Memduh Sevket Esendal, am 29. März 1883 in Çorlu (Rumelien) geboren, gehört derselben Generation an wie Mustafa Kemal Atatürk und gilt als Befürworter der Republikgründung und der kemalistischen Reformen. Er bezeichnete sich als Autodidakten, der kaum Gelegenheit zu einem regulären Schulbesuch hatte; sein ganzes Wissen habe er sich im Selbststudium angeeignet. Muzaffer Uyguner, der nicht nur Esendals sämtliche Werke herausgegeben, sondern 1991 auch seine Biografie publiziert hat, hebt allerdings hervor, dass Esendal, bedingt durch mehrfache Umzüge von Çorlu nach Istanbul – und zurück –, in seiner Kindheit und Jugend zwar auf wechselnde Schulen geschickt wurde, dass er aber durchaus eine reguläre Schulausbildung hatte und 1901/02 seinen Gymnasialabschluss in Edirne machte.
Er kam als eines von drei Kindern von Mehmet Sevket zur Welt, der Ländereien in der Gegend von Çorlu besaß, Felder, die auch der Sohn zeitweise bestellte. Im Jahr 1906 – er war Anfang zwanzig – trat er der »Gesellschaft für Einheit und Fortschritt« bei, damals eine Geheimorganisation der Jung-Türken, die sich für eine grundlegende Umgestaltung des Osmanischen Reiches einsetzten. Als die Jung-Türken 1908 an die Macht kamen, wurde er als Inspektor auf Reisen durch Rumelien und Anatolien geschickt. Wie seine politischen Freunde vertrat er das Konzept, dass das Handwerk und die Inhaber kleiner und mittlerer Betriebe gestärkt werden müssten, damit eine solide Basis des gesellschaftlichen Gefüges gegeben sei. Auch in diesem Sinn ist seine Tätigkeit als Mitherausgeber der Zeitschrift Meslek – Der Beruf – ab 1925 zu verstehen.
Die Kluft zwischen dem aufgeklärten, prowestlichen Teil der Bevölkerung, d.h. den Intellektuellen, und den einfachen Leuten auf dem Land war ihm zeitlebens bewusst, und auch daher versuchte er, in seinen Erzählungen in einem einfachen, ungekünstelten Stil zu schreiben, der von jedermann verstanden wurde. Er liebte das Spiel mit Namen und schrieb unter wechselnden Pseudonymen wie Mustafa Yalinkat, M. Ogulcuk und Istemenoglu. Als Die Mieter des Herrn A. im Jahr 1934 erschien, standen nur zwei Initialen auf dem Titelblatt: M.S. In einer autobiografischen Notiz kommentiert er seine Neigungen: »Schon als Jugendlicher hat M.S. begonnen, sich heimlich mit Politik zu befassen und in Geheimbünde einzutreten. Diese Verbundenheit mit der Politik dauerte bei ihm an die vierzig Jahre, und er tat Dienst in politischen Institutionen. Zur gleichen Zeit arbeitete er auch als Lehrer und schrieb für Zeitungen.
In seiner Jugend machte MeSe es sich zur Aufgabe, Geschichten zu schreiben. Diese Neigung hielt bei ihm bis ins hohe Alter an. Auch wenn er mit diesem Hang zum Schreiben ziemlich viele Geschichten verfasst hat, so sind doch längst nicht alle an die Öffentlichkeit gelangt. Und einen Teil davon hat er verbrannt. Man könnte sagen, dass das Schreiben seine Lust war. Er arbeitete nicht für den Druck.
