Adalet Agaoglus erster, stark autobiografisch geprägter Roman »Sich hinlegen und sterben« erschien im Jahre 1973 im Verlag Remzi, Istanbul. Die damals Vierundvierzigjährige hatte bereits einen Namen als Autorin von zahlreichen Hörspielen und Theaterstücken, die im Rundfunk und an verschiedenen Bühnen erfolgreich aufgeführt worden waren. Doch bedeutete dieser Roman, wie sie selbst bemerkt, schon von dem Augenblick an, als sie die Idee dazu fasste, eine Art Wendepunkt, eine Bruchstelle in ihrer bis dahin relativ geradlinig verlaufenen literarischen Karriere, ja, er veränderte ihr Leben grundlegend.
Adalet Agaoglu, 1929 in der zentralanatolischen Provinzstadt Nallihan zwischen Ankara und Istanbul als Fatma Inayet Sümer geboren, gehört zur ersten Generation der Töchter der Republik und konnte ihr staatlich verbrieftes Recht auf Bildung gegen den Widerstand ihres noch in traditionellen Normen verhafteten Vaters durchsetzen. Als einziges Mädchen unter drei Brüdern lernte sie früh, sich gegen die männliche Dominanz zu behaupten. Doch sie blieb nicht nur ihren Brüdern (dazu gehörte der früh verstorbene Theatermann Güner Sümer) immer freundschaftlich verbunden, sondern schätzt im Rückblick auch ihren Vater, einen Gemischtwarenhändler, der für bescheidenen Wohlstand der Familie sorgte und das kleine Provinzmädchen schon früh auf Reisen in die Großstadt Istanbul mitnahm. Ja, er ließ sich durch das Drängen seiner Kinder, die – wie es dem republikanischen Zeitgeist entsprach – auf einer höheren Schulbildung beharrten, dazu bewegen, von Nallihan in die Hauptstadt Ankara zu ziehen und dort ein Geschäft zu eröffnen. Aus ihrem Erinnerungsroman »Aufräumen vor dem Umzug« (»Göç Temizligi«, 1985) und einem ausführlichen biografischen Interview mit Feridun Andaç (2000 in Buchform erschienen) erfahren wir Details aus Adalets Kindheit und Jugend, die uns die geistige Entfaltung dieser bedeutenden Autorin nahebringen. Man gewinnt den Eindruck, dass ihre literarischen Interessen durch ihren Großvater mütterlicherseits genährt wurden, dessen Vorfahren vom Balkan stammten und der, lebenslustig und lesehungrig, nicht nur seine Töchter, darunter Adalets Mutter, sondern auch deren Kinder prägte. Er führte sie in den Lunapark, aber auch heimlich zu den Gastspielen des traditionellen Stegreiftheaters und brachte Zeitschriften und Bücher ins Haus. Adalets Mutter versammelte schon in Nallihan die Frauen aus der Nachbarschaft an einem festgesetzten Besuchstag um sich, an dem im Winter Romane vorgelesen wurden. Adalet erinnert sich, dass ihr Großvater noch auf dem Sterbebett das »widerspenstige Zicklein«, wie er sie nannte, darin bestärkte, sich nicht etwa zu Hause einsperren zu lassen, sondern sich gegen den Vater durchzusetzen und zu lernen und zu studieren. Sie deutet an, dass sie sogar mit einem Hungerstreik gedroht habe, um nur ja weiter zur Schule gehen zu dürfen. So konnte Adalet wie ihre Brüder nach dem Abschluss der Grundschule in Nallihan die Mittelschule und das Gymnasium in Ankara besuchen. Wenn das zielstrebige kleine Schulmädchen an ihnen vorbeischritt, skandierten die Händler, die vorm Kaffeehaus Tavla spielten: »Adalet, Hürriyet, yaşasin Millet!« (Gerechtigkeit, Freiheit, es lebe die Nation!). Den eher ungewöhnlichen Vornamen Adalet (Gerechtigkeit), mit dem sie zu Hause gerufen wurde, der aber, wie sie erst bei der Aufnahme in die Mittelschule erfährt, mit dem im Personenstandsregister eingetragenen (Fatma Inayet) nicht übereinstimmt, hatte sie der Schwester ihrer Mutter, die schon lange in der Hauptstadt lebte, zu verdanken. Diese progressive, kulturbeflissene Tante sorgte dann dafür, dass das junge Mädchen in Ankara öffentliche Bälle, Konzerte, Kino- und Theatervorstellungen im staatlichen Konservatorium und im Volkshaus besuchen durfte. Zu den Büchern, die sie während der Schulzeit stark beeinflussten, gehörte der Roman »Der Zaunkönig« (»Calikuşu«) von Reşat Nuri Güntekin. Wie sie bemerkte, wurde die Romanheldin zu einem Mythos unter den jungen Mädchen ihrer Generation. Wenn sie unter einem Druck leiden mussten, wollten sie wie Feride von zu Hause fliehen und als Lehrerinnen durch Anatolien ziehen, um dem Vaterland zu dienen. Schon während ihrer letzten Schuljahre schrieb sie selbst nachts kurze Romane, die ihre Freundinnen am nächsten Tag gierig verschlangen. Nach Abschluss des Mädchengymnasiums 1946 studiert Adalet bis 1950 Französisch an der von Atatürk 1936 gegründeten Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie, der ersten selbstständigen Universität für Geisteswissenschaften in Ankara. Die Lyrik-Matineen mit den Dichtern Yahya Kemal und Ahmet Hamdi Tanpinar im Volkshaus beeindruckten sie ebenso wie das Treiben der jungen Garip-Dichter um Orhan Veli, die ganz in der Nachbarschaft wohnten und die literarische Atmosphäre ihrer Jugendzeit prägten. Sie schreibt damals auch selbst Gedichte und gewinnt einen Preis, der von einer Jury vergeben wird, zu der der Ankaraner Literaturpapst Nurullah Ataç gehörte.
