Hier bin ich …
Die Notizen, die sich Oguz Atay in seinem Tagebuch machte, als er den Roman Gefährliche Spiele (Tehlikeli Oyunlar, 1973) plante, zeigen, dass er die Absicht hatte, weiterhin Romane im Sinne des Existenzialismus zu verfassen: »Man zermürbt sich sehr, und bei jedem Zusammenbruch glaubt man, dies geschehe wegen der kleinen Rechnungen und kleinen Sünden von früher, die man nur selbst kennt. Und was wird dann aus einem? Vielleicht wird dies der Stoff für ein weiteres Buch. Ein Buch, das mit dem Ende seines Zusammenbruchs beginnt.« Und dennoch schreibt Oguz Atay keinen Roman, der die Folge von Hikmets Zusammenbruch in den Gefährlichen Spielen zum Thema hätte. Mit einem neuen Werk tritt er vor den Leser, das sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene im Widerspruch zu den ersten beiden Romanen steht. Dabei handelt es sich bei »Der Mathematiker« um einen biografischen Roman, um eine Gattung, die in der türkischen Literatur zuvor noch nicht in Erscheinung getreten war.
Der Mathematiker ist ein Buch, das die Arbeitsgruppe zur Förderung von Wissenschaftlern der Türkischen Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Untersuchungen (TÜBITAK) in Auftrag gegeben hat. Das primäre Ziel der Arbeitsgruppe bestand darin, junge Leute anzuregen, sich wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten zu widmen. »Deshalb wollten wir, dass ein Roman geschrieben wurde, der davon erzählte, wie ein Wissenschaftler in der Türkei von Kindesbeinen an heranreifte«, sagt der damalige Sekretär der Arbeitsgruppe Galip Karagözoğlu. Auf die Wahl des Wissenschaftlers jedoch, dessen Leben den Stoff für den Roman liefern sollte, hatte Cahit Arf (1910–1997), zu jener Zeit Vorsitzender der Wissenschaftskommission von TÜBITAK, maßgeblichen Einfluss. Mustafa Inan, eines der Mitglieder des Lehrkörpers der Fakultät für Bauwesen an der Technischen Universität von Istanbul, war ein Freund von ihm und 1967 gestorben. Ihn hielt er für die am besten geeignete Persönlichkeit für einen solchen biografischen Roman. Mustafa Inan war der Sohn eines armen Postfahrers aus Adana. Cahit Arf meint, die Tatsache, dass Mustafa Inan aus einer bitterarmen sozialen Schicht kam und es bis zu den höchsten Stufen der Gesellschaft geschafft hatte, sei für den Leser sehr motivierend. Auch die Veröffentlichung der Biografie in Romanform basiert auf einem Vorschlag von Cahit Arf; damit wollte man den Stoff in eine attraktive literarische Form gießen.
Mustafa Inans Sohn Hüseyin Inan (geb. 1945) erzählt, dass man sich wegen der Abfassung des Romans zuerst an Haldun Taner (1915–1986) gewandt hatte, jener aber den Auftrag aus Zeitgründen abgelehnt hatte. Die Arbeitsgruppe zog dann in Erwägung, Orhan Hançerlioğlu (1916–1991) mit dem Verfassen des Romans zu beauftragen. Als Hüseyin Inan und seine damalige Frau Esin eines Tages gegen Ende des Jahres 1972 Esins Doktorvater, Erdoğan Şuhubi, einen Besuch abstatteten, trafen sie dort Oguz Atay. Und Atay kam ihm wie geschaffen für diese Aufgabe vor: Atay war ein renommierter Romancier und zwei Jahre lang Student bei Mustafa Inan an der Technischen Universität. Auch Oguz Atay reizte der Gedanke an eine Romanbiografie. Als man ihn darauf ansprach, nahm er den Vorschlag im Prinzip sofort an.
Kurz darauf lernte er Mustafa Inans Gattin, die Archäologie-Professorin Jale Inan (1914– 2001) kennen. Jale Inan sandte ihm ein paar Pakete mit Schriftstücken, und Hüseyin Inan, ihr Sohn, gab Oguz Atay ein Tonbandgerät zur Aufnahme der Gespräche, die er mit Zeitzeugen führen sollte. »Ich untersuchte die Dokumente, die Jale Inan gesammelt hatte, ganz genau. Es waren jedoch sehr viel mehr solcher Unterlagen erforderlich, wollte man sich an dieses Projekt wagen. Jale hatte einige Personen vorgeschlagen, doch man hatte keine Antwort erhalten«, berichtet Oguz Atay in einem Interview.
»Da in unserem Land noch keine Studien von dokumentarischem Wert über Freunde und Verwandten durchgeführt wurden, genauer gesagt, da die Menschen bei uns nichts weiter denken als ›Das war ein herzensguter, überragender Mensch, und jeder mochte ihn sehr‹, war die Recherche äußerst mühsam. (...) Ich traf mich auch mit vielen Leuten, die Mustafa Hoca – näher oder auch nur oberflächlich – kannten, und sprach mit ihnen. Vor allem Jale Inan unterstützte mich sehr. Fast alles erfuhr ich von ihr, selbst Ereignisse aus Mustafa Inans Kindheit, ich führte lange Gespräche mit Jale Inan und unterhielt mich oft mit ihr. Jale Hanım las mir sogar die Briefe vor, die Mustafa Hoca ihr geschrieben hatte. Bei ihr zu Hause hatte ich Gelegenheit, die Notizen und Bücher des Professors, ja sogar seine Kleidungsstücke in Augenschein zu nehmen; das heißt, in gewisser Hinsicht erlebte ich das Milieu, in dem Mustafa Inan gelebt hatte, noch einmal, auch wenn es Jahre später war. Und alles, was Mustafa Inans Mutter erzählte, hörte ich von ihr selbst – natürlich vom Tonband.«
Allerdings war die Niederschrift des Romans Der Mathematiker kein Gang durch einen Rosengarten ohne Dornen, wie Oguz Atay berichtet. Zum einen ging es darum, dass die Türkische Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Untersuchungen erwartete, der Roman solle im Rahmen dieses Projekts didaktischen Zwecken dienen. Oguz Atay musste dem Komitee, das aus den Professoren Namik Aras, Ali Rıza Berkem, Kemal Kafalı und Selahattin Okay bestand, lauter Professoren, alle sechs Monate einen schriftlichen Bericht über den Stand des Projekts vorlegen. Laut Vereinbarung hatte das Komitee das Recht, den Roman zu überprüfen und die Tendenz mitzubestimmen; das war ohnehin die wichtigste Aufgabe des Komitees. Für die Kommunikation zwischen dem Komitee und dem Autor aber sorgte der Sekretär der Arbeitsgruppe, Galip Karagözoglu. Atay sandte dem Komitee regelmäßig alle sechs Monate seine Berichte, und einmal kam er auch persönlich nach Ankara und nahm an der Sitzung teil. Galip Karagözoglu erzählt: »Als ich ihm bei dem Gespräch unter vier Augen sagen wollte: ›Ihre Berichte zeigen eine positive Entwicklung auf, doch das, was wir von Ihnen wollen, ist …‹, erkannte ich an seinem Verhalten, dass ihm diese Form des lenkenden Eingreifens nicht besonders angenehm war. Und dennoch schnitt ich ihm gegenüber das Thema an. Ich sagte ihm, die Mitglieder der Arbeitsgruppe hätten mir die Aufgabe übertragen, ihm deren Ansichten und Absichten mitzuteilen. Ich betonte, der Roman solle jemanden darstellen, der jenen jungen Menschen als Vorbild diente, die Wissenschaftler werden wollten, und solle kein Unterhaltungsroman werden. Er sagte nicht direkt, er sei dagegen, aber an seiner Stimmung erkannte ich, dass ihm dies nicht gefiel.« Die Mitglieder der Arbeitsgruppe zensierten den Text des Romans zwar nicht im Detail, doch das didaktische Ziel schwebte im Verlauf der Niederschrift wie ein Damokles-Schwert über Oguz Atays Roman und blieb eine Quelle der inneren Unruhe.