Er beschrieb nur, was er selbst erlebt und erlitten hat. Alles, was er geschrieben hat, müsste eigentlich wertvoll sein, da er wichtige politische Tätigkeiten ausübte und mit hohen Staatsaufgaben betraut war. Wir hoffen, dass seine Kinder seinen Nachlass drucken lassen. Er maß einen Meter fünfundsiebzig und war ein Mann von mittlerer Statur. Rein äußerlich hatte man nicht den Eindruck, dass ihm die Erhabenheit ins Gesicht geschrieben wäre.«
In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen die ersten Texte Esendals in verschiedenen, meist kurzlebigen Zeitungen und Zeitschriften. Verbürgt ist, dass seine Kurzgeschichte Feldwebel Veysel (Veysel Çavus) im Jahr 1908 in der führenden Zeitung der Jungtürken, Tanin, gedruckt wurde, das heißt im Jahr der jungtürkischen Revolution, in deren Verlauf durchgesetzt wurde, dass die Verfassung, die Abdülhamid II. im Jahr 1877 außer Kraft gesetzt hatte, wieder eingeführt wurde. Im folgenden Jahr wurde der Sultan entmachtet und ins Exil nach Saloniki verbannt.
Esendal heiratete 1909 seine Cousine Faide (1890–1985); aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Söhne Mehmet Suat und Ahmet wurden 1912 bzw. 1915 geboren, seine Tochter Emine 1923. Zwei Bände seiner Sämtlichen Werke sind den Briefen an seine Söhne und seine Tochter gewidmet, in denen er liebevoll und detailliert auf deren Entwicklung eingeht.
Am Ersten Weltkrieg nahm Esendal als Soldat teil, und während der Besetzung Istanbuls durch alliierte Truppen flüchtete er nach Italien. Dort erreichte ihn in Rom ein Brief von Mustafa Kemal, der ihn persönlich darum bat, den Posten als Gesandter in Baku (Aserbaidschan) zu übernehmen, da er als »Avam«, das heißt als Spross aus dem niederen Volk, gelten konnte und damit den Sowjets genehm wäre. Er ließ sich darauf ein und wurde 1920 als Botschafter der provisorischen Regierung der Türkei in die Hauptstadt Aserbaidschans am Kaspischen Meer entsandt, wo er bis 1924 blieb. Nach seiner Rückkehr in die Türkei unterrichtete Esendal Geschichte und Geografie an zwei angesehenen Gymnasien Istanbuls, am Galatasaray und am Kabatas Lisesi. In dieser Zeit, am 31. März 1925, erschien eine seiner Erzählungen, Der Prozess um den Dampfer (Vapur Davasi), in der Zeitschrift Meslek, die er gemeinsam mit Freunden begründet hatte. Auch sein Roman Das Erbe (Miras) wurde dort in Fortsetzungen publiziert.
Im Juni 1926 wurde in Izmir ein Bombenattentat auf Mustafa Kemal verübt, ein Anschlag, in den auch politische Freunde Esendals verwickelt waren. Er aber wurde wiederum als Botschafter außer Landes geschickt, vor allem auch, damit er allen Verdächtigungen, er könne etwas damit zu tun haben, entging, wie sein Sohn Suat in seinen Lebenserinnerungen erzählt. Bis 1931 blieb Esendal in Teheran. Es heißt, er habe Französisch, Russisch und Persisch im Selbststudium erlernt und war daher in der Lage, sich in den Ländern, in denen er als Diplomat weilte, mühelos zu verständigen.
Eine der wichtigsten Neuerungen, auf die Esendal – an höchster Stelle – Einfluss hatte, war die Sprachreform. Bestand das Ziel ursprünglich darin, die osmanische Hochsprache durch ein Türkisch zu ersetzen, in dem Floskeln und grammatische Konstruktionen arabischer und persischer Herkunft minimiert würden, so zeigten sich im Verlauf der einzelnen Reformschritte deutlich extrem nationalistische Tendenzen, die fatale Ähnlichkeit mit Germanisierungstendenzen zurzeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland hatten. Derlei chauvinistisch ausgerichteten Dummheiten wurde wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Einhalt geboten; eine Zäsur bildet hier der 6. Türkische Sprachkongress, der vom 19. bis 23. Dezember 1949 in Ankara tagte; den Vorsitz hatte Memduh Sevket Esendal. Zeit seines Lebens riet er zur Mäßigung und warnte davor, die »Purifizierung« zu weit zu treiben, wie aus der Chronologie der türkischen Sprachreform von Jens Peter Laut hervorgeht (vgl. www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/1833).
