die stolzen Produkte einer verwestlichten Literatenschicht, betroffen. Es war eine verkehrte Welt, denn statt dieser Romane kamen viele der Ende des 19. Jahrhunderts bereits in arabischer Schrift aufgezeichneten Volksbücher früh zu der Ehre, in Lateinschrift übertragen zu werden. Der Buchmarkt war damals nach der Alphabetreform schlecht bestückt, und die einfache Sprache dieser volkstümlichen Erzählungen lag im offiziellen Trend. Sie konnten den neu alphabetisierten breiten Schichten zur ersten Lektüre dienen.
Hier ist ein Wort angebracht zu den Eigennamen in den volkstümlichen türkischen Texten. In den Lateinschriftfassungen sind sie oft verballhornt. Aber allein die Tatsache, dass die Türken einen so reichen Vokalvorrat haben und diesen bei der Lesung der ohne Vokale geschriebenen arabischen Schrift mehr oder weniger willkürlich einsetzen, dass sie die emphatischen arabischen Konsonanten (d und t) wie ein stimmhaftes s (geschrieben z) aussprechen und dass sie keine Konsonantenhäufungen lieben, führt zur Verfremdung arabischer und persischer Begriffe und Eigennamen, man könnte auch sagen, so geschah allmählich und fast unbemerkt die Türkisierung gesamt-islamischer Stoffe. Zu den produktivsten türkischen Forschern auf dem Gebiet der Volkskunde gehörte Pertev Naili Boratav (1908–1989), der seit den 1930er-Jahren Texte aus allen Sparten der Volksliteratur sammelte und publizierte sowie Studien darüber verfasste. Einen Höhepunkt seiner Arbeit bildet das 1953 zusammen mit Wolfram Eberhard herausgebrachte Standardwerk Typen türkischer Volksmärchen. Ein großer Teil des gängigen Bestands türkischer Volksmärchen war damals gesammelt, in verschiedenen Sprachen publiziert oder im Ankaraner Institut für Volkskunde, dem Boratav bis zu seiner Emigration 1945 (er wurde als Kommunist verdächtigt) vorstand, archiviert. Boratav konnte seine Forschungen in Paris am CNRS (Centre national de la recherche scientifique) fortsetzen. Auch in deutscher Sprache liegen inzwischen verschiedene Sammlungen türkischer Märchen vor. Boratav hat dazu mit seinem Band Türkische Volksmärchen, der 1973 im Akademie Verlag Berlin in der damaligen DDR publiziert wurde, beigetragen.
Die Türkische Bibliothek, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die moderne türkische Literatur seit 1900 in herausragenden Werken zu präsentieren, folgt logischerweise ihrer Hauptströmung, die den Verwestlichungsprozess nachzeichnet, der das geistige Leben der Türkei im 20. Jahrhundert bestimmte. Doch wir möchten unsere Leser auch mit einer Auswahl traditioneller Stoffe bekannt machen, die man vielleicht als poetischen Urquell der anatolischen Mentalität bezeichnen darf, aus dem alle Schichten der Bevölkerung ihre frühen literarischen Bedürfnisse gestillt haben, auch die modernen türkischen Schriftsteller. Wie das Beispiel von Nigar Hanıms Mutter zeigt und die Memoiren hochgestellter Persönlichkeiten verraten, waren es die Mütter und Großmütter sowie die Bediensteten verschiedener ethnischer Herkunft in den Herrenhäusern, die den Kindern den Märchen- und Liedschatz Anatoliens nahebrachten. Obwohl der Mitherausgeber dieses Bandes, Hasan Özdemir, an der Universität Ankara wie Boratav intensiv Märchenforschung betrieben und aus mündlicher Überlieferung selbst neue Texte zusammengetragen und archiviert hat, haben wir uns entschlossen, nicht einen weiteren Märchenband herauszugeben, sondern ein anderes Genre der Volksliteratur in den Vordergrund zu stellen, nämlich die sogenannten Volksromane oder Volksbücher, die, wie bereits erwähnt, seit Ende des 19. Jahrhunderts gedruckt wurden, aber außer in akademischen Zweckschriften anscheinend noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Diese Texte waren ursprünglich nicht für die Lektüre und den Hausgebrauch bestimmt, sondern wurden von professionellen, mimischen Märchenerzählern oder Sängern (Barden oder Troubadouren), die sich selbst als Asıks (Liebende) bezeichneten, zur Saz vorgetragen. Diese kleinen, zunächst mit primitiven Zeichnungen und später mit knalligen Titelblättern und Bildern ausgestatteten Heftchen scheinen sehr beliebt gewesen zu sein. In den spätosmanischen Drucken sind meist zwei Erzählungen enthalten, eine im Zentrum und die andere um den Rand herum geschrieben. Sie erlebten auch in Lateinschrift, oft von darauf spezialisierten, namentlich genannten Autoren nacherzählt, viele Auflagen und wurden in Moscheehöfen und von fliegenden Händlern verkauft.