Doch während er den Roman schrieb, stand ein anderes, größeres Hindernis vor der unbedingten Freiheit, die Atay für seine Kreativität brauchte: Jale Inan, die in die außerordentliche Anstrengung eingriff, um sicherzustellen, dass das gerade im Entstehen begriffene literarische Porträt der Person, die ihr im Leben am meisten bedeutet hatte, mit tadellosen und idealen Charakterzügen ausgestattet würde. Jale Inan kontrollierte jede Zeile, die Atay schrieb, mit peinlicher Genauigkeit. Atays Tochter Özge, damals etwa elf, zwölf Jahre alt, erinnert sich an die Zeit, als ihr Vater den Roman schrieb: »Ich glaube, es war 1974, da gingen wir immer wieder zu Jale Hanim. Er sagte, dass er fünf Seiten pro Tag schrieb. Und immer wenn er etwas geschrieben hatte, brachte er es Jale Hanim; ich vermute, er ließ es sie lesen. Morgens ließ er ihr die Blätter da, und wahrscheinlich holte er sie abends ab.« Sedat Düzkan sagt, Atay habe sich über Jale Inans Versuch, die Tendenz des Textes zu steuern, sowie über ihr dominierendes Verhalten beschwert. Von der Spannung zwischen Atay und Jale Inan, deren Ausmaße allmählich ernster wurden, hörte auch die Türkische Gesellschaft. Als Ali Riza Berkem, Mitglied der Arbeitsgruppe und ein Freund Mustafa Inans während dessen Studienzeit in der Schweiz, Jale Inan in Istanbul besuchte, erfuhr er davon. Der Türkischen Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit kam gar zu Ohren, dass Jale Inan es zu vermeiden suche, Oguz Atay einige Dokumente auszuhändigen, und Oguz Atay daher die Arbeit aufgeben wolle.
Oguz Atay gab aber nicht auf. Sein Freund Erdogan Suhubi jedoch, der sich von Anfang an – bis heute – mit dem Thema befasst und auch als Mustafa Inans Assistent tätig war, erläutert, dass es gewichtigere Gründe gab, die Atay nachdenklich stimmten. »Mit Oguz’ Biografie-Begriff vertrug es sich nicht, ein Idol zu schaffen. Oguz war der Meinung, man müsse nicht nur die guten Charaktereigenschaften, sondern auch die Fehler zur Sprache bringen. Hätte Mustafa Inan ein Vorbild für junge Leute werden sollen, hätte man dies so machen müssen. In diesem Buch, in dem Mustafa Inan im Mittelpunkt steht, wollte Oguz das türkische Gelehrtenleben kritisch unter die Lupe nehmen.« Außerdem waren beide, Oguz Atay und Erdogan Suhubi, die als Mitglieder des Lehrkörpers Funktionen an der Universität hatten, der Meinung, Missstände, die sie seit ihrer Assistententätigkeit im universitären System beobachtet hatten, müssten im Roman deutlich werden. In Atays Roman aber wurde das Kapitel, in dem Erdogan Suhubi eine Rolle als Zeuge spielt, der eine solche Kritik am System zur Sprache bringt, auf Jale Inans Einspruch hin gestrichen.
»Als Jale Inan das Anliegen von Oguz ablehnte, war Mustafa Inan im Buch nicht mehr eine Figur von Oguz, sondern verwandelte sich in das Porträt, das Jale Inan gezeichnet hatte. In dem Kapitel, gegen das Jale Inan ein Veto eingelegt hatte, hatte ich betont, dass Mustafa Inan seine Fähigkeiten nicht bis zum Äußersten nutzte. Obwohl er mit großartigen Resultaten auf seinem Fachgebiet die internationale Fachwelt erschütterte und ein weltberühmter Wissenschaftler hätte werden können, wurde er gebremst. Meiner Ansicht nach war Mustafa Inan Opfer einer Art Charakterschwäche, seiner eigenen Leidenschaft. Er wollte aus seiner Schicht aufsteigen, wollte mit Prinzessinnen und der osmanischen Aristokratie zusammen zu sein, verschwendete aber mit diesen Dingen viel Zeit und vergeudete sein großes Talent. Es ging dabei um das Problem, ob man sich der Wissenschaft mit Leidenschaft verschreiben sollte. Oguz’ literarische Bearbeitung dieser Themen hätte sehr interessant werden können. Schließlich war dieser biografische Roman etwas, das bis zu diesem Zeitpunkt in der Türkei noch nicht erprobt worden war: Er hätte die Irrtümer, die in der Türkei im Namen der Wissenschaft begangen wurden, vor den Augen der Öffentlichkeit ausbreiten und eine ernst zu nehmende kritische Studie über die Wissenschaftlichkeit in der Türkei vorlegen können«, sagt Prof. Dr. Erdogan Suhubi, einer der wenigen Persönlichkeiten, durch die sich die türkische Wissenschaft der Welt geöffnet hat.
