Der Roman »Der Colonel« schildert den Untergang einer Familie: eines Offiziers der Schah-Armee, seiner Frau und seiner fünf Kinder. Ihr Schicksal symbolisiert den Zerfall einer ganzen Gesellschaft, ausgelöst durch die Revolution von 1979. Der Schah wurde aus dem Land gejagt, die zweieinhalbtausend Jahre alte Monarchie in die Geschichte verbannt. Ein ganzes Volk stellte sich gegen die alte Ordnung, jeder hoffte auf bessere Zeiten, auf die Verwirklichung seiner Wünsche und Utopien, auf Freiheit und Unabhängigkeit. Doch die Situation, die wir im Roman antreffen, ist ganz anders: Es herrscht Chaos, die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, an jeder Ecke steht ein Märtyrer-Denkmal, aus den Gassen vernimmt man Trauergesänge. Das Land steht abermals am Abgrund.
Die Revolution von 1979 war weit mehr als ein Regime- oder Systemwechsel, sie war auch ein Akt der Rache, der Schlussstrich unter einer Rechnung, die seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts offenstand. Die konstitutionelle Revolution von 1906 leitete die moderne Geschichte Irans ein, und schon hier standen sich der Hof, der konservative Klerus, die westlich orientierten Liberalen, Nationalisten und die Linken feindlich gegenüber. Aus diesem Kampf zwischen Fortschritt und Restauration ging zunächst der Hof als Sieger hervor. Der absolute Herrscher Reza Schah, der mit Nazi-Deutschland liebäugelte, sorgte zwar für technischen Fortschritt, seine Schreckensherrschaft schaltete jedoch alle anderen Kräfte aus, auch den Klerus. Fortan durften Frauen keinen Schleier mehr tragen, den Mullahs wurde auf offener Straße der Turban vom Kopf gerissen und der Bart abrasiert – eine Demütigung, die tiefe Wunden und Rachegefühle hinterließ.
Der Zweite Weltkrieg brachte eine Wende. Die alliierten Mächte, die Sowjetunion und Großbritannien, besetzten den Iran und zwangen den Schah zur Abdankung, er wurde auf die Mauritius-Inseln verbannt. Dem Diktator, der stets auf nationale Unabhängigkeit gepocht hatte, folgte der unerfahrene, politisch eher desinteressierte, gut lenkbare Sohn. Mit ihm, so das Kalkül, würden die ausländischen Interessen viel leichter durchsetzbar sein. Es entstand für kurze Zeit ein Machtvakuum, das verschiedenen Strömungen die Chance bot, auf die politische Bühne zurück-zukehren. In dieser kurzen Phase der iranischen Geschichte kamen Liberale und Demokraten zum Zug. Unter der Führung von Mohammad Mossadegh forderten sie die Nationalisierung der Ölindustrie und damit das Ende der britischen Vorherrschaft im Iran. Tatsächlich wurden die Briten gezwungen, das Land zu verlassen, doch ein vom Geheimdienst CIA organisierter Putsch brachte Mossadeghs Regierung zum Sturz. Damit konnten die USA die Nachfolge der Briten antreten. Sie rüsteten die Armee auf, organisierten einen gut funktionierenden Geheimdienst und machten aus dem jungen Schah einen ihnen willigen Diktator.
Als es fünfundzwanzig Jahre später zum Volksaufstand kam, gelang es der islamischen Geistlichkeit unter der Führung von Ayatollah Khomeini, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen und nach dem Sturz des Schahs die Macht an sich zu reißen. Ihr Ziel war die totale Islamisierung der Gesellschaft, die Zerstörung aller bis dahin errungenen demokratisch-liberalen Werte. Damit nicht genug, für die Islamisten kam die Zeit der Abrechnung. Nicht nur, dass sie alle anderen politischen Strömungen ausschalteten und deren Vertreter liquidierten, sie versuchten auch, durch einen »Kulturkampf« alles auszumerzen, was die Moderne im Iran bis dahin hervorgebracht hatte.
Dazu gehörte aber auch ein weiterer, nicht minder wichtiger Aspekt: das Verhältnis Irans zur Außenwelt, insbesondere zum Westen. Der Iran war zwar nie eine Kolonie gewesen, wurde jedoch seit der Entdeckung der Ölquellen durch den Briten William Knox D’Arcy Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von der britischen Ölgesellschaft BP beherrscht. Nach der Verstaatlichung der Ölindustrie setzte sich die Fremdherrschaft durch die USA fort. Mehr als zehntausend amerikanische »Berater« saßen an den Schaltstellen der Macht und bestimmten die politische Marschrichtung. Die Wunden der täglichen Demütigungen, die das Volk fast ein Jahrhundert lang durch Fremdbestimmung erleiden musste, saßen tief. Die Ablehnung der verhassten Fremdherrschaft einte neben dem Kampf gegen die Schahdiktatur alle politischen Strömungen in der Revolution von 1979. Es gehört zur Tragik der iranischen Geschichte, dass diese emanzipatorische Zielsetzung, die im Ruf der Aufständischen nach Unabhängigkeit und Freiheit zum Ausdruck kam, später von den Islamisten zur Legitimierung ihrer rückwärtsgerichteten Ideologie missbraucht wurde. So kam es, dass die Revolution, statt mit verkrusteten, antiquierten moralisch-gesellschaftlichen Vorstellungen aufzuräumen, sie neu belebte. Auf diesem geschichtlichen Hintergrund spielt der Roman.