Zu den beliebtesten türkischen Volksromanen gehört die Erzählung von der Schlangenkönigin Sahmeran. Die Geschichte von dem Jüngling Camsap und der Schlangenkönigin ist im Gegensatz zu den meist einfach, fast schematisch strukturierten türkischen Märchen und Volksbüchern ein komplexes Gebilde, zusammengehalten von einer Rahmenerzählung wie in Tausendundeine Nacht, wo übrigens Seherezad auch die Geschichte von Sahmeran erzählt. Diese Geschichte hatte nämlich schon eine lange literarische Karriere hinter sich, bevor sie auf das Niveau einer türkischen Volkserzählung herabgesunken ist, ohne dabei ihren Charme eingebüßt zu haben. Ihr Schicksal demonstriert exemplarisch den engen Zusammenhang der arabischen, persischen und türkischen Literaturen und die Durchlässigkeit der Sprachgrenzen im islamischen Raum für populäre Stoffe und deren Flexibilität. Die literarischen Spuren führen zurück auf einen vorislamischen mittelpersischen Kern. Das Gemeinsame mit späteren Versionen ist die Figur eines Weisen oder Wesirs Camasp (das türkische Camsap ist eine typische Verlesung wegen Konsonantenhäufung). In dieser frühen Schicht des Camaspname (Buch des Camasp) handelt es sich um gelehrte, moralisierende Dialoge über die Geheimnisse der Schöpfung. In der arabischen Fassung der Tausendundeine Nacht hat dann die Schlangenkönigin die Rolle des weisen, moralisierenden Wesens übernommen, und Hasib alias Camsap verkörpert den tumben Toren, der erst durch die Begegnung mit ihr zum Weisen wird. Unmittelbare thematische und strukturelle Bezüge bestehen endlich zwischen dem türkischen Volksbuch Sahmeran und dem osmanisch-türkischen gereimten Epos (Mesnevî) unter dem Titel Camaspname, das der Dichter Musa Abdi auf Wunsch des osmanischen Sultans Murat II. (1421–1451) verfasste. Die Beliebtheit des Werkes wird durch die Fülle der osmanischen Handschriften bezeugt, die sich in alten türkischen Bibliotheken finden. In beiden Werken ist der ganze Kosmos der Märchenwelt präsent, wobei sich die Volkserzählung, vor allem in der lateinschriftlichen Fassung, manche Freiheiten erlaubt, Personen und Ortsnamen verballhornt oder willkürlich verändert, Motive einfügt oder weglässt und so weiter.
In unserem Band, vor allem in dem Volksbuch von Sahmeran, finden wir noch einen matten Abglanz des magischen Weltbilds, das sich in vormoderner Zeit, nach dem Sieg der sunnitischen Traditionalisten über die Philosophen und spekulativen Theologen im 11./12.Jahrhundert, unter den Gläubigen durchsetzte. Man denunzierte den menschlichen Verstand, leugnete das Kausalitätsprinzip und glaubte, Gott wirke direkt durch Vermittlung der Engel und verursache jedes Ereignis und jede Handlung selbst. Schöne Beispiele für diese fantastische Begründungslehre finden sich in unseren Geschichten über die Propheten Abraham und Noah. Warum ist das Maultier unfruchtbar? Allah hat es bestraft, weil es Holz für Abrahams Scheiterhaufen herangeschleppt hat. Warum kann die Nachtigall so wunderbar singen? Sie wurde von Allah belohnt, weil sie sich aus Liebe zu Abraham ins Feuer stürzte. Sie wurde mit ihm gerettet und durfte Allahs tausend geheime Namen lernen. Wenn die Katze gebraucht wird zum Mäusefangen in der Arche, lässt Allah den Löwen niesen, und sie springt hervor. Der Elefant dient dazu, das Schwein zu produzieren, damit der Kot und Abfall in der Arche gefressen werden. Alle diese unglaublichen Geschichten werden aber, wie in der Traditionsliteratur üblich, durch islamische Autoritäten beglaubigt.