Das kulturelle Leben der Hauptstadt Ankara hatte also einiges zu bieten, und die junge Adalet Sümer lässt sich nichts entgehen, will aber auch selbst produktiv sein. Als Studentin publiziert sie Theaterkritiken in der Regierungszeitung »Ulus« unter Pseudonym und übersetzt Kulturnachrichten aus Paris. Von dem bescheidenen Honorar zahlt sie Studiengebühren und kauft Bücher, um ihren strengen Vater nicht um Geld bitten zu müssen. Sie schreibt auch Hörspiele und unterzieht sich nach dem Studium einer Prüfung bei der staatlichen Rundfunkanstalt Ankara. Sie erhält eine Anstellung, und damit beginnt 1951 eine wichtige Phase ihres Lebens. Sie bleibt dem Rundfunk, der 1964 in die unabhängige Körperschaft TRT (Türkische Rundfunk- und Fernsehanstalt) umgewandelt wurde, mit kurzen Unterbrechungen bis 1970 in verschiedenen Funktionen verbunden und schreibt und übersetzt für die Radiosendungen zahlreiche Erzählungen und Hörspiele. Auch ihr erstes Theaterstück, »Lasst uns ein Stück schreiben«, das sie zusammen mit ihrer Nachbarin und Freundin Sevim Uzgören verfasst, wird aufgeführt und markiert den Auftakt zu einer erfolgreichen Karriere als Theaterautorin. Ihr Lebensmittelpunkt bleibt Ankara, doch sie versucht immer wieder auszubrechen, um Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Ihren geistigen Horizont weiteten zwei frühe Reisen nach Paris, wo sie sich vor allem fürs Theater interessiert und Kontakte zu französischen Autoren knüpft.
1955 heiratet Adalet Sümer den Ingenieur Halim Agaoglu, mit dem sie zwei Jahre (1957–1959) in den USA verbringt, um dann aber wieder auf ihren Posten beim Rundfunk nach Ankara zurückzukehren. Ihre finanzielle Unabhängigkeit ist ihr auch in der Ehe wichtig. Halim begleitet sie fortan auf Reisen, ist ihr erster kritischer Leser und scheint das Geheimnis ergründet zu haben, wie er neben dieser von ihm bewunderten, kreativen, ehrgeizigen Künstlerin bestehen kann, die aktiv im Kulturleben steht, aber auch sehr oft die Einsamkeit sucht.
Adalet Agaoglus Theaterbegeisterung erreicht den Höhepunkt, als sie 1961, neben ihrer Tätigkeit beim Rundfunk, mit einer Gruppe junger befreundeter Künstler das erste Privattheater (Platzbühne – Meydan Sahnesi) in Ankara gründet. Sie wirkt als Mädchen für alles: Managerin, Dramaturgin, Übersetzerin von Stücken, ja, im Notfall springt sie auch als Putzfrau und Schauspielerin ein. Doch ihr Enthusiasmus wird gedämpft, weil man statt der Stücke von Tschechow, Gorki, Brecht und Sartre, die sie favorisiert, publikumswirksames Boulevardtheater bieten muss, um finanziell zu überleben. 1963 verlässt sie die Bühne und wird 1964 als Programmgestalterin an die TRT berufen. Sie ist theatererfahren und schreibt nebenbei Stücke, die auf den Bühnen in Istanbul und Ankara aufgeführt werden. Dazu gehören »Wir spielen Mann und Frau« (»Evcilik Oyunu«, 1964), »Der Spalt im Dach« (»Çatidaki Çatlak«, 1965) und »Tombola« (1967 gedruckt, 1969 aufgeführt). Sie hat das dramatische Genre nie ganz aufgegeben, inzwischen liegen ihre Stücke in mehreren Bänden vor. Sie behandelt meist problematische zwischenmenschliche Beziehungen in Freundschaften, Ehe und Familie, den Generationenkonflikt und das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Auch als leitende Angestellte der Rundfunkgesellschaft kann sie sich solcherart ausgewogene linksliberale Gesellschaftskritik lange leisten. Doch in den wirren Zeiten der späten Sechzigerjahre, als rechte und linke militante Gruppen heftig miteinander rivalisieren und Demonstrationen gegen das Regime an der Tagesordnung sind, wird das geistige Klima vergiftet. Alle kritischen Intellektuellen, selbst wenn sie keiner radikalen, linken Gruppierung angehören, werden verdächtigt, staatsgefährdende kommunistische Propaganda zu betreiben. So auch Adalet Agaoglu 1969, als sie Sartres Kuba-Bericht zur Besprechung im Rundfunk empfiehlt. Sie wird vor Gericht gestellt, der Staatsanwalt fordert ein bis fünf Jahre Haft. Sie gibt ihren Posten bei der TRT auf, wird aber bald darauf freigesprochen und wieder eingestellt.