Erdogan Suhubi berichtet, wie Oguz Atay überhaupt nicht darüber erfreut war, dass das Buch aus dem Gleis geraten war und unter einem ganz anderen Aspekt rezipiert wurde, dass Atay der Roman in dieser Form nicht gefiel und er dies, auch nachdem das Werk gedruckt war, zur Sprache brachte: »In jener Zeit war Oguz finanziell in einer äußerst bedrängten Lage. Zum Schluss betrachtete er das Buch als Handelsobjekt. Er hatte jeglichen Enthusiasmus verloren.« Ergun Türkcan, der in jenen Jahren für die Türkische Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Untersuchungen tätig war, erklärt: »Für dieses Buch erhielt er 7 500 Lira; das entspricht etwa drei Monatsgehältern.« Auch Oguz’ Cousin, Furuzan Düzkan, erinnert sich daran, dass Atay mit diesem Geld wieder ein wenig auf die Beine kam.
Auf der anderen Seite jedoch ist deutlich, dass die durch TÜBITAK gelenkte Atmosphäre, die den Roman, an dem er schrieb, umgab, ihm absolut nicht gefiel; unterschwellig spielte dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass er das Buch um des Geldes willen verfasste. Das war eine Situation, die Atay ziemlich lange belastete. Barlas Özarikca, der eine Zeit lang wegen finanziellen Nöten Fotoromane schrieb, erzählt Folgendes: Als Atay ihm sagte: »Ein Mann der sich für einen Schriftsteller hält, schreibt keinen Fotoroman, dann zieh doch los und verkauf Marlboro « gab er ihm im Überschwang seiner Jugendjahre zur Antwort: »Aber Der Mathematiker ist auch eine Auftragsarbeit.« Darüber habe sich Atay sehr geärgert.
Auch der Filmregisseur Halit Refig, der im Laufe der Jahre eine wichtige Rolle in Atays Leben spielte, erzählt, dass Atay sich am Anfang Sorgen um das Buch machte; Halit Refig berichtet, dass Atay sich bei ihm beschwerte. In jener Zeit, in den Siebzigerjahren, sprachen Atay und Refig stunden-, ja sogar tagelang über kulturelle Themen und lieferten sich hitzige Wortgefechte über nationale und universale Kultur. Gleichzeitig war dies eine Phase, in der Atay mit sich haderte, ob er weiterschreiben sollte, da der Roman in den Dunstkreis einer »Auftragsarbeit« geraten war. Halit Refig berichtet, dass er Atay beim Verfassen des Buchs unterstützte: »Ich blieb hartnäckig. Denn hier ging es um die Streitfrage von Nationalismus und Universalismus, über die wir dauernd miteinander debattierten. In diesem Buch konnte er unsere nationalen Werte unter einem anderen Aspekt behandeln. Ich dachte, es wäre sehr interessant, wenn Oguz – abgesehen von seinen eigenen Angelegenheiten – ein anderes Thema objektiv betrachten könnte und sich daraus etwas Neues für ihn ergeben würde.«
Oguz Atay lässt sich auf das kulturelle Thema, von dem Halit Refig spricht, in dem Kapitel ein, in dem Mustafa Inan die Werte von Orient und Okzident behandelt. Das ist einer der Abschnitte des Werkes, die Atay ohne Zweifel glücklich machten, während er schrieb. Andere Themen hingegen waren wie ein Minenfeld. Ein Thema war beispielsweise, dass Mustafa Inan eigentlich ein viel besserer Lehrer war. Man kann sich denken, dass schon ein einziger Satz, der andeutete, dass Inans Essays keinen wichtigen Beitrag für die Wissenschaft bedeuteten, zu Problemen mit Jale Inan führte: »Man kann keineswegs behaupten, dass alle diese Aufsätze so beschaffen waren, dass sie die wissenschaftliche Welt erschüttert hätten.« In demselben Kapitel ist jedoch die Begründung in der Bemäntelung durch Vaterlandsliebe, die er dafür vorbringt, dass ein Artikel von Mustafa Inan nicht im Ausland veröffentlicht wird, weit entfernt davon, überzeugend zu sein, sondern vermittelt eher den von seiner Sorge bestimmten Eindruck, dass sie der Kontrolle Jale Inans nicht standhalten würde. »Mustafa dachte nicht daran, diese Artikel an ausländische Zeitschriften zu schicken. Ihm ging es darum, dass sie Einfluss auf sein Land ausüben und weite Verbreitung finden sollten. Er meinte, die Verbreitung im eigenen Land spiele eine wichtige Rolle und komme noch vor der wissenschaftlichen Tiefe.«
Die folgende Passage, die er an einer Stelle des Romans eingefügt hat, wirkt so, als sei sie als Entschuldigung verfasst worden, dass er die wissenschaftliche Leistung des Wissenschaftlers in dem Roman nicht hoch genug geachtet habe. »Ich habe viel gelitten, große Armut durchgemacht und mich nie darüber beschwert. Wegen meiner Schwäche konnte ich nie Sport treiben, und da ich unter Geldnot leide, seit ich denken kann, und da ich – seit ich denken kann – immer auf Trab war, diesem und jenem zu Hilfe zu eilen, wenn er Kummer hatte, und diesen und jenen zum Arbeiten zu motivieren, konnte ich mich der Wissenschaft vielleicht auch nicht von ganzem Herzen widmen.«
Eine weitere Mine in dem Werk, die Atay nicht recht zu handhaben wusste, ist die Freimaurerei. »Bei diesem Thema hatte er Zweifel. Wie sollte er Mustafa Inan als Freimaurer darstellen? Vielleicht sollte er die positiven Seiten der Freimaurerei aufzeigen? Daher versuchte er, sich ein Buch über die Freimaurerei aus England mitbringen zu lassen; ich glaube, das klappte aber nicht. Und in der Türkei konnte er damals keine ausreichenden Quellen zu diesem Thema finden. Er war sich ganz unschlüssig, ob er über Mustafa Inans Freimaurerei schreiben sollte«, berichtet Sedat Düzkan. Auch Ugur Ünel erinnert sich daran, dass Mustafa Inans Freimaurerei große Strapazen für Oguz Atay bedeutete und er sich viel Mühe gab, um sie auf angemessene Art zu integrieren. Schließlich fügte Atay zweieinhalb Seiten in den Roman ein, die Mustafa Inans Platz innerhalb dieser Organisation zum Thema veranschaulichen. Hier wird berichtet, dass Mustafa Inan, der sich innerhalb der gültigen Religionssysteme unter Druck gesetzt fühlte, im Verlauf seiner Suche der Freimaurerei begegnete, an dieser Gemeinschaft teilnahm, sich ihr allerdings kritisch näherte.