Es war auch die islamische Mystik (Sufik), die eine Atmosphäre begünstigte, die in den Märchenbüchern und Volksromanen ihren Niederschlag fand. Nicht zufällig spielt der Derwisch oder Pîr (Sufimeister und Patron der Asık-Sänger) in vielen unserer Texte eine geheimnisvolle Mittlerrolle. Allerdings hat man in den Bearbeitungen der frühen Republikzeit manche der religiösen Anspielungen und »abergläubischen« Vorstellungen ausgemerzt. Aber gerade die Schlangenkönigin blieb weitgehend unantastbar. Die Hinterglasbilder dieses Zwitterwesens sind bis in die hintersten Winkel Anatoliens verbreitet und genießen einen gewissen Kultstatus. Das Bild hängt in Teestuben, Cafés und oft in den Häusern von Alewiten als einziger Wandschmuck neben den Porträts von Ali und Atatürk. Es wurde aber auch auf Kacheln verewigt, in Leder geschnitzt (als Pausenbild im Schattenspiel) und auf Textilien gestickt. Dieses geheimnisumwitterte Zwitterwesen hat zwei Köpfe, nämlich den Kopf einer schönen Frau, die eine Kette um den Hals trägt und deren Busen in einen schuppigen Leib übergeht, der sich wiederum verjüngt in einen Schlangenkopf. Um den Hals der Schlange prangt der Ring Salomos. Beide Häupter sind bekrönt, und zwischen ihnen blüht eine Rose. Das Wesen hat gewöhnlich sechs (aber auch vierzig) kurze Beine, aus denen kleine Schlangen züngeln. Trotz der weiblichen Merkmale des Menschenkopfes bleibt umstritten, ob es sich um ein Geschöpf weiblichen oder männlichen Geschlechts handelt. Sahmeran bewahrt alle Geheimnisse und bleibt für Deutungen offen. Der Autor und Lehrer Adnan Binyazar, der 1934 in Diyarbakµr geboren wurde, erinnert sich, wie ihn das Bild von Sahmeran, das im einzigen Zimmer seines Elternhauses an der Wand hing, als Kind verwirrte. Er wusste nicht recht, sollte er dieses Wesen fürchten oder lieben. Er ahnte nur, dass Sahmeran aus einer anderen Welt stammte, wo auch die Riesen (Dev) und Dämonen (Dschinnen) hausten. Kein Erwachsener konnte oder wollte ihm etwas Näheres über die Schlangenkönigin erzählen. Es blieb für ihn ein mit Scheu betrachtetes Trugbild, eher männlich wegen des harten Blickes in dem schönen Frauenkopf. Dieses Geheimnis, das auch dem Volksroman innewohnt, hat mehrere moderne Autoren angeregt, die Geschichte von Sahmeran auf ihre Weise zu gestalten.
Tomris Uyar (1941–2003) publizierte ihre Erzählung von Sahmeran 1973. Der Held Camsap ist bei ihr der Inbegriff des faulen Tagediebs, der während der Schulzeit keinen Buchstaben gelernt hat, sich aber auch für die Handwerkslehre als ungeeignet erweist. Die Abschiedsszene von der weinenden Mutter an einem stürmischen Wintertag in Adana ist ein kleines Kabinettstück, in dem die mit feinen Strichen ausgeführte realistische Darstellung in der poetischen Prosa, die Tomris Uyar auszeichnet, den Leser betört. Die Autorin folgt ganz dem Duktus des Geschehens im Volksbuch, aber die Figuren lösen sich aus der Märchenstarre und werden lebendig. Der tumbe Tor Camsap erwacht aus seiner Dumpfheit, als er Sahmeran trifft, und er lernt Fragen zu stellen. Bei seiner ersten Begegnung mit der Schlangenkönigin erkennt er sie, fällt vor ihr voll Ehrfurcht auf die Knie und seufzt: »Das ist ja die schöne Sahmeran, die in den Sommernächten die Jünglinge im Traum verführt, während sie die jungen Mädchen, die sich auf den Betten wälzen, wenn sich ihre Brüste runden, im Stich lässt.«