Doch ihr Leben sollte nun eine andere Wendung nehmen. 1970 verlässt sie die Rundfunkanstalt endgültig – und schreibt ihren ersten Roman, »Sich hinlegen und sterben«. Im besagten Gespräch mit Feridun Andaç erinnert sie sich genau an den Augenblick, in dem sie die Idee zu dem Roman fasste. Es war im Jahr 1968, in dem sie sich – noch als Beamtin der Rundfunkanstalt – einer Demonstration der Dozenten und Studenten für eine demokratische Verfassung anschließt. Man marschiert den Atatürk-Boulevard entlang, und das Volk steht schweigend rechts und links auf den Bürgersteigen und schaut distanziert zu. Da wird ihr blitzartig bewusst, dass sich die Symptome eines Wandels andeuten und eine Umbruchsituation ankündigen. Das ist der Moment, in dem sich die Idee zum Roman in ihrem Kopf zu regen beginnt. Auch in der Türkei gab es wie im Westen eine 68er-Bewegung unter den Linksintellektuellen und Studenten, die gegen das etablierte System rebellierten. Die Pfeiler dieses Systems in der Türkei waren die ersten beiden Republikgenerationen, die alle Posten innehatten, auch auf dem kulturellen Sektor. In der leitenden Funktion an der Rundfunkanstalt gehörte auch Adalet Agaoglu dazu. Die Rebellion der jungen Generation irritiert sie. Was war schiefgelaufen? Woran krankte die Republik? Sie beschließt, in einem Roman »die Republik auf den Operationstisch zu legen und zu analysieren«. Ein Theaterstück mit dieser brisanten Thematik hätte man nicht aufführen können. Als Theaterautorin musste sie sich für alle Mitwirkenden verantwortlich fühlen, als Romanautorin nur für sich selbst. Außerdem reizte sie die Poetologie des Genres Roman. Ihr schien der türkische Roman damals ideologisch, thematisch und formal in einer Sackgasse zu stecken. Es war noch die hohe Zeit der Dorfromane und der endlosen Diskussionen über den »sozialen Realismus«. Adalet Agaoglu wollte ein heikles politisches Thema anpacken und formale Experimente wagen. Wenn sie den geistigen Zustand der Republik ergründen wollte, war ihre Generation betroffen und damit auch sie selbst als Individuum. Ihr und ihren Altersgenossen, das heißt den Kindern, die im zehnten Jahr der Republik eingeschult, ganz im Sinne der offiziellen Ideologie gedrillt wurden und im Todesjahr Atatürks (1938) ihren Grundschulabschluss feiern konnten, wurde mit einfachen Formeln, meist Aussprüchen Atatürks, eingetrichtert, sich nach Westen zu öffnen, sich zivilisiert zu benehmen und stolze Türken zu sein. Danach zu handeln, galt als vaterländische Pflicht. Der Roman ist gespickt mit solchen Parolen, und Aysel sagt einmal: »Was ich am besten kann, ist Leitsprüche hersagen.« Dieser Generation war damit vom Republikgründer eine heilige Mission übertragen worden. Dazu gehörte auch die Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter. Atatürks ständig wiederholte Mahnung »In einem Land ohne freie Frauen ist auch der Mann nicht frei« zu beherzigen, bedeutete für die jungen Mädchen eine Zerreißprobe im Spannungsfeld zwischen den kemalistischen Prinzipien und den Moralvorstellungen der Elterngeneration, die auf die Revolution von oben nicht vorbereitet war und an den patriarchalen Strukturen und traditionellen Werten festhalten wollte. Aber auch die jungen Männer erfuhren Frustrationen, weil sich die versprochene Freiheit selbst im harmlosen öffentlichen Umgang mit den scheuen, verkrampften Atatürk-Töchtern nicht verwirklichen ließ. In »Sich hinlegen und sterben« wird diese Problematik zu einem Hauptthema. Aber es ist deswegen nicht etwa ein feministischer Roman, denn die Geschlechterbeziehungen betreffen ja die Gesellschaft insgesamt. Man kann der Autorin auch keine antikemalistischen Tendenzen anlasten, wie es Kritikerinnen und Kritiker getan haben. Denn Adalet Agaoglu zeigt deutlich, dass ohne die idealistischen Lehrer und die offiziellen Multiplikatoren der kemalistischen Ideologie (Landrat, Staatsanwalt, Polizeikommandant) die Kinder aus der unteren Mittelschicht und den bäuerlichen Kreisen keine Bildungschancen gehabt hätten. Die Hauptfigur des Romans, die Händlertochter Aysel, die viele autobiografische Züge der Autorin trägt, ist dafür das beste Beispiel: Sie hat es mit etwa vierzig Jahren zur Dozentin der Soziologie gebracht. Dass Aysels Sozialisation in einer anatolischen Provinzstadt und in der neuen Hauptstadt Ankara stattfindet, ist von Belang. Die Figur des Republikgründers Atatürk ist hier nicht nur zu seinen Lebzeiten durch den Regierungssitz, sondern auch nach seinem Tod durch sein Mausoleum überlebensgroß präsent. Adalet Agaoglu schrieb mit ihrem Erstling einen der ganz wenigen authentischen Ankara-Romane der türkischen Moderne.
Aysels Lebensgeschichte und die ihrer Generation ist eng mit der Geschichte der Republik der Jahre 1938 bis 1968 verknüpft. Aber Adalet Agaoglu vermeidet eine lineare Erzählstruktur. In ihrem literarischen Schaffen wird der »Augenblick« (an) zu einem Schlüsselbegriff. Der Augenblick, in dem eine Krise ins Bewusstsein dringt und reflektiert wird, ist komplex. Er umfasst einen dreidimensionalen Zeitpunkt, in den sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft drängen. Diese temporären Schichten versucht die Autorin mit formalen Experimenten wie eine Archäologin freizulegen. »Man kann den Augenblick nicht beschreiben«, stellt die Autorin später resigniert fest, aber sie wird nicht müde, sich dem Phänomen anzunähern, indem sie alles, was den krisenhaften Augenblick nährt und ihm entströmt, assoziativ zusammenträgt.