Als Esendal am 16. Mai 1952 starb, hinterließ er ein Werk von drei Romanen und vielen Erzählungen, in denen er den Alltag in der Republik realistisch und in klarer Prosa schilderte. Für seinen Roman Die Mieter des Herrn A. erhielt er 1942 den Romanpreis der Republikanischen Volkspartei, eine Ehrung, die den Erfolg des Romans steigerte.
Esendal gehört der Generation an, die mit ihrer ganzen Person hinter den Reformen standen, die für die Neugestaltung des Landes ausschlaggebend waren, vor allem hinter der Gleichstellung von Mann und Frau. In seinem Ankara-Roman hat er ein realistisches Bild der Auswirkungen der Neuerungen auf das Alltagsleben geschildert; mit freundlicher Ironie skizziert er seine Romanfiguren, schildert ihre Schwächen und schafft mit dem ein wenig naiven Ich-Erzähler, der die Geschehnisse beobachtet, einen Hoffnungsträger für eine neue Gesellschaft.
Schauplatz der Handlung ist Ankara, die neue Hauptstadt inmitten der anatolischen Hochebene. Ende der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts hatte die Stadt etwa 45 000 bis 50 000 Einwohner, bis 1950 wuchs die Zahl auf knapp 300 000, und heute sind es, geschätzt, mehr als fünf Millionen. Nur am Rande wird die Stadt namentlich erwähnt, und dennoch ist Ankara durch viele Verweise präsent; da ist von den Botschaften die Rede, von Ministerien und der Notwendigkeit, den Wohnsitz aus beruflichen Gründen von Istanbul in die Hauptstadt zu verlegen. Der neue Status des einst verschlafenen Landstädtchens als Regierungssitz verspricht Geschäfte und Glück, lässt bei vielen die Hoffnung auf eine neue Zukunft aufkommen, und es herrscht ein Pioniergeist, wenn nicht gar eine Goldgräberstimmung, die Arrivierte und Depravierte, Glücksritter und einfache, unbescholtene Leute anzieht.
Wenige Jahre nach der Gründung der Republik spielt das Geschehen des Romans, und konsequent wird aus der Sicht des Ich-Erzählers, eines Bankangestellten, berichtet. Ihm wurde eine Unterkunft in einer Wohnung mit neun Zimmern von einem Kollegen überlassen, und der Roman beginnt mit seinem Einzug. Noch ein wenig scheu, etwas unsicher, lässt er sich von dem blassen, kränklichen Dienstmädchen Halide über den Hausherrn, die anderen Mieter und deren Beziehungen berichten. Mit dem anfangs kühlen Blick des Beobachters, der sich auf keinen Fall in die Verwicklungen innerhalb der Wohnung einbeziehen lassen will, schildert er seine Erlebnisse und die alltäglichen Ereignisse. In einem plastischen Stil werden die einzelnen Personen nach und nach, Kapitel für Kapitel, lebendig. Trotz seines Vorsatzes, sich so weit wie möglich zurückzuhalten, ist der Ich-Erzähler dann doch sehr viel stärker in die Geschehnisse involviert, als ihm lieb ist.
Es ist eine bunte, aus allen Teilen des zusammengebrochenen Vielvölkerreiches durcheinandergewürfelte Gesellschaft, es sind Vertreter mehrerer Generationen, die hier zusammenleben und sich miteinander arrangieren. Von überall her hat es sie hierherverschlagen, und jede Roman-figur wird mit ihrer Lebensgeschichte vorgestellt. Haupt-mieter ist Ayasli Ibrahim Efendi, und bevor er persönlich auftritt, wird – zu Beginn des 4. Kapitels – die fantasievolle Inneneinrichtung seines Zimmers präsentiert, das Ähnlichkeit mit einer Kemenate in einer Karawanserei hat. Ayasli verlor schon als Kind seinen Vater, schlug über die Stränge, war von seiner Mutter kaum mehr zu bändigen und ging als Bandit in die Berge, lieferte sich Gefechte mit den Ordnungs-hütern, wurde amnestiert, arbeitete dann als Steuereinnehmer in einer Kleinstadt und handelt zurzeit des Romangeschehens in Ankara mit alten Möbeln im Oberen Basar. Einst betrieb er ein Hotel und eine Herberge, musste das Hotel allerdings aufgeben, als es nicht mehr den Erfordernissen der Zeit entsprach. Er ist nicht nur Hauptmieter der Wohnung, sondern fühlt sich auch für seine Mieter verantwortlich, betrachtet sie als seine Schutzbefohlenen und nimmt sich ihrer mit väterlicher Fürsorge an; es wird angedeutet, dass es ihm weniger auf die Mieteinnahmen ankommt als darauf, stets Gesellschaft um sich zu haben, um nicht allein zu sein.