Auch Murathan Mungan (geb. 1955), der in Mardin aufgewachsen ist und ein besonderes Gespür für die anatolischen Erzähltraditionen hat, wie der Band Palast des Ostens in der Türkischen Bibliothek beweist, zeigt in seiner 1986 publizierten Erzählung Sahmerans Beine, was in dem Volksbuch steckt. Mungan bedient sich einer raffinierten Strategie, indem er in einer Rahmenerzählung als Ich-Erzähler den Jüngling Ilyas einführt, der als Lehrling bei einem Sahmerancı (Hersteller und Verkäufer von Sahmeranbildern) von seinem verehrten Meister die Geschichte der Schlangenkönigin hört, während er lernt, ihr Form und Gesicht zu geben. Damit wird ein weiterer Rahmen um die Rahmenerzählung gefügt. Ilyas ist ein unschuldiger, neugieriger Junge, der sich mit Camsap identifiziert und darüber auch nachdenkt. Im Rückblick sagt er: »Mein ganzes Leben wurde schließlich eine Sahmerangeschichte.«
Sahmeran liebt die Jünglinge, die reinen Herzens sind und voll Sehnsucht die Grenzen zwischen der realen und der fantastischen Welt überschreiten, sei es auf der sehnsüchtigen Suche nach dem letzten Propheten wie Belkiya, der jüdische Herrschersohn aus Ägypten, oder aus wahnsinniger Liebe wie der Königssohn Cihansah aus Gülistan, der sich mit der verzauberten Peri-Tochter aus Gevhernigin in der realen Welt vereinigen möchte. Ihre Geschichten erzählt Sahmeran dem ungebetenen Gast Camsap, um ihm die Zeit zu vertreiben in der fremden Welt, in die er durch Verrat seiner Kameraden geraten ist. Auch Belkiya und Cihansah hatten sich in die Märchenwelt verirrt und mussten gefahrvolle Abenteuer bestehen. Der Jüngling Belkiya war auf einer stürmischen Seereise auf Sahmerans Insel verschlagen worden, hatte das Vertrauen der Schlangenkönigin gewonnen, aber in seiner Ungeduld, mit allen Mitteln den geliebten Propheten finden zu wollen, ihren Aufenthaltsort später einem rücksichtslosen, nach Weltherrschaft gierenden Gefährten verraten. Dieser Verrat (Ihanet) wird zum Trauma Sahmerans. Mungan macht daraus eine Art Moralphilosophie, die sich in den Erzählpausen in Gesprächen zwischen Sahmeran und Camsap entfaltet. Sahmerans Wertesystem basiert auf der Liebe, die Mitleid und Verzeihen einschließt, selbst wenn der Geliebte zum Verräter wird. Sie ist Pazifistin, Rache ist ihr fremd. Auch eine Beziehung zum Propheten Salomo wird ihr nachgesagt, da sie auf den Bildern seinen Ring trägt. Ständig ist Sahmeran vor den Menschen auf der Flucht. Sie will wie Seherezad durch das Geschichtenerzählen ihr Leben retten, sie möchte Camsaps Heimkehr verhindern oder wenigstens verzögern. Immer wenn von der Heimkehr der Helden Belkiya oder Cihansah die Rede ist, fleht Camsap die Schlangenkönigin an, ihn doch auch nach Hause zu schicken. Fast refrainartig wiederholt er: »Jedes Wesen kann nur unter seinesgleichen leben und glücklich werden.« Bei Mungan klingen Camsaps Äußerungen fast wie ein Beitrag zum modernen Diskurs über Fremdheitserfahrungen: »Man kann nur, wenn man mit Wesen eigener Art zusammen ist, glücklich sein. So geht es allen Geschöpfen in der Natur. Ich bin hier mutterseelenallein. Mögt ihr mich auch noch so gut behandeln, ich bin doch ein Fremder unter euch. Ich bin anders, ich bin der andere. Ihr könnt nicht verstehen, was es bedeutet, ständig mit diesem zerstörerischen Gefühl des Fremdseins zu leben.