Die Struktur des Romans wird von drei miteinander kommunizierenden Zeitebenen bestimmt:
a) Die Zeit von 1 Stunde und 27 Minuten (von 7.22 bis 8.40 Uhr), in der sich Aysel, die in einer privaten Krise steckt, in ein Hotelzimmer zurückzieht und auf den Tod wartet. Das ist eine Art Rahmenerzählung, gegliedert in dreizehn Abschnitte, die im unregelmäßigen Minutentakt ablaufen. Es ist die knapp bemessene Gegenwart, in der Aysel ihre Situation im Hotelzimmer wahrnimmt und reflektiert (ihren nackten Körper im Bett, die Geräusche auf dem Flur usw.).
b) Eng mit dieser knappen Zeit verschmolzen ist die zweite Zeitebene, auf der Aysels Erinnerungen an die unmittelbare Vergangenheit lebendig werden: das letzte Treffen mit Engin in der Druckerei, der Irrlauf und die Irrfahrt mit dem Minibus durch das frühmorgendliche Ankara bis zur Zuflucht im Hotelzimmer, wo sie sich zum Sterben niederlegt, sowie die letzten drei Monate (Februar, März, April 1968), in denen sie eine nähere Beziehung zu ihrem revolutionären Studenten Engin geknüpft und mit ihm geschlafen hat. Und in denen sie sich um ihre häuslichen Angelegenheiten und ihren Ehemann Ömer kümmert und ihr gehetztes Leben im akademischen Alltag bewältigt. Hier tauchen auch Träume auf, die ihre psychische Situation symbolisch verdichten.
c) Die dritte Ebene betrifft die historische Zeit zwischen 1938 (Atatürks Tod) und 1968 (Studentenunruhen, Demonstrationen). Sie umfasst den Zweiten Weltkrieg, in den die Türkei zwar durch die vorsichtige Außenpolitik Inönüs nicht hineingezogen wurde, der aber durch Lebensmittelknappheit, Luftschutzübungen, Korruption, Denunziationen und ideologische Parteinahme profaschistischer oder sozialistischer Gruppen Auswirkungen auf die Bevölkerung hatte. Nach dem Krieg waren es Entwicklungen wie proamerikanische Tendenzen, der Versuch einer Mehrparteiendemokratie, der Aufstieg der DP und der Militärputsch von 1960, die eine Meinungsvielfalt begünstigten und die reine Lehre des Kemalismus infrage stellten. Die Rückblenden auf diese turbulenten dreißig Jahre, in denen Aysel und ihre Altersgenossen heranwachsen, ihr Studium oder ihre Ausbildung absolvieren und ihren Platz in der Gesellschaft finden müssen, bilden retardierende Segmente im Ablauf der knappen Zeit, doch nicht ohne Verbindung zum Bewusstseinsstrom der Hauptfigur. Wenn Aysel über ihr Leben nachdenkt, lösen sich verschiedene Figuren aus den tieferen Schichten ihrer Erinnerung und werden lebendig. Die Texte dieser Zeit-ebene werden in den Rahmen der knappen Zeit assoziativ als Kapitel mit eigenen Überschriften eingefügt. In einer Art Präludium zu dieser Textebene werden uns im ersten dieser Kapitel die Hauptfiguren leitmotivisch vorgestellt. Es sind der idealistische Lehrer und acht Absolventen der Grundschule einer anatolischen Provinzstadt. Während einer von Lehrer Dündar inszenierten Abschlussfeier wird, unter dem Porträt Atatürks, die von ihm verordnete »zivilisierte«, westliche Lebensart demonstriert. Die Jungen und Mädchen müssen zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne stehen, verschiedene Rollen spielen und miteinander tanzen. Für die Zuschauer – Provinzhonoratioren und Eltern – ist das eine Sensation. Die Kluft zwischen den Generationen wird deutlich. Lehrer Dündar und seine kleine »Armee des Wissens«, die drei Mädchen Aysel, Sevil, Semiha und die fünf Jungen Aydın, Ali, Hasip, Namık und Ertürk haben auf der historischen Zeitebene ein Eigenleben. Sie schreiben Tagebuch oder Briefe, lesen Zeitung und hören Rundfunk. Auf diese Weise werden die Einzelschicksale im Rahmen der Zeitgeschichte und in ihrer Beziehung zu Aysel und ihrer Familie erzählt. Lehrer Dündar gelingt es noch, den begabten Bauernsohn Ali vom Esel zu holen und zur Ausbildung nach Ankara zu schicken, aber bald versteht er die Welt nicht mehr und wird im Laufe der Jahre zur einsamen, traurigen Figur. Alis Erlebnisse in der Hauptstadt erlauben dem Leser einen Einblick in die oppositionelle linke Szene, wo Nazım Hikmet als Kultfigur verehrt wird, während Aysels Bruder Ilhan sich in extrem nationalistische, turanistische Machenschaften verstrickt. Hier erinnern wir uns an Nihat in Sabahattin Alis Roman »Der Dämon in uns«. Ertürks Erfahrungen in der Kadettenanstalt werfen ein trübes Licht auf die verbohrte Geisteshaltung des Militärs, und Hasips Aufstieg zum Prediger zeigt das Wiedererstarken der islamischen Religion. So werden die historischen Ereignisse dieser dreißig Jahre nicht nur durch pointiert ausgewählte Zitate aus der Presse, durch Radiomeldungen und Hinweise auf aktuelle Bücher und Filme strukturiert, sondern die Geschichte wird atmosphärisch in Figuren lebendig, die Aysel nahestehen. Dadurch entfaltet sich ein breites Panorama der türkischen Gesellschaft, aber auch internationale Entwicklungen werden wahrgenommen.