Sein Freund und Weggefährte, Hasan Bey, ist etwa im gleichen Alter wie Ayasli, zwischen fünfzig und sechzig, und kämpft um sein Recht; er ist durch den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei zuerst nach Samsun gekommen, da man ihm dort Ersatz für seine verlorenen Ländereien zugesagt hatte, nun aber heißt es, er werde Land in Ayvalik in der Nähe von Izmir erhalten, und fast täglich spricht er bei Behörden vor, um zu hören, wie es um seine Sache steht. Hasan Bey war ein Freund des älteren Bruders des Ich-Erzählers, beide erkennen einander wieder, und Hasan erzählt ihm von seiner Tochter Selime, die zurzeit in Ayvalik lebt. Verheiratet war sie kurze Zeit mit einem Alkoholiker, einem Schulfreund des Bankangestellten.
Vom Schicksal gebeutelt ist auch Hüseyin, ein Herr mittleren Alters vom Van-See mit den besten Manieren, ein hochgebildeter Alevit kurdischer Herkunft, der seine Felder durch Enteignung verlor. Jedermann klagt er sein Leid; anfangs hört man ihm noch voller Anteilnahme zu, doch das Mitleid schlägt bald in Missfallen um, da seine Klagen zu einer unaufhörlichen, monotonen Litanei werden.
Es sind verworrene, anrührende Menschenschicksale, die zwar nur mit wenigen Sätzen skizziert werden, dadurch aber nicht weniger anschaulich wirken. Der Ich-Erzähler registriert alles, was er anfangs von dem Dienstmädchen Halide, später von ihren Nachfolgerinnen Raife und Ziynet erfährt oder selbst wahrnimmt. Die Sprache ist einfach, ungekünstelt, und manches schildert er mit freundlicher Anteilnahme. So auch den vertrottelten alten Sefik Bey, vor dem Halide sich ekelt, da sie ihn für einen Schmutzfink hält, der das Bad verunreinigt. Er ist der Sohn eines Albaners und einer Christin aus dem Libanon, hatte seine Schulzeit zuerst in Istanbul verbracht und war dann von französischen Priestern in Beirut erzogen worden. Einst war er Konsul und schlägt sich heute als Dolmetscher in verschiedenen Botschaften durch. Seine Nächte verbringt er in dunklen Kaschemmen mit undurchsichtigen Gesellen, und es heißt, er liebe die Knaben.
Besonders attraktiv erscheint dem Bankangestellten zuerst Faika, bevor es Turan, der Ehefrau von Hâki Bey, gelingt, ihn zu verführen. Faika ist die Stieftochter von Herrn Ayasli, und verheiratet ist sie mit Fuat, dem Fahrer, dessen Mutter aus Istanbul zu Gast ist. Diese ist ebenfalls eine Angehörige der älteren Generation, die sich Gedanken über die neu gewonnene Freiheit der Frauen macht, der sie skeptisch gegenübersteht.
Es sind zwei Ehepaare, die jeweils ein Zimmer gemietet haben: Hâki Bey, der in einem Derwischkonvent bei Gelibolu aufwuchs, dann eine Schule für Reserve-Offiziere besuchte, widerwillig als Soldat am Ersten Weltkrieg teilnahm und danach als Sekretär mit einer Delegation nach Deutschland geschickt wurde. Als die Mission dieser Abordnung beendet war, blieb er und wurde dort vergessen. Nachdem er offenbar von der Gehaltsliste gestrichen worden war, meldete er sich bei seiner Dienststelle und wurde nach langem Hin und Her wieder als Obersekretär des Direktors eingesetzt. Hâki ist ein sanfter, duldsamer Mensch und erträgt klaglos alles, was seine Ehefrau Turan anstellt. Mitten in der Wohnung hat sie einen Spielsalon eröffnet, in dem es zum Teil um recht hohe Summen geht; er duldet auch dies, und selbst als sie es mit der ehelichen Treue nicht genau nimmt und den Ich-Erzähler umgarnt, nimmt er es weder ihr noch ihm übel.
