Wer war Ahmet Hamdi Tanpinar? Diese Frage wird sich nicht nur der deutsche Leser des Romans Seelenfrieden (Huzur) stellen, sie gilt vielmehr auch für die literarische Öffentlichkeit in der Türkei selbst, die über diesen Schriftsteller noch immer diskutiert. Im Grunde beschäftigte sie sogar den Autor im Sinne eines »Erkenne dich selbst!« zeitlebens, sodass er sich noch kurz vor seinem Tod fragen konnte: »Bin ich ein Linker, bin ich ein Rechter?« Zu jener Zeit war dies eine besonders wichtige Frage, da die Antwort darüber entscheiden konnte, ob man als Schriftsteller in der Türkei überhaupt ernst genommen wurde oder nicht. Man musste oppositionell »links« sein oder wenigstens fortschrittsgläubig – »volksnah« im Sinne der erzieherischen kemalistischen Staatsdoktrin.
Größe ist in der Literatur oft nicht weniger strittig als auf anderen Gebieten. Ahmet Hamdi Tanpinar (1901–1962) ist in seiner Heimat lange verkannt worden – galt er doch vornehmlich als Essayist und konservativer Ästhetiker; oder aber als Poet, der ein schmales lyrisches Werk geschaffen hatte. Erst allmählich begann sich dieser Autor auch mit seinen Romanen durchzusetzen. Heute wird er von vielen als Genie gefeiert, das lange Zeit das Opfer einseitiger Vorstellungen über das geistige Leben im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen gewesen ist.
Dabei fällt auf, wie klein Tanpinars Werk im Grunde ist. Es umfasst wenige Romane, von denen der hier in Übersetzung vorliegende, schon 1949 als Buch erschienene der bekannteste ist. Hinzu kommen: die Biografie des Dichters Yahya Kemal Beyatli und der Band Fünf Städte (Beş Sehir), der umfangreiche Essays über Istanbul, Ankara, Konya, Bursa und Erzurum enthält. In Das Geheimnis der Edelsteine (Mücevherlerin sirri) sind literarhistorische Arbeiten, Untersuchungen, Reportagen und Artikel des Kritikers und Professors Tanpinar versammelt. Das Bändchen Gedichte (Siirler) schließlich enthält die siebenunddreißig von Ahmet Hamdi für den Druck bestimmten lyrischen Gedichte. Hinzu kommen die Romane Das Uhrenstellinstitut (Saatleri Ayarlama Enstitüsü, 1961), Die Komposition Mahur (Mahur Beste, unvollendet 1975) und Die Frau im Mond (Aydaki Kadin, aus dem Nachlass 1987) sowie noch einige Erzählungen: »Die Träume Abdullah Efendis« (»Abdullah Efendi’nin Rüyalari«, 1942); »Sommerregen« (»Yaz Yagmuru«, 1956) und wissenschaftliche Arbeiten oder Anthologien über den Dichter Tevfik Fikret (1937), den Dramatiker Namik Kemal (1942) und das Werk XIX. Asµr Türk Edebiyatµ Tarihi (Geschichte der Türkischen Literatur im 19. Jahrhundert) aus dem Jahre 1949. In den kommenden Jahren wird wohl noch manches aus dem Nachlass ans Tageslicht kommen.
Insbesondere seit den Arbeiten der Kritiker Enis Batur, Oguz Demiralp, Mehmet Kaplan und Berna Moran ist das Werk Tanpinars in der Türkei populär geworden, und der türkische Literaturnobelpreisträger des Jahres 2006, Orhan Pamuk, hat Tanpinar in seinem Erinnerungsband Istanbul als Dichter dieser Stadt ein besonderes Denkmal gesetzt. Wir werden darauf zurückkommen.