Die Punkte, die er für eine Schwäche Mustafa Inans hält, stellt Atay im Roman mit einer Geste der Entschuldigung dar; er versucht einen Menschen zu schaffen, von dem TÜBITAK möchte, dass er jungen Menschen als Vorbild dient. Jale Inan, die jede Seite kontrollierte, legte sowieso gegen seine Versuche, über die von ihr bestimmten Vorgaben hinauszugehen, sofort ein Veto ein. Der folgende Textabschnitt ist eine der seltenen Passagen, die mit großer Wahrscheinlichkeit trotz Jale Inans Veto im Roman stehengeblieben sind, ein Abschnitt, der – wiederum mit einer entschuldigenden Geste – eine verdeckte Kritik an Inans literarischem Geschmack enthält: »Und Mustafa İnan war mittlerweile erschöpft; oder könnte ein Mustafa İnan, der Kafka las, etwa die Gedichte von Behçet Kemal ertragen und sich Gedichte von Ümit Yaşar in seiner Kladde notieren?«
Auch die enge Beziehung, die Mustafa Inan zu der osmanischen Aristokratie und den Politikern alter Schule hatte, ist eines der brenzligen Gebiete, denen Atay sich mit einer Kritik derselben Art näherte: »… gab es nichts weiter, was Mustafa durch diese Leute hätte gewinnen können; ob es sich um den Politiker, den Literaten, den Philosophen, den Dichter oder den Prinzen handelte – auf seinem eigenen Weg brachten sie ihn um keinen Schritt voran. (...) Gab es denn auch außerhalb der Welt der Wissenschaft niemanden, der – wie Mustafa Hoca – frischen Wind ins Land bringen wollte, niemanden, der Anstrengungen unternahm, um Neues auf die Beine zu stellen? Hatte Mustafa etwa keine Gelegenheit, sich auch für sie zu interessieren?« Die Entschuldigung »Und Mustafa Inan war jetzt erschöpft«, die am Anfang eines früheren Zitats steht, wird diesmal an das Ende eines neuen Zitats gesetzt. Atay lässt einen – fiktiven – Freund Mustafa Inans, der an vielen Stellen des Werks den Platz des Erzählers einnimmt, diese verdeckten kritischen Anspielungen von sich geben, die von einer Entschuldigung begleitet sind, und er setzt keinen anonymen Erzähler ein, bei dem er Gefahr liefe, dass er mit ihm selbst identifiziert würde. Die Abschnitte, die Atay dem Werk gezwungenermaßen hinzufügte, waren seine Versuche, den Roman auch vor der Gefahr der Verkitschung zu bewahren, damit er nicht zu einer einseitigen Hymne werden würde.
Das mit außergewöhnlichen persönlichen Charakterzügen versehene Porträt von Mustafa Inan, das Oguz Atay in dem Werk skizziert, widerspricht im Prinzip nicht der Realität. Einer der Gründe, weshalb Atay sofort zustimmte, sich auf das Verfassen eines Romans einzulassen, der das Leben Mustafa Inans behandelte, war die Bewunderung, die er für die den legendären Professors empfand. Auch Atays Kommilitone von der Technischen Universität, Rasin Demirsoy, sagt von Mustafa Inan: »Das war ein großartiger Mensch. Er hielt die Vorlesungen über Widerstand und Mechanik. Er bereicherte die Vorlesung mit seinem unglaublichen Wissen über Musik und Literatur. Wenn er erzählte, haben wir den Stoff verschlungen und waren fasziniert. Er war nicht streng und autoritär. Der Respekt kam von allein. Er war wie eine Legende.« Auch Oguz Atay stattet das Porträt, das er skizziert, an vielen Stellen des Romans mit Charakterzügen aus, die diese Legende untermauern. Der Roman Der Mathematiker berichtet von jemandem, der fordert, dass »jedem Menschen und jedem Gegenstand gegenüber Toleranz« gezeigt wird; erzählt wird von einem, der sich keine Illusionen über eine korrekte Bildung macht, von einem Menschen, der sich so entwickelt hat, dass er das Prinzip »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu« zu seinem Wahlspruch gemacht hat. Atay wirft kein kritisches Licht auf Mustafa Inan. In diesem Roman ist die Stimme des Erzählers affirmativ und von Respekt bestimmt. Mustafa Inan hat keine Ähnlichkeit mit den hilflos suchenden, in der Welt der Widersprüche verlorenen Figuren von Atays ersten beiden Romanen. Dies ist ein anderer Typ des Intellektuellen; die Person im Fokus des Romans ist der aufgeklärte Mensch einer friedlichen Welt, der zu einer Synthese der Gegensätze gelangt ist.
Oguz Atay gefällt es, die Hauptperson im Roman Der Mathematiker mit für die »Haltlosen« – einem anderen, bekannten Roman von Atay – typischen Charakterzügen auszustatten. Indem er beschreibt, wie Mustafa Inan sich sein Leben lang mit Krankheiten herumschlagen musste und seine Schulden noch nicht einmal nach seinem Tod loswurde, macht er aus Mustafa einen echten »Haltlosen«. Andererseits ist Mustafa Inan jemand, der die höchste Stufe der akademischen Karriere erreicht hat und dank seiner Beziehungen mit einflussreichen Leuten der Gesellschaft verkehrt: Mustafa ist jemand, der sich hält. Innerhalb dieser widersprüchlichen Struktur wird der wichtigste Charakterzug Mustafa Inans betont: Er ist jemand, der sich selbst stets ins Kreuzverhör nimmt, jemand, der sich darum bemüht, seine Persönlichkeit weiterzuentwickeln, jemand, der eine Lösung für die Gesellschaft sucht, in der er lebt, der viel liest, sich für Kunst interessiert, nachdenkt und seine Gedanken niederschreibt. Atays Mustafa Inan hat den Charakter eines »Intellektuellen«. Für Mustafa Inan ist das »Denken« die wichtigste Leistung des Menschen. »Durch wissenschaftliche Forschungen ist erwiesen, dass das Denken ein physischer Vorgang ist, bei dem die meiste Energie (Kalorien) aufgewandt werden muss. Das Menschenkind jedoch, das diese Energie nicht finden kann oder das von Geburt an nicht geneigt ist, diese Mühe aufzuwenden, reagiert auf eine solche Aufgabe immer mit Trägheit. Bei jeder Gelegenheit findet es einen Weg, sich zu entziehen. Daher ist es nötig, sich an solcherart Arbeit durch Denksport und die Kunst des Denkens zu gewöhnen«, sagt er in einem Vortrag. Der wichtigsten Leistung des Intellektuellen wird in seinem Land nicht genug Bedeutung beigemessen: »So und so oft habe ich denen da oben geschrieben: Niemand will Assistent werden, meine Dozenten laufen mir davon, kümmert euch darum, dass diese Existenzsorgen aufhören. Zu jedem sagte ich: Denken ist eine Arbeit, die sehr viel Energie verlangt. Denken ist Hochleistungssport. Warum verdammt ihr uns zu so miserablen Konditionen und gebt gleichzeitig so viel Geld für Fußballspieler aus?« Die Denkfaulheit im Land steht an erster Stelle der Themen, bei denen Atay und Mustafa Inan sich einig sind. Dieses Thema wird auch im Roman immer wieder bewusst gemacht.