« Als Sahmeran dann endlich Camsap aus Mitleid ziehen lässt, blickt sie ihm lange mit Tränen in den Augen nach. Camsap aber wird in der Menschenwelt nicht glücklich. Ja, er sehnt sich oft nach Sahmeran, ihrem zarten, schönen Gesicht, ihren magischen Blicken und ihrer süßen Rede sowie nach den tausend zauberhaften Märchennächten zurück. Er will nicht zum Verräter werden. Um ihr Geheimnis zu bewahren, lebt er jahrelang zurückgezogen und einsam. Schließlich wird er durch die Häscher des bösen Wesirs und Menschenschinders aufgestöbert. Im Bad verraten die glitzernden Schuppen an seinem Unterleib, dass er mit Sahmeran vertraut ist. Unter Folter verrät er den Brunneneingang zu Sahmerans Welt. Als Verräter begegnet er Sahmeran wieder, doch sie verzeiht ihm. Als der Wesir sie ergreifen will, zischt sie ihn an: »Hände weg, Camsap soll mich in den Arm nehmen.« Dieser herzzerreißenden Szene, die uns schon im Volksbuch zu Tränen rührt, wenn Sahmeran von dem vor Scham und Reue zitternden Camsap zur Hinrichtung durch Schlachten und Kochen getragen wird, kann sich niemand entziehen. Sahmeran bewahrt den Verräter davor, auch noch zum Mörder zu werden. Er soll dem bösen Wesir dieses schmutzige Geschäft überlassen und ihm von ihrem ersten giftigen Sud zu trinken geben. So geschieht es. Camsap trinkt auf ihren Rat von dem zweiten, heilsamen Sud und füttert den sterbenskranken Herrscher nach und nach mit ihrem Fleisch bis zur vollständigen Gesundung. Ein Happy End, wie es das Volksbuch bietet, können die modernen Autoren nicht nachvollziehen. Bei ihnen resigniert Camsap. Als der geheilte Herrscher seinen Retter rufen lässt, um ihn zu belohnen, ihn mit seiner Tochter zu vermählen und zum Wesir zu ernennen, suchen seine Diener vergeblich nach Danyaloglu Camsap. Holzfäller wollen gesehen haben, wie ein irrer Jüngling mit abgerissenen Kleidern und bloßen Fußes in die Berge lief. Manche berichten auch, er sei in einem gewissen Badehaus erstickt aufgefunden worden.
Ein anderer türkischer Autor hat sich viel größere Freiheiten erlaubt als Tomris Uyar und Murathan Mungan. Erhan Bener (1929–2007) ließ sich durch das Volksbuch zu seinem Drama Sahmeran (1985) inspirieren. Camsap ist hier nicht der faule, törichte Jüngling, sondern der wohlgeratene Sohn seines weisen Vaters Danyal. Er hält das ererbte Buch in Ehren, findet darin das Bild der schönen, tugendreichen Sahmeran, verliebt sich in sie, und er macht sich mit seinem zwielichtigen Freund Sehmur auf den Weg. Es ist ein schicksalhafter Tag im Schlangenreich. Auch Sahmeran hat sich im Traum in einen Menschensohn verliebt, der bald schon in Gestalt Camsaps leibhaftig vor ihr steht. Ihre Ehe ist glücklich, aber nicht lange ungetrübt, denn den Sozialrevolutionär Camsap treibt es wieder auf die Erde, wo er gegen die Ungerechtigkeit der Herrschenden und die Ausbeutung des Volkes kämpfen möchte.
Sahmeran kann man, wie es die modernen Autoren tun, als ein Wesen verstehen, das als moralische Instanz die Liebe, die Versöhnung und das Verzeihen verkörpert, aber der Macht des Bösen, dem die Menschen verfallen sind, ihren Listen, ihrer Gier und ihrem Verrat nicht gewachsen ist. Bei Erhan Bener beklagen sich die Schlangen, man habe sie irrtümlicherweise beschuldigt, verflucht und gejagt, obwohl doch Sahmeran nur auf Befehl des Schöpfergottes Adam und Eva die Liebe gelehrt habe.