Diese drei oben skizzierten Zeitebenen vermischen sich und gerinnen in Aysels Bewusstseinsstrom zu komplexen, aber flüchtigen Momenten, die oft wirre Reflexionen über ihren krisenhaften Zustand nähren. Sie versucht selbstquälerisch die wahren Motivationen ihrer Handlungsweisen und Emotionen zu ergründen. Hier zeigt sich ein fast schon obsessiver Hang zur Selbstbeobachtung und -befragung, der wohl eine Charaktereigenschaft Adalet Agaoglus ist. Denn die Autorin hat sich unter ihrem Geburtsnamen Fatma Inayet spielerisch ein Alter Ego geschaffen, das Adalets Verhalten und Überlegungen häufig kommentiert und infrage stellt. Diese geistreiche Strategie, die sie in ihrem Erinnerungsroman und in ihren Tagebüchern anwendet, zeigt ihre Fähigkeit zur Ironie und erschüttert jede Eindeutigkeit und Gewissheit. In Aysels Erinnerungen und Reflexionen werden Widersprüche sichtbar, die den Leser zunächst verwirren. Wenn sich Aysel nackt ins Hotelbett legt, bereit zum Sterben, dann funktioniert das nicht so ohne Weiteres. Ihre Gedanken kreisen unaufhörlich um ihre persönliche Krisensituation: Sie, die vierzigjährige Dozentin, hat mit ihrem fünfundzwanzigjährigen Studenten Engin geschlafen, Ömer, mit dem sie eine harmonische Ehe führt, betrogen und ist anscheinend schwanger. Ihre Reflexionen führen sie bald zu der Erkenntnis, dass sie als intellektuelle Frau der ersten Republikgeneration in diese Lage geraten musste, um endlich beweisen zu können, dass sie eine freie türkische Frau ist: »Wenn der Mensch sich nicht selbst befreien kann und in dem Traum von Freiheit erstickt, kommt er unter die zu liegen, die nach ihm kommen.« Indem sie ihre private Krise als kollektive begreift, übernimmt sie die Rolle, die die Autorin ihr zugedacht hat: Das Hotelbett wird zum Operationstisch, auf dem Aysel im kompromisslosen Selbstversuch die offizielle Ideologie der Republik, mit der sie seit Kindertagen infiziert ist, unter der Lupe seziert.
Aysels private Krise berührt tiefere Schichten der Persönlichkeit, in denen die kemalistische Erziehung ihre Spuren hinterlassen hat. Der ständige Appell Atatürks an die Jugend, sich ihrer Verantwortung für die türkische Nation bewusst zu sein, führte bei dieser Generation, besonders den Mädchen, die sich – ohne Rückendeckung der Eltern – mithilfe idealistischer Lehrer im öffentlichen Leben durchsetzen konnten, zu einem hypertrophen Pflichtbewusstsein, das jedes impulsive, planlose Handeln und lockere Sichgehenlassen ausschließt. Aysel fühlt sich immer gehetzt und immer in die Pflicht genommen. Davon ist nicht nur ihr Berufsleben, sondern auch ihre Existenz als Frau betroffen. Das nimmt zuweilen groteske Züge an. Ihre Heirat mit Ömer steht im Zeichen Atatürks und der westlichen Musik (Beethovens 9. Symphonie). Mit ihrem Ehemann regelmäßig zu schlafen, zählt sie zu ihren Pflichten. Doch sie kann ihren Körper im Bett nicht entkrampfen, weil sich das Gedankenknäuel im Kopf nicht löst. Den Gang zur Maniküre und Pediküre und die tägliche Hautpflege betrachtet sie als eine weitere Pflicht, um sich gesund und fit zu halten.
Ihr Schulkamerad, der Landratssohn Aydın, hat seit der legendären Schulabschlussfeier in der Provinzstadt ein Auge auf Aysel geworfen. Obwohl sie sich auch zu ihm hingezogen fühlt, lässt sie den eingebildeten Galatasaray-Zögling bei den zufälligen Begegnungen abblitzen. Aydin imponiert zwar, dass es die Händlertochter Aysel gegen alle Widerstände durchgesetzt hat, die höhere Schule und die Universität zu besuchen, aber er wirft ihr vor, sich mit ihrer scheuen, verkrampften Art im Umgang mit dem männlichen Geschlecht der Verpflichtung zu entziehen, die Atatürk den türkischen Frauen auferlegt hat, nämlich sich den Männern gegenüber frei und zivilisiert zu benehmen. Dass er damit auch eine unverkrampfte Sexualität meint, deutet er an, wenn er ihr immer wieder unverblümt sagt – und das zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch –, er »möchte mit ihr schlafen«. Die junge Aysel, die den Versuch ihrer Eltern, ihr eine Ehe aufzuzwingen, mutig abgewehrt hat und von ihrem Vater und Bruder streng überwacht wird, verhält sich möglichst zurückhaltend und unauffällig. An ihre Schulfreundin Semiha schreibt Aysel: »Wir betrachten unsere türkischen Männer als Brüder, und schlechte Gedanken dürfen wir nicht haben.« Semiha, die Aysel bewundert, weil sie den von Atatürk vorgezeichneten Weg gehen darf, seufzt: »Mein Leben ist zu Ende, man hat mich zu Hause eingesperrt.« - »Schlechte Gedanken«, das heißt sexuelle Wünsche, lassen Mädchen wie Aysel gar nicht erst aufkommen. Es nimmt daher nicht wunder, wenn Aysel später feststellt, dass ihr Körper getrennt von ihrem Ich existiert. Sie ist nicht stolz auf ihre weibliche Attraktivität, sondern auf ihren akademischen Beruf. Sogar im Kosmetiksalon und gegenüber der Putzfrau weist sie ständig darauf hin, dass sie wenig Zeit habe und ernsthafte Dinge, wie Schreibmaschine und Bücher, und wichtige Verpflichtungen, wie Sitzungen und Seminare, auf sie warten. Doch als dann in der revolutionären Atmosphäre der 68er-Jahre der Begriff der Freiheit neu diskutiert wird, erkennt Aysel, dass sie nicht wirklich frei ist.