Als listig und verschlagen wird Abdülkerim geschildert, der ursprünglich aus Buchara kam, in Istanbul zur Schule ging, die Kriegsschule absolvierte, kurze Zeit Soldat war, dann als untauglich ausgemustert wurde und nun mit Feuerholz und Kohle handelt. Iffet, seine Frau, ist die Tochter eines pensionierten Beamten niederen Ranges aus Üsküdar. Sie haben einen kleinen Sohn, der ihnen das Leben schwer macht, ein quengeliges Kind, das kaum zu bändigen ist und allen Mitbewohnern auf die Nerven geht. Beide Elternteile sind mit der Erziehung des Jungen überfordert. In ihrem Auftreten und ihrem Äußeren versucht Iffet sich an der attraktiven, selbstbewussten Turan zu orientieren und ahmt sie in vielem nach. Dies geht so weit, dass sie nach Turans Auszug einen eigenen Spielsalon eröffnet und ihn zur Unterhaltung ihrer Gäste mit jungen Damen dekoriert.
In dieser Gesellschaft darf auch Iskender nicht fehlen, ein smarter junger Mann von Mitte dreißig, dessen Vater einst Großbäckereien in Russland betrieben hatte; angeblich hat Iskender eine Fabrik für Betonziegel gegründet, gegen Ende des Romans stellt sich jedoch heraus, dass er Opiumextrakt hergestellt hat – und er wandert ins Gefängnis.
Dies alles registriert der Ich-Erzähler in seinen Aufzeichnungen, die einem Tagebuch glichen, würde er die einzelnen Personen nicht jeweils in ihren Dialogen zu Wort kommen lassen. Eine zentrale Rolle spielt die Emanzipation der Frauen, die er zwar befürwortet, die den älteren Frauen jedoch nicht ganz geheuer zu sein scheint. So lamentiert etwa Faikas Schwiegermutter und macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wenn es um ihre Sicht der Verhaltensweisen der jungen Generation geht. Auch wenn es für sie eine Selbstverständlichkeit war, dass sie ihren beiden Töchtern eine Ausbildung hat zukommen lassen, klagt sie über die neuen Freiheiten, die Offenherzigkeit der Mode und die Sitte, sich die Haare kurz scheren zu lassen. Auch das neue Eherecht hält sie eher für schädlich, da die Männer nicht mehr ohne Weiteres heiraten wollen, seit die Scheidung viel schwieriger geworden ist.
Beruflich bieten sich den jungen Frauen viele Möglichkeiten, vor allem im aufstrebenden Ankara: Sie können als Dienstmädchen in Haushalten, als Stenotypistinnen in Kanzleien, im Notfall auch in Nachtclubs arbeiten; dies schafft eine neue Unabhängigkeit. Von der Ehe allerdings sind auch die jungen Frauen nicht mehr überzeugt und ziehen das Zusammenleben ohne Trauschein vor, wie das Dienstmädchen Halide, das sich vom Haushalt des Herrn Ayasli verabschiedet, als sie sich, wenn auch widerwillig, entschließt, ihr Kind auszutragen. Der Ich-Erzähler ist entsetzt, als er gewahr wird, dass sie sich nicht etwa auf ihr Kind freut, sondern alles tut, um es loszuwerden. Er hält dies für widernatürlich, und seine Beziehung zu Halide kühlt sich dadurch ab, mehr noch, er ist schockiert über ihr Verhalten. Ihre Nachfolgerin, Raife, eine geschwätzige ältere Frau, die ihn wiederum mit dem neuesten Klatsch aus der Wohnung versorgt, schickt ihm ihre beiden Töchter in der Hoffnung, dass er sie als Schreibdamen in seiner Bank unterbringen könne. Er lehnt dies mit der Begründung ab, man halte ihn für viel einflussreicher, als er tatsächlich sei.