Als der Autor geboren wurde, herrschte noch Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) über das mehr und mehr zerfallende Reich der Osmanen. Der Dichter kommt aus dem Milieu des spätosmanischen Honoratiorentums, denn sein Vater, Hüseyin Fikri Efendi, war Richter (Kadi) und nahm verschiedene Posten in anatolischen Städten wahr. Von des Vaters Seite stammt die Familie aus der Stadt Batum und stand dem Hof des Sultans sehr nahe. Die Mutter, Nesime Bahriye Hanim, war die Tochter des Marineoffiziers Ahmet Bey aus der bekannten Trabzoner Familie der Kansizzadeler. Geboren wird Ahmet Hamdi allerdings in Istanbul, jener faszinierenden Metropole am Bosporus, in der sich Osmanisches mit mächtig hereinströmendem modernem Geist und dem damals noch stärker spürbaren Kosmopolitentum der Griechen, Armenier und westlichen Ausländer mischte, und zwar am 23. Juni 1901. Durch die häufigen Versetzungen seines Vaters lernt er schon als Kind die Kleinstädte der anatolischen Provinz kennen. 1913 stirbt seine über alles geliebte Mutter. Damals lebte die Familie in Mossul im heutigen Nordirak, einem Gebiet, das zu jener Zeit als Verwaltungseinheit noch der Hohen Pforte unterstand. Zwei Jahre später – inzwischen war das Reich an der Seite des kaiserlichen Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg eingetreten – wird der Vater nach Antalya an der kleinasiatischen Südküste versetzt. Heute ist dieser Ort vielen Pauschaltouristen vertraut, aber damals war das eine kleine, recht entlegene Provinzstadt. Ahmet Hamdi beendet dort das Gymnasium und kommt 1919 zum Studium nach Istanbul. Er schreibt sich an der Fakultät für Literatur ein.
Unter dem Einfluss seines Dozenten Yahya Kemal Beyatli (1884–1958), der Poet und später Diplomat war, veröffentlicht er 1921 die ersten, konventionell gehaltenen Gedichte, hauptsächlich in der Zeitschrift Dergah. 1923 beendet er das Studium mit einer literarhistorischen Arbeit über das Versepos Khosrau und Schirin« (»Hüsrev ve Sirin) des klassischen osmanischen Dichters Seyhi (1371–1431). Als Gymnasiallehrer in Konya, der Stadt der auf Mevlana Celaleddin Rumi (1207–1273) zurückgehenden mystischen Traditionen der Mevlevi-Derwische, beginnt er sein Berufsleben. Bis 1932 wirkt er in derselben Funktion in Ankara, kehrt jedoch noch im selben Jahr nach Istanbul zurück, wo er am Lyzeum von Kadiköy unterrichtet. Nichts hätte damals wohl quälender für den Dichter sein können als der schroffe Gegensatz zwischen der ihm vertrauten und geliebten Bosporus-Metropole mit ihrer Weltläufigkeit und dem inzwischen offiziell zur Hauptstadt avancierten ehemaligen Provinznest Ankara. Nach dem Tod des bedeutenden symbolistischen Lyrikers Ahmet Haşim im Jahre 1933 wird er dessen Nachfolger als Dozent für Ästhetik und Mythologie an der Akademie für Schöne Künste (Güzel Sanatlar Akademisi). Zur selben Zeit indes unterrichtet er türkische Literatur am American College. Im Jahre 1939, zum hundertsten Jahrestag des ersten osmanischen Reformerlasses, des Hatt-i Serif von Gülhane, und ein Jahr nach Atatürks Tod, wird er zum Professor an der Fakultät für Türkische Sprache und Dichtung ernannt. Von 1942 an ist er vier Jahre lang Abgeordneter des Wahlkreises Maras für die DP in der Türkischen Großen Nationalversammlung, ein politisches Engagement, das nicht ungewöhnlich ist für türkische Intellektuelle. Seit 1953 unternimmt er Reisen vornehmlich in das europäische Ausland, nach Frankreich, Belgien, England, Spanien, in die Niederlande und nach Italien. Es folgen, trotz angeschlagener Gesundheit, wieder Reisen und Studienaufenthalte in Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Portugal. Am 24. Januar 1962 stirbt Ahmet Hamdi Tanpinar in seiner Istanbuler Wohnung.