Statt der Figuren der ersten beiden Romane Atays, die einen Identitätskonflikt erleiden, im Widerstreit mit der Gesellschaft leben und mit den Widersprüchen – zum einen bei sich selbst, zum anderen auf gesellschaftlicher Ebene – kämpfen, beschreibt Oguz Atay in Der Mathematiker den vorbildlichen Typ eines Intellektuellen, der seine Probleme überwunden hat. Auch das Ost-West-Dilemma, das in der Konstitution des türkischen Intellektuellen von der Tanzimat-Periode bis heute ununterbrochen andauert, führt er in der Persönlichkeit Mustafa Inans zu einer Synthese zusammen. (…) Genauso wie sich Mustafa Inan in die Gesellschaft integriert und die Synthese zwischen Individuum und Gesellschaft realisiert, hat er auch eines der wichtigsten Probleme der türkischen Kultur überwunden: Er hat den doppelt chiffrierten Kulturbegriff nicht als Unruhe stiftenden Widerspruch eliminiert, sondern als bereicherndes Element in sein Leben aufgenommen. Mustafa Inan empfindet es nicht als lästig, Orientale zu sein: »Mustafa İnans Gefühlswelt war ganz und gar vom Orient geprägt. Mit einer Liebe, die in den Gymnasialjahren begonnen hatte, fühlte er sich der Diwan-Literatur verbunden. Er bewunderte die große Tradition der Diwan-Poesie und hielt an ihren Traditionen fest. Er glaubte nicht, dass man irgendein Ziel erreichen könne, wenn man keine Tradition bewahrt«, erzählt Atay über ihn. Auch wenn er während der Arbeit an seiner Dissertation in der Schweiz die Ordnung und die Wissenschaft Europas sowie die Technologie bewundert, verschwendet er keinen Gedanken daran, für immer dort zu leben, und er sehnt sich nach der Herzlichkeit der Orientalen. Mit großer Begeisterung lässt er sich auf die kulturellen Werte des Westens ein: Er lernt Gedichte von Goethe auswendig und hat seine Freude an den Kompositionen westlicher Musiker. Auf der anderen Seite nähert er sich sowohl der Diwan-Poesie als auch der klassischen türkischen Musik mit derselben Empfindsamkeit.
Mustafa Inan hält nichts von Rudyard Kiplings Worten »Ost ist Ost, und West ist West, und niemals treffen sich die beiden«. Laut Oguz Atay »erlebte er das Morgenland, entdeckte das Abendland und erfasste beide mit seinem ganzen Wesen«. Inan sucht sowohl als Pädagoge als auch als Intellektueller Methoden, um diese beiden Komponenten der Kultur im Bewusstsein der Menschen in seinem Land in Übereinstimmung zu bringen. »Ohne sie zu verunsichern, ohne sie die elementare Angst gegenüber dem Neuen spüren zu lassen, musste man sie ans Denken gewöhnen. Man musste den Osten, ohne Aufregung zu verursachen, dem Westen näher bringen. Mustafa, der Mathematiker, hatte eine schwierige Aufgabe vor sich.« Im Zentrum von Oguz Atays Gedanken stand die Ost-West-Problematik, und in der Zeit, als er den Der Mathematiker schrieb, führte er vor allem mit Halit Refik, zu dem er eine enge Beziehung hatte, endlose Gespräche über die Kultur der Türkei und Europas, und wiederum mit Halit Refig veranstaltete er einen Gedenktag für Kemal Tahir (1910–1973). Die Überlegung ist nicht falsch, dass Atay die Gedanken zu diesem Thema, das in dem Werk über Mustafa Inan eine wichtige Rolle spielt, mit dem Brausen und Stürmen seiner eigenen Worte schuf, die manches Mal – auf dem Höhepunkt – an den Wänden von Halit Refigs Haus im Istanbulber Stadtviertel Ayazpasa widerhallten: »War es etwa möglich, Europäer zu werden? Selbst in der Wissenschaft galt eine Tradition. Das wissenschaftliche Niveau, das der Westen heute erreicht hat, zu bewundern und zu erkennen, dass die Europäer im Vergleich zu uns vieles leichter lösen und daher in Ehrfurcht zu ihnen aufzublicken, war kein ausreichender Grund, sich auf die ›Importware Wissenschaft‹ einzulassen. Und Tradition konnte nicht von heute auf morgen durch bloße Bewunderung geschaffen werden. (…) Der Ursrpung der Tradition war nicht Bewunderung; Tradition ließ sich nur dadurch schaffen, dass man geduldig kleine Ringe aneinanderfügte.« Der Roman Der Mathematiker ist ein biografischer Roman und als solcher ein Novum für die Türkei. Allerdings handelt es sich dabei um ein Werk, das nur wenig fiktive Aspekte aufweist, sich sehr stark auf Dokumente stützt und das Biografische in den Vordergrund stellt. »Einen Roman auf der Basis von Dokumenten zu schreiben oder das Dokumentarische zu einem Roman zu verarbeiten (...), das ist es, was ich bei Mustafa Inan versuche«, schreibt Atay am 5. September 1976 in sein Tagebuch. »Je weiter meine Arbeiten fortschritten, um so deutlicher wurde mir, dass ich den Stoff stärker auf Dokumenten aufbauen musste, und daher versuchte ich, mich mit noch mehr Leuten zu treffen, noch mehr Beziehungen zu schaffen, und ich gab mir Mühe, noch mehr Unterlagen zu Mustafa Hoca zu finden. Auch wenn der Roman letztendlich nicht ›didaktisch‹ ist, so hat der ›dokumentarische‹ Aspekt denn doch an Bedeutung gewonnen.« Um den dokumentarischen Aspekt des Romans zu vervollkommnen, reiste Atay sogar mehrmals nach Adana, in die Heimat von Mustafa Inan. In einem Fernsehprogramm zu diesem Thema, an dem er im Dezember 1975 teilnahm, sagt er: »Die Gattung des klassischen Romans ist für diesen Stoff unangemessen, weil es sich um einen Roman handelt, der sich auf Dokumente und die Realität stützt. Dennoch habe ich versucht, auch in Mustafa Inans Seele, das heißt, in seine Innenwelt, in alles, was er dachte und fühlte, einzudringen, je weiter meine Arbeiten fortschritten, das heißt, je näher ich ihn kennenlernte. Unter diesem Aspekt habe ich das angewandt, was wir Bewusstseinsstrom nennen, das heißt, die Methode, die das Fließen des Bewusstseins der Menschen in ihrer ganzen Natürlichkeit wiedergibt. Während ich dies tat, versuchte ich, wie Mustafa Inan zu fühlen und wie Mustafa Inan zu denken.«
Vor allem sind es die Kapitel, in denen die Innenwelt wiedergegeben wird, und diese Spiegelungen der Innenwelt, die er selbst »Bewusstseinsstrom« nennt – die jedoch unserer Meinung nach sehr viel mehr ein innerer Monolog sind als ein Bewusstseinsstrom im Sinn von Joyce, der von einem Thema zum anderen springt –, jene Kapitel, bei denen Atay am meisten seine Hand als fiktionaler Autor im Spiel hat, in denen er am souveränsten ist und in denen folglich auch das Werk am ehesten zum Roman wird. Der zweifellos schwierigste Aspekt der Aufgabe, die Atay übernommen hatte, bestand darin, aus dem Werk einen Roman zu machen, ihm die künstlerische Dimension zu verleihen und aus den Dokumenten, die ihm zur Verfügung standen, nicht nur eine Biografie, sondern eben einen Roman zu machen. Im Werk selbst legt er dem älteren Protagonisten folgende Worte in den Mund: »Alles, was wir in die Hand bekommen, kochen wir in einem Romankessel und versuchen etwas Genießbares daraus zu machen.« Es ist eindeutig, dass er sich dabei viel Mühe gab.