Adalet Agaoglu spielt in dem erwähnten Gespräch mit Feridun Andaç, wie auch im Roman selbst, darauf an, dass sie den Beischlaf der Dozentin mit ihrem Studenten symbolisch verstanden wissen will. Aysel, als Vertreterin der ersten Republikgeneration, kommt unter Engin, einen Angehörigen der jungen, revolutionären Generation, zu liegen. Diese Unterwerfung versteht Aysel als Befreiung. Sie zelebriert sie als eine Art Selbstversuch, ein einmaliges, unwiederholbares Experiment, mit dem sie bewiesen hat, dass sie eine geistig und sexuell freie türkische Frau ist. Das ist ihre offizielle Version. Doch es ist nur eine der Begründungen, die sie im Selbstverhör vorbringt und reflektiert. Die Affäre mit Engin zeigt, dass es für Aysel keine eindeutige, absolute Wahrheit gibt, sondern nur ein schier unentwirrbares Knäuel von Minutenwahrheiten, die ihr im Kopf herumwirbeln. Das Telefon im Hotelzimmer beunruhigt sie, weil sie kaum widerstehen kann, Aydin anzurufen, um ihm triumphierend von dem gelungenen Experiment zu berichten. Aber sie fragt sich, ob das nicht boshaft und rachsüchtig sei, weil sie ihm eigentlich doch nur sagen möchte, dass sie ihn nicht nötig hatte, um den Beweis zu führen, dass sie eine freie türkische Frau sei. Und warum hat sie zunächst so getan, als hätte sie Engins im Maschinenlärm der Druckerei gewunden vorgebrachten Wunsch, mit ihr zu schlafen, nicht gehört, und hat ihn dann doch so rasch erfüllt? Wollte sie ihm, dem Werkstudenten, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, nur zeigen, dass sie keine Klassenvorurteile hat? Wollte sie ihn davor bewahren, seine sexuellen Bedürfnisse mit albernen Mädchen befriedigen zu müssen, die ihm geistig nichts bieten können, oder gar davor, Geld im Bordell auszugeben, da er nicht einmal seine Miete bezahlen kann? Warum will sie ihm die fünftausend Lira, die sie in einem Umschlag bei sich trägt, zukommen lassen? Sie selbst findet ihn doch eigentlich sexuell keineswegs anziehend, eine Liebesgeschichte ist es nicht. Da hört der Leser zwischen all den Ausflüchten und Selbstrechtfertigungen im Hintergrund die Stimme von Fatma Inayet: »Quatsch, liebe Aysel, du nimmst alles viel zu ernst (wie Adalet), das sagen auch Ömer und deine kleine Schwester, die Künstlerin Tezel. Hast du dich etwa nicht geschmeichelt gefühlt, als der junge Mann dich mit den Augen verschlungen hat an dem Abend bei dir zu Hause, als du alle deine Pflichten endlich mal vergessen hast und ihr euch zehn Stunden (!) gegenübergesessen seid und über die Revolution geredet, Lieder gesungen und Gedichte rezitiert habt? Wenn ihr da auch noch nicht miteinander ins Bett gegangen seid, das heilige Ehebett war ja tabu, die blutige zweite Entjungferung sollte erst in seiner Studentenbude passieren, so war es doch ein erregendes Vorspiel. Es war eine euphorische, fast orgastische Erfahrung, du sprühtest vor revolutionärer Begeisterung, du konntest deinem Studenten etwas bieten. An dem Abend ist etwas mit dir passiert. Du fühltest dich körperlich und geistig verjüngt. Als er gegangen war, hast du zum ersten Mal ein Körpergefühl genossen, deine Haare lange vorm Spiegel gebürstet, bist nackt in der Wohnung herumspaziert.« Dagegen war die eine Stunde in Engins Studentenbude doch eher ernüchternd. Eine eigenartige Lust stellte sich nur im Kopf ein, alles war schnell vorbei. Die intellektuelle Frau musste darüber nachdenken, dass anscheinend das weibliche Hymen mehrmals zerreißt und sich wieder regeneriert. Das Blut wischte sie mit Engins Hemd ab. Dann betrachtete die Dozentin die Bücherregale ihres Studenten, um etwas über seine geistigen Interessen zu erfahren. Das Experiment schien gelungen, und schon war es vorbei und vergessen, sie hatte ausprobiert, was sie ausprobieren wollte. Wenn Engin in den folgenden Wochen als Student vor ihr saß, beobachtete sie ihn und erlebte leichte Irritationen. Doch als er gestern Abend an ihrer Tür klingelte, scheu eintrat und sie wusste, »was er wieder wollte«, begegnete sie ihm kühl, ließ ihn sich nackt ausziehen, bot ihm einen Hähnchenschlegel an, den sie für Ömers