Der Schriftsteller lebte in einer revolutionären Epoche seines Landes. Sie umfasste vier Phasen, deren Auswirkungen noch heute zu spüren sind, in der Literatur wie im Leben der türkischen Menschen. Geboren und aufgewachsen ist er in der spätosmanischen Zeit, also in den Jahren einer immer sichtbarer werdenden Dekadenz des »kranken Mannes am Bosporus«, wie die klassische Formel dafür hieß. Der Student, junge Lehrer und Professor wurde dann durch die revolutionäre Phase der Republikgründung in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) in eine neue Welt eingeführt, wie alle Türken, die sich dieser umfassenden Kulturrevolution nicht verweigerten. Der Einschnitt war so tief, dass man sich außerhalb der Türkei davon kaum einen Begriff machen kann. Der neue Staat machte praktisch alles anders als der frühere, der etwa sechshundert Jahre lang bestanden hatte. Modernisierung, Nationalismus, Verweltlichung nach europäischem, insbesondere französischem Vorbild, kurzum Verwestlichung, das waren die drei Pole der Erneuerung. In der dritten Phase, die politisch unter anderem von Atatürks Nachfolger Ismet Inönü gestaltet wurde, kam es zu einer Konsolidierung, bisweilen sogar Erstarrung jener Strukturen, die der große Revolutionär aus Saloniki, Atatürk, bisweilen recht autoritär eingeführt und für verbindlich erklärt hatte. In der vierten und letzten Phase schließlich erlebte Ahmet Hamdi Tanpinar, wie sich die Republik pluralistisch veränderte, Abschied nahm vom Einparteiensystem, und wie der sogenannte Kemalismus als Folge dieser gesellschaftlichen Diversifizierung von den Rändern her sich aufzuweichen und zu zersplittern begann. Die politische Linke wurde stärker, aber auch das religiös geprägte Kleinbürgertum der anatolischen Städte und Dörfer, das den Islam im öffentlichen Leben des Landes wieder mehr berücksichtigt sehen wollte. Diesem Wunsch entsprach Ministerpräsident Adnan Menderes, der zwischen 1950 und 1960 regierte, und wurde prompt vom Militär gestürzt und 1961 sogar hingerichtet.
Eigentlich sind die Spannungen einer derart ereignisreichen Lebensbahn so groß, dass man sich fragen muss, wie Menschen sie innerlich aushalten können, ohne gänzlich orientierungslos zu werden. Vom Sultan-Kalifen, dem religiösen Oberhaupt der gesamten islamischen Welt, zum »profanen« Staatspräsidenten, vom Universalreich des Islams zur nationalen Republik der Türken, vom beredten osmanischen Türkisch »Osmanlµca« in arabischer Schrift zum »öz Türkçe« des modernen, mit lateinischen Lettern geschriebenen Türkei-Türkisch mit seinen ungezählten Neologismen, vom Islam als Staatsreligion zu (jedenfalls offiziell) religiöser Privatheit. Und dies alles innerhalb von nur zwanzig oder höchstens dreißig Jahren.
Ahmet Hamdi Tanpinar entwickelte eine Lebenshaltung, die ihm offenkundig half, dieses Problem zu bewältigen. Sie hängt mit einer sehr spezifischen Auffassung von der Zeit und ihrem Platz im Lauf der Welt wie im Leben des Einzelnen zusammen. Tanpinar ist der große türkische »Dichter der Zeit«, und dies in einem umfassenden, philosophischen Sinn verstanden. Das hat, neben persönlicher Veranlagung, auch mit jenen orientalischen wie westlichen Denkern und Dichtern zu tun, mit denen er sich lebenslang beschäftigt hat. Der Dichter und Literat, der Ästhetiker vor allem, war später auf besonders beeindruckende Weise in beiden Kulturen zu Hause, in der europäisch-weltlichen ebenso wie in der orientalisch-islamischen, die noch nicht wirklich säkularisiert war (und ist). Dieses doppelte Zuhausesein gilt keineswegs für Literatur und Dichtung allein, sondern auch für die Musik und andere Künste. Ahmet Hamdi liebte nicht nur die Mevlevi-Musik und die osmanische Kunstmusik eines Itri oder Dede Efendi, sondern auch Debussy, Beethoven und Brahms. In Teilen des vorliegenden Romans wird das überaus deutlich. In seiner Person waren am Ende beide Kulturen so manifest geworden, dass ihm eine Selbstdefinition ungeheuer schwergefallen wäre. Er ist ein Dichter des Sowohl-als auch, ein Künstler des intellektuellen »Schwebens«, häufig auch der melancholischen Stimmungen. Man muss nur Fotografien von ihm genau anschauen, um dies bestätigt zu sehen. Er konnte und wollte sich nicht festlegen. Die ihn ablehnten, legten dies prompt im Sinne eines bloßen L’art pour l’art aus, das die im Umbruch befindliche Gesellschaft, wie sie meinten, nicht weiterbrachte. Tanpinar sah es anders.