In einem Interview sagt er: »Während ich versuchte, in Mustafa Inans Innenwelt und in seinen Bewusstseinsstrom einzudringen und die verschiedenen Facetten seines Lebens miteinander zu verbinden, ergab sich daraus eine Form, die man meinen individuellen Stil nennen könnte. Allerdings mied ich es auch an solchen Stellen, dies so darzustellen, als ob es dokumentarisch wäre, das heißt, ich baute fiktionale Szenen ein und beschrieb alles so, als ob es nicht wirklich passiert wäre. Ich glaube nicht, dass diese vielen verschiedenen Bemühungen in einem solchen Roman überzeugend sein würden.« Atay ist der Autor eines biografischen Romans, der von realen Geschehnissen abhängig ist. Die Tatsache, dass der Roman im Verlauf des Schreibens einer doppelten Kontrolle unterzogen und das Ziel eher an der didaktischen Überzeugungskraft denn an der künstlerischen Vollkommenheit ausgerichtet war, bestimmte zweifellos auch ganz von selbst die Eigenheiten von Form und Inhalt des Werks.
(…) Die Fiktion des Romans besteht darin, dass der Professor – ein Freund von Mustafa Inan – einem Studenten aus der Provinz die Lebensgeschichte Inans erzählt; es ist die Rahmenhandlung, durch die das Buch zum Roman wird. Rauf Mutluay (1925–1995) jedoch, einer der Literaturkritiker jener Epoche, gibt zu bedenken, dass diese Erfindung Atays schwach sei: »Der zufällige Dialog zwischen dem Professor mittleren Alters und dem jungen Studenten ist wenig überzeugend.« Diese fiktive Umrahmung, die außerhalb des Geschehens bleibt, schadet dem Wirklichkeitsgehalt der Haupterzählung nicht, in der von Mustafa Inans Lebensgeschichte die Rede ist. Auch der Professor in der Rahmenhandlung, der Inans Leben erzählt, ist jemand, der nach einer bekannten Figur aus dem realen Leben geschaffen wurde, jemand, der Atay bei diesem Buch sehr unterstützt hat. Es ist Cahit Arf, der berühmte Mathematikprofessor, und während Atay den Roman schrieb, erwähnte er gegenüber Freunden und Bekannten in seinem Kreis sehr oft, dass er ihn bewunderte. Namik Aras, zu jener Zeit einer der Verantwortlichen der Türkischen Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Untersuchungen (TÜBITAK) erzählt, dass Cahit Arf zu ihm gesagt habe: »Der Professor in Der Mathematiker bin ich.« Auch Oguz Atay bestätigt dies: »Bei meinen Arbeiten hat mir vor allem der Mathematikprofessor Cahit Arf sehr geholfen. (…) Cahit Arf hat großen Anteil an meinen Ideen zu dem Buch und allem, was damit zusammenhängt. Als ich Cahit Arf kennenlernte, hörten meine Ideen auf, nur Ideen zu sein, und dank seiner Persönlichkeit haben sie sich konkretisiert.«
Innerhalb der Grenzen der fiktiven Wirklichkeit findet sich auch eine Überschneidung mit der äußeren Wirklichkeit. Atay, der seine Gedanken zum Thema des Werks in seinen früheren Romanen stets in das Textgewebe eingearbeitet hat und den Leser direkt anspricht, erzählt auf eine Art und Weise, die man supra-fiktional nennen könnte, indem er die fiktiven und realen Wirklichkeitsebenen ineinanderübergehen lässt. Diese Technik setzt er an manchen Stellen im Roman mit spielerischer Gewohnheit fort. Es liegt auf der Hand, dass die Ziele Atays, der – im Ganzen gesehen – im Rahmen des Traditionellen bleibt, nicht wie bei einem Autor der Moderne oder der Postmoderne zum Beispiel darin bestehen, die Wirklichkeit dadurch verschwimmen zu lassen, dass er die Realitätsebenen miteinander vermischt oder die Literatur zu einem Spiel mit dem Leser macht. Der fiktive Erzähler / Professor, der dem Studenten mit den Unterlagen und den Tondokumenten, die ihm zur Verfügung stehen, das Leben von Mustafa Inan beschreibt, sagt, alle diese Informationen würden in einem »Romankessel« gekocht, und der Student erwidert ihm: »Vielleicht schreiben Sie das, was Sie Roman nennen, meinetwegen. (…) Mir kommt es so vor, als gingen Sie mit einer solchen Sorgfalt an die Arbeit, damit etwas daraus wird, das ich verstehe.« Derselbe Erzähler / Professor erläutert an einer anderen Stelle das didaktische Ziel des Romans, als wäre er das Sprachrohr eines für das TÜBITAK-Projekt Verantwortlichen: »… ich will dich für die Wissenschaft begeistern.« Indem er an einer Stelle einen Zeitzeugen von Mustafa Inans Leben berichten lässt, teilt Atay seinen Kummer mit dem Leser: »Eine gute Lebensgeschichte zu schreiben, ist genau so schwer wie das Leben selbst.« Der markanteste Übergang zwischen der Welt jedoch, in welcher der Autor lebt, und der Ebene der fiktiven Wirklichkeit, die er kreiert, erkennt man in dem Kapitel im Roman, in dem der Autor Atay von ein paar Erinnerungen an Ereignisse erzählt, die er mit Mustafa Inan erlebte. Diesmal verlässt der Erzähler, der nie als »Ich« im Namen von Atay spricht, an vielen Stellen im Namen des fiktiven Professors berichtet oder auch anonym bleibt, die Sphäre der Erinnerung von vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, lässt sich auf den Zeitabschnitt ein, in dem Atay den Roman schreibt, und beginnt von sich aus zu reden, als ob er – wie ein Schauspieler – seine Rolle vergessen hätte: »… damals waren wir in derlei Dingen noch unerfahren.« Das ist ein Kopfsprung, den der Autor des Romans, Oguz Atay – vielleicht auch aus Versehen – wagt.