Rückkehr vorbereitet hatte, und schlug ihm vor, den Marsch zum zehnten Jahrestag der Republik anzustimmen. Sie erklärte ihm ihr Verhalten nicht. Er zog wie ein begossener Pudel wieder ab. Um vier Uhr früh etwa verließ sie das Haus, ging in die Druckerei, wo Engin nachts arbeitete, um mit ihm zu sprechen, er aber herrschte sie an, sie solle in seinem Zimmer auf ihn warten. Doch sie lief und fuhr im Morgengrauen ziellos durch Ankara, bis sie sich schließlich um 7.22 Uhr in einem Hotelzimmer zum Sterben niederlegte und grübelte, warum alles so gekommen war. Vielleicht schämte sie sich ja auch, dass sie Engin so unmenschlich und kaltblütig behandelt und ihm nicht gesagt hatte, warum. Aber war ihr das selbst überhaupt klar? Sie erinnert sich an einen bedrückenden Traum: Inmitten einer Menschenmenge wartet sie ungeduldig, weil ihr eine wichtige Aufgabe übertragen werden soll. Dann reitet sie auf einem Esel durch die Korridore eines gefängnisartigen Baus, wo sie in einem dämmrigen Raum auf mehrere freundlich blickende Herren trifft. Ein kommandierender General befiehlt: »Fangen wir an!« Da beginnen die Männer sich eilig auszuziehen. Ihre Aufgabe sollte also sein, mit allen diesen Männern zu schlafen. Aysels Trauma, erst als freie türkische Frau zu gelten, wenn sie bereit war, die Männer, die es wünschten, sexuell zu befriedigen, wurde ständig genährt durch Aydıns halb scherzhaft geäußerten Wunsch, mit ihr zu schlafen, als habe er ein von Atatürk verbrieftes Recht darauf. Auch ihr angeblich geglücktes Experiment mit Engin konnte sie nicht erlösen. Es gelingt Aysel nicht, aus dem Irrgarten ihrer widersprüchlichen Gedanken und Gefühle herauszufinden. Endlich erreicht sie Aydın – inzwischen Verleger linker Literatur –, er will ins Hotel kommen und ihr eine Neruda-Platte vorspielen. Am Telefon wiederholt er die obligate Andeutung. Doch in letzter Minute entschließt sich Aysel, das Hotelzimmer zu verlassen, bevor Aydın eintrifft.
Sie hat sich verändert und sich durch den Umgang mit Engin selbst besser kennengelernt. Eine Weile will sie noch den Lebenskampf durchstehen und das Kind aufziehen, von vom es auch sei, ob von Engin oder Ömer. Oder vielleicht, wenn sie kein Kind kriegt, nur sich selbst noch einmal großziehen, denn ihr Ich hat seine Hülle wie eine abgestorbene Schlangenhaut platzen lassen und damit die von der offiziellen Ideologie künstlich aufgeprägte Identität abgestreift. Aysel will endlich auch als Frau und Sozialistin eine eigenständige Persönlichkeit sein. Als sie aus der Schwingtür des Hotels in den nebligen Aprilmorgen der Hauptstadt Ankara tritt, bleibt für den Leser alles offen.
Als der Roman »Sich hinlegen und sterben« kurz vor dem Abschluss stand, erlebte die Türkei den Militärputsch des 12. März 1971 und seine Nachwirkungen. Es war damals gar nicht so einfach, für diesen Roman mit seiner aktuellen politischen Thematik und innovativen Erzählstruktur einen Verlag zu finden. Adalet Agaoglu wurde von mehreren Istanbuler Verlagen abgewiesen. Auch musste die sensible Autorin selbst erfahren, dass eine Ankaraner Schriftstellerin, wenn sie im Istanbuler Literaturbetrieb keine Lobby hatte, dort schwer Fuß fassen konnte. Es war, als ob sie in ein fremdes Revier einbrechen wollte. Schließlich brachte der Remzi-Verlag das Buch im Juni 1973 heraus, und damit begann ihre erfolgreiche Karriere als Prosaschriftstellerin und gleichzeitig ein neues Leben. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie vier Kurzgeschichtenbände und weitere acht Romane, die mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Schon die 1975 unter dem Titel »Hochspannung« (»Yüksek Gerilim«) erschienenen Erzählungen erhielten den renommierten Sait-Faik-Preis und ihr zweiter Roman, der auch ins Deutsche übersetzt wurde, »Die zarte Rose meiner Sehnsucht« (»Fikrimin Ince Gülü«, 1976), den Madarali-Preis. Sie publizierte inzwischen auch mehrere Essaybände und Tagebücher. Im Jahre 1983 zog die Autorin von Ankara nach Istanbul; Adalet Agaoglu spielt in der türkischen literarischen Szene heute eine selbstbewusste und streitbare Rolle.