In den Zwanzigerjahren war Yahya Kemal Beyatli der wichtigste Lehrer Tanpinars geworden; ein Mann, der in seinen Gedichten die Vergangenheit künstlerisch rekapitulierte, um freilich gerade dadurch in die Zukunft zu weisen, dass er sie im Hegelschen Sinne »aufhob«. Von ihm und seinem Neoklassizismus ist Tanpinar sein Leben lang mitgeprägt gewesen. Als Dichter vervollkommnete Yahya Kemal die überkommene poetische Technik des »aruz«, das heißt jener traditionellen klassischen Prosodie der arabischen und persischen Poesie, wie sie auch in türkisch-osmanischer Sprache viele Jahrhunderte lang von den Dichtern gepflegt worden war. Yahya Kemal war somit der letzte Klassizist von Bedeutung, der freilich auch keinen Zweifel daran ließ, dass dem so sei und nun neue, andere Töne in der türkischen Poesie gefragt seien. Mit dem Aufkommen national-türkischen Denkens fand auch eine Popularisierung der volkstümlichen türkischen Strophenformen sowie des Silben zählenden Versmaßes immer stärkere Verbreitung. Und die Prosa gewann an Bedeutung.
Hinzu kamen die literarischen und ästhetischen Einflüsse aus dem von vielen verehrten und bewunderten Frankreich. Seit dem 19. Jahrhundert war Französisch die am weitesten verbreitete Fremdsprache der Gebildeten im Osmanischen Reich. Deshalb war es verständlich, dass die Errungenschaften der literarischen Moderne von den spät-osmanischen, dann türkischen Intellektuellen vornehmlich über das Französische aufgenommen wurden. Die literarische Moderne beginnt in Frankreich mit Baudelaire in der Poesie, mit Stendhal und Flaubert in der Prosa. Sie setzt sich über Mallarmé bis zu Valéry und seiner »Schule« fort. Die meisten dieser Dichter werden in dem Roman Seelenfrieden ganz bewusst genannt. In der Prosa ist es vor allem Marcel Proust (1871–1922), dessen epochales Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu) von Anfang an die Bewunderung Tanpinars erregte. Auch Prousts Thema ist die Zeit. Doch auch mit Architektur, Musik und Philosophie hatte Tanpinar weit mehr als nur randständigen Kontakt. Wie Proust stieß auch er fast zwangsläufig auf die Schriften Henri Bergsons (1864–1955), dessen philosophisches Weltbild ihm entgegenkam und der ihn in seinen Anschauungen von Welt und Mensch beeinflusste.