Nun gibt es unter den türkischen Volksromanen eine ganze Anzahl, die sich der Amour fou, der verrückten Liebe, widmen. Das Urbild des wahnsinnig Liebenden ist der arabische Beduinenspross Kays, der sich als Schuljunge in das Mädchen Leyla aus einem anderen Stamm verliebt hat. Sie erwidert seine Liebe, doch es handelt sich zunächst um die unschuldige Inbrunst jugendlicher Seelen, die sich zueinander hingezogen fühlen. Erst als die Mutter Leylas aus Sorge um die Keuschheit ihrer Tochter ihre harmlosen Treffen verbietet, bricht die Liebe als krankhafte Leidenschaft aus und macht Kays zum Mecnun (Verrückten), der vom Liebeswahn besessen mit der Natur verschmilzt und überall Leyla, das Objekt seiner Liebe, sucht und sieht. Der überschwänglich poetische Ton der Erzählung verrät etwas von der mystischen Dimension, die der Amour fou innewohnt. Wir haben aus diesem Zyklus der volkstümlichen Liebesromane einige der bekanntesten unter Hinzuziehung verschiedener alter Drucke in einer Kurzfassung übertragen. Auch hier handelt es sich zunächst um Stoffe, die Allgemeinbesitz der islamischen Kulturgemeinschaft waren. Zu den klassischen Paaren gehören neben Leyla und Mecnun auch Yusuf und Züleyha, eine freie Ausgestaltung der 12. Sure des Koran, in der die Frau des ägyptischen Aziz (in der Bibel Potiphars Weib) allerdings noch keinen Namen trägt, und schließlich Ferhat und Sirin, ein Liebespaar, das schon in der vorislamischen iranischen Heldenepik vorkommt. Zunächst wurden diese Liebesbeziehungen in der klassischen neupersischen Liebesepik behandelt und bald auch von mehreren osmanisch-türkischen Hofpoeten nachgedichtet. Dann sind sie allmählich auf das Niveau der (türkischen) Volksliteratur herabgesunken, wo sie besonders beliebt waren. Die jeweiligen spezifischen Liebesbeziehungen wurden ins Metaphorische überhöht oder sind sprichwörtlich geworden. Die türkischen Volksdichter konnten gar nicht genug davon bekommen und haben neue Liebespaare, die Leyla und Mecnun nacheiferten, erfunden. Wir haben einige berühmte, genuin türkisch-anatolische Kreationen ausgewählt, nämlich Kerem und Aslı, Tahir und Zühre sowie Derdiyok und Zülfisiyah, die man in die besondere türkische Kategorie der Asık-Romane (Geschichten über fahrende Sänger) einordnen kann. Dabei können wir den Lesern gleichzeitig einen Eindruck von der Asık-Poesie in einfacher türkischer Sprache im Silben zählenden Versmaß vermitteln. Wenngleich manche Erzählungen gekürzt wiedergegeben werden, so ist die Erzählung Derdiyok (Schmerzlos) und Zülfisiyah (Schwarzlöckchen) fast vollständig übersetzt, weil hier das Milieu der Asık-Sänger, das in den anatolischen Basaren und Kaffeehäusern angesiedelt ist, spürbar wird. Ja, sogar ein Sängerwettstreit, wie er unter den fahrenden Asık-Sängern üblich war, kommt am Rande vor. Hier zeigt sich auch exemplarisch, wie der Liebende (‘âsiq, so wörtlich im Arabischen) durch die Liebe zum Asık (fahrenden Sänger) wird. Der Pîr, der Patron der Asık-Sänger, gibt ihm, oft auch der Geliebten, im Traum zur Initiation vom Liebeswein zu kosten. Die Liebe löst ihm die Zunge, und auch die Geliebte kann plötzlich dichten und singen. So begegnen sie sich im Wechselgesang im Überschwang ihrer Gefühle. Dagegen spielt die physische Liebesvereinigung abgesehen von einigen zärtlichen Küssen und Umarmungen kaum eine Rolle. Der türkische volkstümliche Asık-Roman präsentiert also eine verfeinerte, nahezu mystische Auffassung von Liebe. Die Liebende scheint durch Trennung fast unerreichbar, der Asık muss ihr nachreisen, und die Liebenden werden oft erst im Tode vereint, wie Kerem und Aslı als Asche und Tahir und Zühre im Grab, über dem zwei Rosenbüsche sich zueinander neigen. Die Liebe dieser Paare ist vom Schicksal vorherbestimmt.
Es gibt auch eine soziale Komponente: Besonders für die Mutter bedeutet die Tatsache, dass ihre Tochter in Liedern öffentlich besungen wird, schon eine Verletzung der Ehre. Ein Mädchen darf nicht zum Objekt der Liebe werden, selbst wenn der Verlobte der Liebende ist. So sind denn die Eltern meist die Ursache für die Trennung. In der Geschichte von Kerem und Aslı ist es der Religionsunterschied. Dieser Stoff wurde von dem türkischen Komponisten Adnan Saygun zu einer Oper (Kerem und Aslı, 1952) verarbeitet. Von Nâzım Hikmet (1902–1963) gibt es ein Gedicht Kerem gibi (Wie Kerem) mit der oft zitierten Zeile »Ich will zu Asche werden, wie Kerem brennen brennen«, und er hat Yusuf und Züleyha sowie Ferhat und Sirin in Dramen behandelt, die er im Gefängnis von Bursa schrieb.