Oguz Atay will den Roman nicht in einem Handlungsrahmen in konsequenter Zeitenfolge aufbauen. Mit einem Ausdruck, den Oguz Atay sowohl im Leben – als auch im Roman – gern verwendete, sollte es keine Biografie nach »äußeren Leitlinien« werden, die »inneren Leitlinien« des Menschen sollten jedoch auch nicht von der Zeit abhängig sein. Daher sind nicht äußere Ereignisse für den Text ausschlaggebend, sondern Ideen, Prinzipien, Theorien, psychische / künstlerische Neigungen und persönliche Charakterzüge; die Kapitel des Romans haben Überschriften, die sehr viel mehr diese konkreten Eigentümlichkeiten beschreiben. Die Durchbrechung der Zeitenfolge ist einer der Kunstgriffe, ein Ausweg, wurde der Roman doch unter strenger Kontrolle geschrieben.
In Interviews, die in jenen Tagen wegen des Romans mit ihm gemacht wurden, wird die Frage gestellt, die ihn vielleicht am meisten beschäftigte: »War die didaktische oder die ästhetische Seite des Buches für Sie das Schwierigste?« – »Ich habe mich in einer echten Welt von Dokumenten und Menschen anMustafa Inans Leben abgearbeitet. Vielleicht ist dabei auch die ›ästhetische Seite‹ zum Vorschein gekommen. (…) Da auch die Welt der Wissenschaft eine reale Welt ist, ist es in gewisser Hinsicht ein ›ästhetisches‹ Verfahren, wenn dies dem Leser vermittelt wird«, antwortet er auf diese Frage. Nach der Erläuterung, dass »der dokumentarische Aspekt, selbst wenn er nicht didaktisch sei«, an Bedeutung gewonnen habe, vor allem, da er sehr viele Dokumente gesammelt habe, erklärt er nach ein paar Sätzen jedoch, »unter diesem Aspekt hat das Buch ›didaktischen Charakter‹, vor allem auch, weil es auf der Basis von Dokumenten von Mustafa Hoca erzählt.« Bei der Beantwortung dieser Frage macht der Widerspruch, den das Wort ›Didaktik‹ bei ihm hervorruft, deutlich, dass ihm diese Definition, die den Roman betraf, nicht befriedigte.
Der Mathematiker hat Atay ziemlich viel zu schaffen gemacht. In sein Tagebuch schreibt er am 9. Dezember 1974: »Ich habe wieder an dem biografischen Roman geschrieben.« Und Galip Karagözoglu, der Sekretär der Türkischen Gesellschaft, weiß zu berichten: »Der Roman war innerhalb der zwei Jahre, die wir ihm dafür zugestanden hatten, nicht abgeschlossen. Mit einem Schreiben, in dem u.a. erklärt wurde, dass die notwendigen Dokumente noch nicht bei ihm angekommen seien, bat er um eine Verlängerung von sechs Monaten.« Als der Roman fertig war, befand die Gesellschaft, dass das Werk dem Projekt entsprach und bestätigte dies. Das Buch wurde in der Druckerei der Gesellschaft gedruckt. »Wir haben das Buch nicht verkauft; wir haben es an Studenten, an Mitglieder von TÜBITAK, Wissenschaftler, Stipendiaten der Universität und an die Teilnehmer an unseren Wettbewerben verteilt. Ich glaube, wir haben fünftausend Exemplare drucken lassen. Wir haben das Projekt – wie auch immer – realisiert. Worauf es danach ankam, war, dass das Buch generell im Land zirkulierte«, berichtet Galip Karagözoglu weiter. Daher hatte TÜBITAK im Jahr 1975 nichts dagegen einzuwenden, dass der Roman erneut im Verlag Bilgi veröffentlicht wurde. »Mehrere Exemplare des Titels wurden Jale Inan geschickt, aber wir erhielten keinen Dankesbrief von ihr. Ich glaube, das Buch hat ihre Erwartungen enttäuscht«, sagt Karagözoglu. Da auch TÜBITAK in dieser Richtung sowieso Bedenken hatte, setzte die Gesellschaft eine Bemerkung an den Schluss des Buchs, die für einen Roman eher unüblich ist, um Problemen vorzubeugen: »Verantwortlich für alle Ereignisse, von denen in diesem Werk, das von der Türkischen Gesellschaft für wissenschaftlich-technische Untersuchungen unterstützt wird, berichtet wird, und für alle Ideen, die hier dargestellt werden, ist Prof. Dr. Jale Inan, die den Verfasser des Werks sowie dessen Veröffentlichung in dieser Form für angemessen hält.« Hüseyin Inan, Mustafa Inans Sohn, jedoch meint, TÜBITAK habe vorgeschlagen, einige Kapitel in dem Buch zu streichen, und Oguz Atay habe sich dagegen gewehrt. Laut Hüseyin Inan sei einer der beiden Punkte, an denen TÜBITAK sich am meisten gestoßen habe, die Frage der Freimaurerei von Mustafa Inan, der andere jedoch seien etliche Passagen, in denen nach Meinung der Gesellschaft die Universitätsprofessoren bloßgestellt und verspottet würden.
Gemeinsam mit seinen Freunden feierte Atay die Veröffentlichung von Der Mathematiker im Rejans. Bülent Korman berichtet, dass der ganzeFreundeskreis dort zusammengekommen war. Korman schenkte Oguz Atay, der sich über das Interesse Bülent Kormans an edlen Objekten bürgerlicher Machart lustig machte, in dieser Nacht einen recht bürgerlich anmutenden Füllfederhalter, welcher der Grund dafür war, dass Oguz ihn verspottet hatte.
Atay machte einen glücklichen Eindruck, da ihm eine große Last abgenommen war. Zweifellos war er gespannt auf die Wirkung, die das Buch in der literarischen Szene haben würde, hatte ihm doch alles, was er bei der Rezeption der ersten beiden Romane erlebt hatte, wenigstens auf der emotionalen Ebene Befreiung verschafft. Nachdem der Roman erschienen war, wurde er einige Male interviewt.