Bergson gehört zur langen Reihe der Lebensphilosophen. Für diese Denker stehen die konkreten Lebenswirklichkeiten im Vordergrund und bestimmen so auch die Wahrnehmung des Abstrakten, die Welt der Ideen und Zwecke. Bei Bergson liegt der Welt ein »élan vital«, ein metaphysischer »Lebensschwung«, zugrunde, in dem man unschwer die entsprechenden Äquivalente der deutschen Lebensphilosophie erkennen kann: Lebenskraft, Wille – wie es bei Schopenhauer, wenn auch ins Negative gewendet, heißt –, schöpferischer Schwung eben. Bergson greift auch die Entwicklungslehre auf und deutet den kosmischen Prozess als »évolution créatrice«. Das war ein Denken, das der Wesensart Tanpinars entsprach. Bei Bergson fand der junge Intellektuelle einen Zeitbegriff vor, der ihn ansprach: einmal als Zeit (temps) im herkömmlichen Sinn, die bloß »vergeht«, dann aber als »Dauer« (durée), erfüllte Zeit. Elementar für beides ist der Augenblick, der sowohl als fließender Durchgang vorgestellt werden kann, aber auch als punktueller Ort des (vorübergehenden) Anhaltens der Zeit. Hier ergibt sich die Parallele zu Proust und seiner »verlorenen Zeit«. Doch beides ist nicht wirklich eindeutig fassbar. Es ist im Grunde etwas Mystisches. Ahmet Hamdi fixiert seine mit seiner Lebensphilosophie verbundene Auffassung der Zeitlichkeit in den berühmten Verszeilen: »Weder bin ich in der Zeit noch gänzlich außerhalb …« Sie sind in der Türkei beinahe zum Sprichwort geworden. Das Gedicht, dem sie entstammen, gibt jene Stimmung einer sich in der aufgehobenen Zeit wiederfindenden Ekstasis des Selbst auf vollkommene Weise wieder. Diese »Überzeitlichkeit« des Seins, die hier beschworen wird, hat etwas von jener Weisheit an sich, die man gemeinhin – und sicher nicht immer zu Recht – mit dem Orient und seinen kontemplativen, mystischen Wegen in Verbindung bringt.
Überhaupt sind Empfindung und Lebensgefühl für Ahmet Hamdi ebenso wichtig wie der Intellekt. Das hat er mit Mevlana Celaleddin Rumi gemeinsam, dem großen Weisen von Konya, dem er sich immer wieder schreibend genähert hat, am eindrücklichsten im Konya-Kapitel des Bandes Fünf Städte. Diese Stadt, das alte Ikonium der Apostelgeschichte, steht ja bis heute ganz im Zentrum und im Bann von Mevlanas Persönlichkeit und Werk, die ohne Relativierung von Zeit und Zeitlichkeit hin zu einem Objektiven, das sich im Kosmos zeigt (Pantheismus), nicht denkbar sind. Das verhärtete, durch den Zuchtmeister des Intellekts zum Despoten gewordene Ich des Menschen ist der »Hauptgegner« Mevlanas. Gegen seine den Menschen von seinem Ursprung trennende übermächtige Herrschaft kämpft er an, in Worten, Werken und mit der Kunst des Tanzes und der Musik, gespielt auf der persischen Rohrflöte Ney. Überhaupt spielt die Musik eine große Rolle in diesem Roman. Wie alle großen Weisen weiß Mevlana, dass sich das menschliche Leben in Vereinseitigungen nicht wirklich bewährt, dass es neben der rationalen Gestaltung auch der seelischen Bildkräfte bedarf, die durch die Welt des Geheimnisvollen, Nichtberechenbaren bereitgestellt werden. Man muss sie nur entschieden ergreifen.
Tanpinars Einschätzung als bedeutender, ja genialer Romanschriftsteller ist, wie wir sagten, recht jungen Datums. Hatten Literaturkritiker wie Sükran Kurdakul sich in früheren Jahren noch weitgehend ablehnend über seine Prosawerke geäußert, so ist inzwischen eine Veränderung eingetreten. Besonders der hier vorliegende Roman Seelenfrieden gilt nun vielen als Meisterwerk und Höhepunkt türkischer Romankunst im 20. Jahrhundert.