Sein Vorgesetzter aber, der Bankdirektor, hält große Stücke auf ihn, schätzt seinen Fleiß und seine Unbestechlichkeit. Er wird zwei Monate lang auf eine Dienstreise in die Gegend von Adana, Mersin und Tarsus geschickt und findet bei seiner Rückkehr ein neues Dienstmädchen, Ziynet, vor, die Tochter kretischer Einwanderer, die eine Zeit lang mit einem mutmaßlichen Gauner verheiratet war und nun mit einem anderen zusammenlebt. Freimütig spricht sie mit dem Bankangestellten darüber und erklärt ihm, wie wenig sie von der Institution der Ehe hält. Von ihr nun erfährt er etwas über die wahren Verhältnisse in der Wohnung: Die Ehefrau von Herrn Ayasli, Makbule, betreibt anderswo ein Bordell, und Faika, ihre Tochter, sei nur der Form halber mit Fuat, dem Fahrer, verheiratet; in Wirklichkeit sei sie die Geliebte Ayaslis.
Hatte der Ich-Erzähler sich bereits an seinen Freund, den Arzt Fahri, gewandt, als Halide – wie es schien – besorgniserregend krank wurde, so wird sein Verhältnis zu dem Freund enger, je suspekter ihm die Vorgänge in der Wohnung erscheinen. Das Leben in der Wohnung des Herrn Ayasli ersetzt ihm zwar mehr und mehr die Familie, und Turan ist seine Geliebte geworden, Fahri aber stellt sein leibhaftiges schlechtes Gewissen dar und drängt ihn zum Auszug, mehr noch, zum Heiraten, mit anderen Worten, zu einer soliden Existenz, fern von dem libertinösen Dasein in einem Haus, das allmählich zu einer Spielhölle geworden ist, in dem zeitweise auch undurchsichtige Gestalten ein und aus gehen. Da Doktor Fahri selbst auf Freiersfüßen wandelt und sich für die Nichte des Bankdirektors interessiert, übernimmt der Ich-Erzähler – erfolgreich! – die Brautwerbung.
Als Hasan Bey, der Freund und Weggefährte von Herrn Ayasli, schwer erkrankt und schließlich stirbt, nehmen alle Mieter in rührender Weise Anteil. Ayasli selbst kümmert sich kurz vor Hasan Beys Tod noch darum, dass einer seiner Schuldner ihm Geld zurückzahlt – und der Bankangestellte lernt Selime, Hasans Tochter, kennen, die auf die Nachricht von der Erkrankung ihres Vaters hin aus Ayvalik anreist. Zwischen ihm und Selime entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die auf dem Gleichklang von Gedanken und Gefühlen beruht, und so heiraten nicht nur Doktor Fahri und Melek, die Nichte des Bankdirektors, sondern auch der Ich-Erzähler und Selime standesgemäß.
Die Neun-Zimmer-Wohnung aber muss Herr Ayasli schließlich aufgeben, da die Miete zu hoch geworden ist; Turan ist seit Längerem ausgezogen und hat in einem anderen Haus – und in größerem Stil – einen Spielsalon eröffnet. Ihr Abschied vom Bankangestellten war kühl, und obwohl Turan ihn aufgefordert hatte, ihn zu besuchen, war er entschlossen, sie nicht wiederzusehen, um sich vor allem von diesem Lebensstil zu trennen. Er, der lautere, unbestechliche und ein wenig naive Bankangestellte, entscheidet sich, unterstützt von seinem Freund Fahri, für eine solide Zukunft, für Ehe und Familie. Nach Ayaslis Tod geht er ein letztes Mal durch die nunmehr leer geräumte Wohnung und betrachtet versonnen, auch ein bisschen wehmütig, die letzten Spuren der früheren Einrichtung; das einst so bunte, ausschweifende Leben ist nun endgültig Vergangenheit.