»Sich hinlegen und sterben« wurde bei Erscheinen in den Literaturzeitschriften kontrovers diskutiert. Der Roman gehört inzwischen unbestritten zu den modernen Klassikern. Das Schicksal von Aysel, der Hauptfigur aus »Sich hinlegen und sterben«, ließ die Autorin nicht mehr los. Mit ihrem dritten Roman, »Eine Hochzeitsnacht« (Bir Dügün Gecesi), 1980 erschienen, knüpft sie thematisch an ihren ersten an. Er wird – wohl zu kurz gegriffen – in die Kategorie der Putschromane eingeordnet, weil er die Stimmung der türkischen Gesellschaft vor und nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 einfängt. Aysels Bruder Ilhan ist inzwischen ein angesehener Anwalt der Prominenten, seine Tochter heiratet den Sohn eines Generals. Aysel selbst weigert sich, zu der Hochzeitsfeier zu kommen. Sie ist aber in den inneren Monologen und Reflexionen ihres Mannes Ömer und ihrer Schwester Tezel anwesend, die beide zu den Gästen gehören. Auch in diesem Roman experimentiert die Autorin mit der komprimierten Erzählzeit, hier umfasst sie eine Nacht. In dem Roman »Nein« (»Hayir«) von 1987 ist Aysel Dereli eine angesehene Professorin der Soziologie, einsam, frustriert und von Ömer verlassen. Engin lebt in der Emigration. Es ist die Zeit nach dem Militärputsch 1980. Aysel arbeitet an einer Studie über Selbstmordfälle unter Intellektuellen, historischen Persönlichkeiten und berühmten Romanfiguren. Ein Tag, an dem ihr ein akademischer Preis verliehen werden soll, fungiert als komprimierte Erzählzeit. Die Bruchstücke der erzählten Zeit sind heillos verwirrend ineinandergeschoben und verschwimmen in einem dunklen, komplexen Augenblick. Als Hoffnungsschimmer taucht die mythische Figur des neuen Menschen (Yenins, Abkürzung von »yeni insan« = der neue Mensch) auf. Diese drei Romane hat die Autorin unter dem Titel »Dar Zamanlar« (Knappe/Bedrängte Zeiten: bezogen auf die komprimierten Erzählzeiten, die prekäre politische Situation und die psychische Zwangslage der Figuren) zusammengestellt. Sie hat mit Aysel die Figur einer Intellektuellen geschaffen, die sich rebellisch gegen die Zwänge der Ideologien auflehnt, aber in einer Zeit bedrohlicher, totalitärer Mächte auf der Suche nach der absoluten Freiheit des Individuums der Hoffnungslosigkeit anheimfällt und als letzten Fluchtweg immer den Selbstmord vor Augen hat. Aysels Frustrationen sind persönlich und politisch motiviert. In ihrem bislang letzten Roman, »Ein romantischer Wiener Sommer« (»Romantik bir Viyana Yazi«, 1993), hat sich die Autorin anscheinend von dem beklemmenden Druck befreit; sie bewegt sich heiterer in einer Welt mit offenen Grenzen und Horizonten, mit tieferen und weiteren Dimensionen der Geschichte und der verschiedenen Kulturen: im Wien des Barock und der Romantik, dem Reich der Osmanen, der modernen Türkei und dem sich rasch wandelnden, globalen Zeitalter der Technologie. Den Augenblick definiert sie neu als den der Erhellung (aydinma anı).
In größeren Studien haben Kritiker und Literaturwissenschaftler (u.a. Semih Gümüş, Jale Parla und Petra de Bruijn) herausgearbeitet, dass Adalet Agaoglu in ihren Romanen die türkische Literatur im Übergang von der Moderne zur Postmoderne entscheidend geprägt hat. Die postmodernen Strukturen, die man in ihren Romanen findet, haben sich nicht einer literarischen Mode, sondern der ureigenen Suche der Autorin nach multidimensionalen Erzählformen zu verdanken. Denn im Gegensatz zu vielen Autoren der Postmoderne spielt Adalet Agaoglu nicht etwa zufällig und leichtfertig mit inhaltlichen und formalen Elementen, sie haben alle, sogar die Träume, ihre Funktion im Gesamtzusammenhang. Im Mittelpunkt steht das menschliche Individuum, das sich seiner intellektuellen Verantwortung bewusst ist. Als Teil der Gesellschaft dient es ihr sozusagen als kompliziertes Instrument, mit dem sie sich selbst wahrnimmt und reflektiert.
In diesem Sinne ist der Roman »Sich hinlegen und sterben« ein höchst aktuelles Buch. Es gibt wohl keinen anderen literarischen Text, der diese Phase der modernen türkischen Geschichte so differenziert zur Sprache bringt, der diese entscheidenden Jahre so lebendig schildert, in denen sich die zutiefst traditionell östlich geprägte Gesellschaft auf Geheiß ihres verehrten, charismatischen Führers auf den Weg macht, sich an den westlichen Werten zu orientieren und zu einer modernen, europäischen Nation zu entwickeln. Zu den wichtigsten Faktoren des Atatürk’schen Reformprojekts gehörte die Gleichstellung der Geschlechter. Daher ist die Sicht eines betroffenen weiblichen Individuums besonders aufschlussreich. Durch den frühen Tod Atatürks erstarrte die kemalistische Ideologie und musste sich im Wettstreit mit anderen westlichen Ideologien (Demokratie, Sozialismus, dem extremen Nationalismus und Konsumismus) einerseits und den wiedererstarkenden traditionellen, islamischen Kräften andererseits bewähren, konnte das aber nur durch Rückendeckung des Militärs. Diese für die türkische Gesellschaft und besonders für die Intellektuellen paradoxe Situation dauert bis heute an. Wer »Sich hinlegen und sterben« gelesen hat, kann besser verstehen, wie es dazu gekommen ist. Aysels rebellischer Geist ist aber noch lebendig, und ihre mutige Art, alle Widersprüche kompromisslos aufzudecken, ist unabdingbar für die Entwicklung eines kritischen historischen Bewusstseins.