Wovon »handelt« er? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Denn nicht allein die Geschicke und Beziehungen der Protagonisten des Romans – ihre Zahl ist relativ gering – bestimmen die Handlung, sondern es ist eben wieder die Zeit, als Hintergrund, als mystisches Kontinuum ebenso wie als hektischer Zeitbruch der laufenden Ereignisse, der sogenannten »Weltgeschichte«, die mindestens in gleichem Maße als Mitspieler, als Akteur im Vordergrund dieses Werkes steht. Insofern ist Seelenfrieden ein moderner Roman, der sich von den traditionellen Formen des Erzählens verabschiedet. Retrospektive und Gegenwart, ja indirekt auch die Zukunft werden zusammen erzählt, die Zeitläufe vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bieten den aktuellen historischen Hintergrund für die Handlung. Der Roman endet just zu dem Zeitpunkt, da der Zweite Weltkrieg mit Hitlers Überfall auf Polen beginnt.
Erika Glassen hat in einer mentalitätsgeschichtlichen Studie über den Begriff »huzur« in osmanischer Zeit herausgearbeitet, dass mit diesem osmanischen Lehnwort aus dem Arabischen eine ganz besondere Mentalität gemeint war, wie sie vor allem von den führenden Schichten des Osmanischen Reiches, vornehmlich in dessen Spätphase, ausgebildet worden war. Ein Lebensstil, der – auf den Traditionen der Mystik fußend – nach Seelenfrieden und innerer Abgehobenheit strebte, eine Art Ataraxie auf Islamisch. Es ist reizvoll, dieses Wissen über den Begriff »huzur« bei der Lektüre des Romans im Hinterkopf zu behalten – als Kontrast natürlich, denn im Werk selbst ist alles ganz anders als harmonisch.
Der Roman handelt jedoch auch von einer Stadt, von Istanbul, der so glänzend-zwiespältigen Metropole am Bosporus, die mehr als nur den Hintergrund der Handlung abgibt. Orhan Pamuk nennt deshalb den Roman Seelenfrieden in seinen Jugenderinnerungen Istanbul (Istanbul. Hatiralar ve Sehir) den »bedeutendsten Istanbul-Roman der türkischen Literatur überhaupt«. Und er weist darauf hin, wie sehr bei allen Autoren dieser Zeit zu Buche schlägt, dass sie geboren wurden und aufwuchsen, als noch der Sultan herrschte. Danach erhielt die Stadt am Bosporus eine vollkommen andere Bedeutung, ohne doch ihre lange, Epochen umgreifende Geschichte und natürlich das Problematische ihres historischen Bedeutungsverlustes abstreifen zu können. Auch hier ist Vergangenheit zwar vergangen und doch auch weiterhin präsent.
Vier Hauptpersonen bestreiten die Handlung: Mümtaz, ein siebenundzwanzig Jahre junger Assistent an der literaturwissenschaftlichen Fakultät (und wohl ein Alter Ego des Autors), Ihsan, sein Cousin, den er »Bruder« (agabey) nennt, Nuran, seine Geliebte, schließlich Suat, ein Freund beider, gewissenlos, krank und seelisch aus der Bahn geworfen. In ihm können wir vielleicht den modernen Entwurzelten identifizieren, den immer weiter vordringenden Nomaden der Großstadt, den »man of the crowd« (E.A. Poe), dem der Nihilismus nicht fremd ist, der aber den »neuen Menschen« erträumt. »Keinen Ronsard und keinen Fuzuli«, sagt er an einer Stelle. Der Roman umfasst vier Teile. Im ersten lernen wir Mümtaz, der bei dem kranken Ihsan lebt, kennen. Wir begleiten Mümtaz durch Istanbul, seine Stadt, und durch die Zeit. Über seine Jugend, den gewaltsamen Tod seines Vaters und andere Ereignisse erfahren wir etwas in der Rückblende. Im zweiten Teil widmet sich der Autor ganz der Beziehung zwischen Mümtaz und Nuran, die von Fahir Bey getrennt ist und eine Tochter, Fatma, hat. Die Tochter kann Mümtaz nicht ausstehen und lehnt die Verbindung zwischen ihm und der Mutter ab. Das umschattet von vornherein diese Liebe. Zudem muss Nuran eine gesetzliche Frist abwarten, um wieder heiraten zu können. Im dritten Teil stellt uns der Dichter das Intellektuellenleben der Stadt vor, an dem Mümtaz und Nuran Anteil nehmen. Reflexionen über Orient und Okzident, über Musik und Dichtung, Kultur insgesamt, bilden einen Teil der Handlung. Nun verlagert sich das Schwergewicht von Mümtaz auf Nuran, die alle Hindernisse für ihre Ehe kraftvoll überwinden will, für den Winter eine Wohnung in der Stadt besorgt und einrichtet. Ein schlechtes Omen ist freilich, dass sie den Schlüssel verliert. Denn Suat, der ihre Beziehung zu Mümtaz zerstören will, findet den Schlüssel, gelangt in die Wohnung und hängt sich dort aus Lebensüberdruss und mit diabolischem Kalkül auf. Suat siegt, denn Nuran ist so entsetzt über diese Tat, dass sie alle Zukunftspläne aufgibt und die Verlobung mit Mümtaz löst. Im vierten Teil vollendet sich die Tragödie, die sarkastischerweise den Titel »Harmonie, Seelenfrieden« trägt: Ihsan ist nun so krank, dass Mümtaz in der Nacht einen Arzt finden muss.