Neben den Liebesromanen waren besonders Geschichten beliebt, die von Kämpfen und Abenteuern berühmter Helden erzählen. Dazu gehörten Kämpfer aus den Religions- und Eroberungskriegen, wie Ali, der Schwiegersohn des Propheten, oder Battal Gazi, ein arabischer Heerführer gegen die Byzantiner. Diese Texte sind zahl- und umfangreich. Da der älteste, schriftlich überlieferte westtürkische Heldenroman Das Buch von Dede Korkut unlängst in deutscher Übersetzung erschienen ist, haben wir uns aus diesem Genre der populären Heldenromane für den berühmten Köroπlu (Sohn des Blinden) entschieden, der unter allen Turkvölkern von Zentralasien bis in die Balkanprovinzen bekannt war und noch heute ist. Es gibt unendlich viele lokale Zweige und Varianten der Erzählung, die in moderner Zeit überall von türkischen Künstlern zu Theaterstücken, Filmen, Opern, Geschichten verarbeitet wurde. Auch Yasar Kemal hat sich zu seiner Erzählung Wie Köroglu auf den Plan tritt (Köroglu’nun meydana çıkısı) von dem Stoff anregen lassen. Die anatolische Variante, die uns interessiert, rankt sich um den mächtigen, tyrannischen Bey von Bolu, der seinen begnadeten Pferdeknecht und -züchter Yusuf blenden lässt, weil der es gewagt hat, ihm ein mageres Fohlen als Geschenk anzubieten. Dieses Grauschimmelfohlen Kırat, dessen Einzigartigkeit Yusuf erkannt hatte, päppelt er dann für seinen Sohn Ali auf, der ihn am Bey von Bolu rächen soll und von allen nur noch »Sohn des Blinden«, Köroglu, genannt wird. Es ist interessant, dass auch Yusuf und sein Sohn Köroglu begabte Sazspieler und Dichter sind, die ihre Emotionen in Liedern zum Ausdruck bringen. Wir können nur den Anfang des Romans bringen, doch hier klingen bereits alle wichtigen Motive an. Den Zuhörern wird die Grausamkeit des Beys von Bolu vor Augen geführt, und in Köroglu erwächst den Erniedrigten und Beleidigten ein Rächer und Beschützer, der sich als edler Räuber auf dem Berg Çamlibel einnistet, dort eine Festung erbaut und allmählich eine Reihe tapferer Gefährten gewinnt. Auf Çamlibel wird zwischen den kühnen Unternehmungen auch fröhlich gezecht und gesungen. Köroπlus Ross Kırat spielt eine Hauptrolle in den Abenteuern, es rettet seinen Reiter oft aus höchster Not und wird bald auch zum Objekt der Begierde des Beys von Bolu, der seine Tat bereut. Aus Furcht vor Köroπlu wird er in unserer Version allmählich zum milden Herrscher.
Während uns Köroglu in die anatolische Provinz führt, gehört die Meddâh-Erzählung Das Mädchen in der Truhe in das städtische Milieu. Dort und insbesondere in Istanbul war es nämlich der mimische Erzähler (Meddâh), der neben dem Schattenspieler das Publikum in den Kaffeehäusern und Konaks erfreute. Auch er ließ, wie im Karagöz-Spiel üblich, eine Reihe der gängigen Typen (in unserem Text sind es der Türke, Kurde, Jude, Bootsmann – Laze – und Reiter – Efe – aufmarschieren, um ihre Dialektfärbungen oder ihr verballhorntes Türkisch nachzuahmen und lächerlich zu machen. Diese Texte sind nach der mündlichen Überlieferung verkürzt aufgezeichnet und wurden im öffentlichen Vortrag durch Details und Dialoge erweitert. Unsere vier Märchen (Masal) stammen aus den ältesten Sammelhandschriften und gehören zu den beliebtesten. Die Texte wurden für unseren Band neu übersetzt. Die Märchen haben eine stringente narrative Struktur. Wenn sie von einer Liebesbeziehung handeln, so fehlen gefühlsselige Lieder und Wechselgesänge, wie sie in den Asık-Romanen üblich sind. Aber Themen, Motive und Atmosphäre stimmen in den verschiedenen Gattungen der Volksliteratur weitgehend überein. Das Neben- bzw. Ineinander der fantastischen und der realen Welt kann lockerer oder verwirrender ausfallen. Die Menschen leben in einer brüchigen Welt voller Ängste. Überall lauern Dschinnen, Peris, Teufel und böse Zauberer. Insofern stehen die Unheimlichen Geschichten und Sagen, die in der Alltagswelt verortet sind, den Märchen nahe. Die einfachen Muslime glauben an die Existenz dieser übersinnlichen Wesen. Sie suchen sich durch Amulette und Talismane vor deren bösen Umtrieben zu schützen. In solchen Amuletten wurden häufig die seltsam klingenden Namen der Siebenschläfer verwendet. Auch deren Hund Kıtmir erlangte Berühmtheit. Schon Goethe wusste, dass er zu den »Begünstigten Tieren« gehört, die ins Paradies kommen. Und, o Wunder, unsere Sahmeran verrät Belkiya ihren richtigen Namen, nämlich Yemliha. So hieß der berühmteste der Gefährten der Höhle. Über den Zusammenhang wird bis heute gerätselt.