Es sind die Geburtswehen der neuen Republik, die hier am Beispiel des zum Teil recht abenteuerlichen Alltagslebens in der Stadt geschildert werden. Der Versuch des jungen Mannes, in der ihm fremden Umgebung Fuß zu fassen, wird anschaulich geschildert, und deutlich wird die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass er sich aus diesem Lotterleben von Spielern, Gaunern und gescheiterten Existenzen löst und den Weg zu einem soliden, bürgerlichen Dasein findet. Anderseits fühlt er sich magisch angezogen von der Verruchtheit des Lebensstils in Ayaslis Wohnung, der Umgang mit Frauen wie Faika und der attraktiven Turan fasziniert ihn, und in allen seinen Schilderungen wird deutlich, wie wohl er sich zeitweise in diesem Haus fühlte, das für ihn eine Art Familienersatz bedeutete. Schließlich hat er dadurch, dass er einer der Ihren wurde, seine Schüchternheit verloren und ein neues Selbstbewusstsein gewonnen.
Memduh Sevket Esendal stand seinem eigenen Roman skeptisch gegenüber und meinte in einem Brief vom 23. März 1934 an einen seiner Söhne, das Buch sei ein wenig überstürzt auf den Markt gekommen, manches sei noch unreif und er hätte stärker am Stil feilen müssen. Immerhin habe er jedoch ein realistisches Bild der Stadt gezeichnet und Kritik an den Zuständen – wie Prostitution, Ausnutzen der Spielleidenschaft, Drogenhandel und Promiskuität geübt, im Gegensatz zu seinem Kollegen Yakup Kadri Karaosmanoilu (1889–1974), von dem im gleichen Jahr der Roman Ankara erschienen war. Hart geht er – in demselben Brief – mit dem Kollegen und seinem fiktionalen utopischen Entwurf der Hauptstadt ins Gericht und spricht davon, dass man sich den Gegebenheiten stellen müsse, statt ein erfundenes Nirgendwo zu entwerfen, ein Fantasiegebilde, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe. Ihm, Esendal, sei es darum gegangen, die Verhältnisse am konkreten Beispiel zu kritisieren.
Mit seinem Roman stellt er ein Bild dar, das die Realität in vielen Zügen drastisch überzeichnet. Dadurch, dass aus der Perspektive eines unbescholtenen jungen Mannes erzählt wird, ist die Tendenz erkennbar, die Geschehnisse aus einem naiven, unvoreingenommenen Blickwinkel zu schildern. Der Ich-Erzähler nähert sich den einzelnen Personen mit freundlicher Anteilnahme, manches Mal lässt er sich fast liebevoll auf seine Figuren ein und charakterisiert sie, ohne sie herabzusetzen oder überdeutlich moralisch zu werten, auch wenn dies oft mit einem ironischen Unterton geschieht. Persönlich löst er sich aus allen Irrungen und Wirrungen, und dadurch zeichnet sich ein Weg ab, der zu den Grundlagen einer soliden bürgerlichen Existenz führt, zu Ehe, Familie und moralischer Integrität. Mit dem Bankangestellten skizziert der Autor einen jungen, unkorrumpierten – und unkorrumpierbaren – Mann, der als Hoffnungsträger für die junge Republik gelten kann. Die Verwicklungen, denen er in der Wohnung des Herrn Ayasli ausgesetzt war, tragen dazu bei, sein Ich zu stabilisieren und ihn gegen die Versuchung, sich auf unlautere Machenschaften einzulassen, zu immunisieren, und moralisch gestärkt geht er aus dieser Probezeit hervor. Sein Charakter hat sich gefestigt. Er und sein Freund, der Arzt Dr. Fahri, werden als Stützen des sich neu bildenden gesellschaftlichen Gefüges dargestellt. Bei aller Kritik an den Zuständen in den Anfangsjahren der Republik strahlt der Roman dennoch Optimismus aus; deutlich gezeigt wird die Hoffnung auf eine stabile Zukunft, in der Männer und Frauen gleichberechtigt miteinander leben und ihren Alltag gestalten können.
Monika Carbe