Wieder durchstreift er Istanbul, doch bei Dunkelheit sieht diese Stadt, seine ureigene Stadt, ganz anders aus. Ihre Düsternis passt zu seiner verdüsterten Seele, die das Scheitern seiner Liebe bedenkt. Er findet einen Militärarzt, mit dem er nicht nur über den Zustand des todkranken Ihsan diskutiert, sondern auch über die ausweglose politische Situation. Als Mümtaz im Morgengrauen noch einmal loslaufen muss, um Medizin zu besorgen, kommt die Hilfe zu spät. Aus dem Radio hört Mümtaz, dass der Weltkrieg ausgebrochen ist: Incipit – »Weltuntergang«.
So weit in groben Umrissen der Inhalt des Werkes. Von Harmonie, wie der Titel lautet, kann nur in einem an Sarkasmus grenzenden Sinn die Rede sein. Seelenfrieden ist, mit gewissen Abstrichen, ein durchaus »schwarzer Roman«, der in keiner Weise von all jenen ausgeschlachtet und ausgebeutet werden kann, die in der Literatur entweder die Vorbereitung oder die Fortsetzung der Revolution, der gesellschaftlichen Utopie mit anderen, eben künstlerischen Mitteln erblicken wollen oder – ins Patriotische gewendet – beständig und mit guter Absicht »auf Optimismus machen«. Das hat dem Roman wie dem Dichter selbst wohl lange Zeit geschadet. Lange Passagen gelten ästhetischen Erwägungen, wie sie Tanpinar auch beim Schreiben geleitet haben mögen. So spricht auch manches dafür, dass die vier Teile und ihre jeweils vier Hauptpersonen sich als Gliederungsstruktur den Beethovenschen Symphonien verdanken. In der Figur Ihsans, der dreiundzwanzig Jahre älter ist als Mümtaz, erscheint vielleicht Tanpinars ebenso viel älterer geistiger Mentor Yahya Kemal Beyatli.
Die privaten Verflechtungen und Miseren, von denen das Werk handelt, gaben und geben wenig her für das Pathos einer oberflächlichen Menschheitsbeglückung und -befreiung. Tanpinar war ein Individualist, der niemandem und nichts so einfach zuzuordnen ist. Ihm lag das Pathos der Distanz, ein Begriff, der nicht zuletzt von dem großen Einsamen Friedrich Nietzsche stammt. Gerade deshalb liebte er die aus der islamischen Mystik stammende Zeitlosigkeit so sehr, die für ihn nichts anderes war als die im Augenblick aufgehobene, gestundete Zeit (Ingeborg Bachmann). Als Romancier und als Denker hat Ahmet Hamdi Tanpinar, gerade auch durch die ästhetische Vermittlung zwischen Osten und Westen, der türkischen Gesellschaft einen neuen, zeitgemäßen Weg ins Offene zwischen den dogmatischen Verfestigungen gewiesen.
Wolfgang Günter Lerch