Die türkischen Muslime glauben an die Unausweichlichkeit des Geschicks und die vorbestimmte Todesstunde (Ecel). Doch wenn diese noch nicht gekommen ist, kann ein Gläubiger in äußerster Gefahr, wenn er Allah inbrünstig anfleht, auf dessen Hilfe hoffen. Als Helfer entsendet Gott dann Gabriel, den Propheten Hızır oder einen gottnahen Dervis (weißbärtigen Alten), der etwa – wie häufig in unseren Texten – den kinderlosen Ehepaaren durch einen Apfel zur Fruchtbarkeit verhilft. Wie oben schon angedeutet, sind es neben dem Koran die sekundären, kommentierenden, religiösen Schriften, die diese magische Volksfrömmigkeit stärken. Beispiele haben wir schon aus den Prophetengeschichten zitiert. Märchenhaft mutet es auch an, wie Allah durch Gabriels Eingreifen Noah aus der Klemme hilft, als dieser seine einzige Tochter drei Bewerbern versprochen hat. Noahs Hund und Esel werden in junge Mädchen verwandelt, sodass Noah nun drei Töchter hat und sein Versprechen halten kann. Man denkt unwillkürlich an das Ali-Cengiz-Spiel des Zauberers, das Keloglan lernt.
Die offiziellen religiösen Institutionen, mit denen der Muslim im Alltag in Berührung kam, waren der Derwischkonvent (Tekke) und die Moschee seines Stadtviertels oder Dorfes. In der Tekke waren der Scheich und die Derwische und in der Moschee der Hoca zuständig. Diese frommen Männer hatten ihr Ohr am Volk und standen mit Allah auf Du und Du. Besonders die Bektasi-Derwische galten als Freigeister und verhielten sich respektlos gegenüber den Dogmen. Aber auch der Hoca war kein hochgelehrter Mann. Er reagiert auf alles mit seinem pfiffigen gesunden Menschenverstand und weiß sich immer aus der Affäre zu ziehen. Seine naive Erklärung der Welt, die sich um seinen Esel dreht, wirkt entwaffnend und reizt das Volk zum Lachen. Es besteht auch ein gewisser Zusammenhang zwischen Hocas Welterklärung und den Tekerleme-Texten, die eine brüchige, absurde, verkehrte Welt beschwören. Was sie zusammenhält, sind der Reim und der Witz.
Wir müssen uns auf diese Art Pointen geduldig einlassen, erst dann geht einem auf, dass sie hintergründiger sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Viele türkische Autoren sprechen dem Hoca philosophische Qualitäten zu. Halide Edib Adıvar (1882–1964) lässt in ihrem Schauspiel Maske und Seele (Maske ve Ruh) 1945 Nasreddin Hoca im Jenseits mit Shakespeare und dem großen arabischen Geschichtsphilosophen Ibn Chaldun diskutieren. Auch der Esel des Hoca darf ein Wörtlein mitreden. Orhan Veli Kanık (1914–1950) reizte es, die Geschichten in Verse zu bringen. Der große türkische Satiriker Aziz Nesin (1916–1995) hat Nasreddin Hoca durch viele seiner Geschichten zu neuem Leben erweckt. Der Hoca kann auch die moderne Welt auf seine Weise verstehen und erklären. Die volkstümlichen Texte und Themen sind ein unversiegbarer Quell, aus dem die modernen türkischen Schriftsteller und Poeten schöpfen können, ganz gleich, ob sie Realisten, Romantiker, Moralisten, Sozialkritiker, Surrealisten oder Anhänger der Postmoderne sind. Es lohnt sich daher auch für die deutschen Leser, sich mit dieser Tradition vertraut zu machen.