Der Roman stieß – in unterschiedlichen Kreisen – auf widersprüchliche Reaktionen. Die vielleicht nachhaltigste Reaktion erreichte auch Mustafa Inans Sohn. Sie kam meist von Gymnasiasten und Lehrern. Persönlichkeit und Lebensprinzipien des Professors im Roman, der im Literaturunterricht durchgenommen wurde, beeindruckten sie. Asim Sengör, der Chef der Firma, bei der Hüseyin Inan damals arbeitete, schickte den Roman Der Mathematiker seinem Sohn, der sich in Amerika aufhielt. Vater Sengör erklärt, dass er den Roman mit der Absicht geschickt habe, seinen Sohn zu beeinflussen, damit dieser seine Karriere an türkischen Universitäten fortsetze. Celals Vater war der Meinung, dass auch Oguz Atays Buch einen Anteil an der Rückkehr seines Sohns ins Land habe, ist der Sohn doch heute einer der charismatischen Professoren der Technischen Universität Istanbuls. Auch den Freunden der traditionellen Literatur gefiel dieser Roman. Mehmet Seyda, den der vorherige Roman Die Haltlosen befremdete, spricht lobend über Atays neuen Roman: »Ohne jeden Zweifel ist Der Mathematiker, das letzte Werk von Oguz Atay – einem Autor, dem eine kontinuierliche Entwicklung zu bescheinigen ist –, sein größter Erfolg.
Atays engem Freund, Halit Refiğ hingegen, der stets betont, dass die Literatur eher durch Elemente der regionalen denn der universalen Kultur zu einem Ganzen werden müsse, gefällt der Roman nicht nur, sondern er bringt auch zur Sprache,dass dieser Roman Zeuge eines wichtigen Persönlichkeitswandels seines Kollegen sei: »Dieser Roman bringt uns die gute Nachricht, dass Oguz aufgehört hat, mit sich selbst abzurechnen, und seine Umgebung mit klarem Blick, gesund und weise betrachtet. Wie in den Jahren, als ich ihn kennenlernte, hat er ein positives politisches Bewusstsein und seine Haltung insofern geändert, als ihm daran liegt, der Gesellschaft zu dienen.«
Doch dem fortschrittlichen Teil der literarischen Szene schien die Tendenz, die der neue Kurs erkennen ließ und bei dem auch Halit Refig als Mitstreiter eine Rolle spielt, nicht mehr zu gefallen. In einem Brief, den Oguz Atay am 28. Mai 1976 an Halit Refig schreibt, der sich zu diesem Zeitpunkt in Amerika aufhielt, sagt er: »In diesen Tagen habe ich mich mit Adnan Benk überworfen. Unter einem albernen Vorwand griff er mich an, und es war eindeutig, dass die ›Humanisten‹ – ihn eingeschlossen – mir wegen des Mustafa-Inan-Buchs böse sind. Und anscheinend hat auch meine Freundschaft mit dir – und in den letzten Monaten mit Metin (Erksan) – den Konflikt um das Buch verschärft.«
Sosehr der Roman als Auftragsarbeit Oguz Atays Freiheit einschränkte, so viele Schwierigkeiten er ihm auch bei der Niederschrift machte, und was auch immer sich an Ungewöhnlichem in all dem fand, was er schrieb – wenn man die Persönlichkeitsstruktur des Autors in Betracht zieht, lässt sich vermuten, dass der Roman den Autor selbst in seiner multiplen Persönlichkeit zeigt; es ist eine Persönlichkeit, die extreme Widersprüche in sich birgt. Im Prinzip findet sich diese bei einer ganzen Generation, deren Charakter in einer Art Unschuldsphase geprägt wurde, als materielle Werte und Profitdenken die Gesellschaft noch nicht in ihren Strudel gezogen hatten.
Auch wenn diese Komponenten unter anderen Bedingungen herangereift wären, würden sie sich im tiefsten Innern aller Menschen als Sehnsucht nach einer schuldlosen Existenz zeigen, die von Assoziationen an Liebe und Heiligkeit bestimmt ist. »Der Roman Der Mathematiker könnte ein schlechtes Buch sein, es ist jedoch unter dem Aspekt wichtig, dass Atay den Kemalismus darstellte, den er nicht nur als Idee, sondern als Lebensgeschichte sieht, als Lebensweise, in der er auch seine eigenen Wurzeln findet und der er sich verbunden fühlt. Wie er im Roman zur Sprache bringt, war dies die Lebensweise einer Epoche, in der Begriffe wie ›Vaterland und Nation‹ noch nicht allein das Monopol von Sonntagsreden waren (...). Das war ein Leben, in dem es so schien, als gäbe es die Chance, die Armen vom Schwarzbrot zu befreien (...) Und gleichzeitig wird das Leben von Mustafa Inan erzählt. Darin findet Atay ›Ehre‹ und ›Reinheit‹.«
Es liegt auf der Hand, dass Der Mathematiker nicht mit der Begeisterung, Leidenschaft und totalen Hingabe geschrieben wurde, wie es sich in der Motivation zur Schriftstellerei zeigt, die Oguz Atay jahrelang in ihren Fängen hatte, als lebenswichtiger und lebensnotwendiger Akt wie das Atem holen oder das Essen. Der Roman Der Mathematiker ist vielmehr das Resultat von Schwierigkeiten, mit denen Atay nicht fertig wurde, und dennoch ist es ein Text von Atay. Auch wenn das Buch ganz anders ist als seine ersten Romane, stellt es sich dennoch bis zu einem gewissen Grad selbst dar. Diese andere Persönlichkeit des Autors befremdet den Leser, der die Tendenz hat, ihn als »Haltlosen« zu sehen, da er ihn als Verfasser der »Haltlosen« kennengelernt hat und weiterhin als solchen kennen will. Der Leser kann die affirmative Erzählhaltung in Der Mathematiker von Atay, der ansonsten jedes Ereignis in seiner Umgebung durch Ironie, Spott und Rätsel filtert und alles kritisch hinterfragt, nicht mit der früheren Persönlichkeit des Verfassers in Einklang bringen. Auch aus diesem Grund gehen viele der Autoren, die sich auf Oguz Atay einlassen, nicht auf den Roman Der Mathematiker ein. Doch als Oguz Atay zwei Monate vor seinem Tod in London Bilanz über sein Leben als Schriftsteller zog, schrieb er mit einem positiven Ton in sein Tagebuch: »Es gab anscheinend manches Neue, mit dem ich in Mustafa Inan einen Anfang machte.«
Erschienen in: Ben Buradayim. Oguz Atay’in Biyografik ve Kurmaca Dünyasi, İstanbul 2005.