Es ist erstaunlich, dass dreißig Jahre vergehen mussten, bis in der iranischen Literatur ein bedeutendes Werk erscheint, das sich mit dieser Geschichte intensiv auseinandersetzt. Der Colonel ist die erste große, literarische Verarbeitung dieser dramatisch bewegten Zeit. Es ist kein Zufall, dass gerade Mahmud Doulatabadi, der wohl populärste lebende Autor Irans, sich dieser schweren Aufgabe widmete. Wie bei kaum einem anderen Autor sind sein Leben und Werk mit der iranischen Geschichte und Kultur verbunden. Die Kindheit verbrachte er in seinem Geburtsort Doulatabad, im Nordosten Irans, in jener Gegend, aus der viele Figuren seiner zahlreichen Werke stammen. Schon als Kind musste er als Hirte und Landarbeiter schwere Arbeit leisten, oft bis zu fünfzehn Stunden am Tag in der prallen Sonne, am Saum der großen Salzwüste. »Der schwere Kampf zwischen dem harten Stein und dem zerbrechlichen Glas in meinem Innern, unzählige Splitter auf der trockenen Erde, Menschen, bedroht von Armut und Hungersnot …«
Mit dreizehn verlässt er das Dorf, ist auf sich allein gestellt und verdient zunächst in Maschad und Sabsewar, dann in Teheran als Friseur, Kartenkontrolleur im Kino, Anzeigensammler für Zeitungen sein Brot, besucht nebenher die Schule. Er ist ohne Obdach, die Nächte verbringt er oft auf der Straße. In seiner Freizeit verschlingt er jedes Buch, das ihm in die Hände kommt. Ohne Abitur wird er an der Theaterakademie aufgenommen, er schreibt seine erste Erzählung Abgrund der Nacht. Hier beginnt seine literarische Laufbahn. 1969 erscheint die erste Sammlung seiner Erzählungen, es folgen zahlreiche Veröffentlichungen, Drehbücher, Theaterstücke, literaturkritische und politische Essays. Dann nimmt er die Arbeit an Kelidar, einem zehnbändigen, rund dreitausend Seiten zählenden Epos auf. Zwei Jahre Kerker unter dem Schahregime, danach die tobende Revolution und schließlich die Wehklagen des heiß geliebten, sterbenden Vaters können sein unermüdliches Schaffen nicht beeinträchtigen. 1983, nach fünfzehn Jahren, ist das Werk vollendet. Die Veröffentlichung ist eine Sensation, die ihn mit einem Schlag berühmt macht. »Ich war völlig erschöpft, hoffte endlich Ruhe zu finden, aber ich war zum Schreiben verdammt.« Schon plant er das nächste Mammutwerk, Vergangene Zeiten betagter Menschen.
Während der Arbeit an Kelidar, der er sich mit seinem ganzen Wesen hingab, ignorierte er die Ereignisse draußen, sie verfehlten aber offenbar nicht ihre Wirkung auf ihn. »Ich spürte eine starke Unruhe in mir, einen inneren Zwang, der mich bis an den Rand des Wahnsinns trieb.« Dann kam die entscheidende Nacht. »Es war ein Traum, ein Albtraum. Ich sah die einzelnen Figuren, den Colonel und seine Kinder, spürte die Atmosphäre vor und nach der Revolution, die ganze Geschichte lief wie im Zeitraffer vor meinen Augen ab. Als ich aufwachte, setzte sich der Albtraum fort. Ich begann sofort das Erlebte niederzuschreiben, sonst hätte ich den Drang, der mich innerlich aufwühlte, nicht ausgehalten.«
Der Colonel, die Hauptfigur, ist Offizier der Schah-Armee, aber kein blinder Befehlsempfänger Seiner Majestät, sondern ein Soldat mit Prinzipien, ein Patriot, der zu seinem Schwur steht, einzig den Interessen des eigenen Landes zu dienen. Folglich verweigert er die Teilnahme an der Niederschlagung eines Aufstands in der Provinz Dhofar im Staat Oman am Persischen Golf, zu der die Schah-Armee seitens Großbritanniens und der USA beauftragt worden war. Das ist nach Auffassung seiner Vorgesetzten Befehlsverweigerung und Fahnenflucht, wofür er mit Gefängnis bestraft wird. Aber ist es Landesverrat, wenn ein Offizier sich weigert, im Auftrag einer fremden Macht Krieg zu führen? Nein, meint der Colonel und ist dabei stolz, seinem Vorbild Colonel Mohammad Taghi Pessian gefolgt zu sein, einem legendären Patrioten, der sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Einflussnahme Großbritanniens und Russlands zur Wehr setzte. Eine Zeit lang war dieser »alte Colonel«, wie er im Roman genannt wird, der mächtigste Mann in der Provinz Chorasan, im Nordwesten Irans. Erst durch Intrigen und die Verbreitung falscher Informationen gelang es den Herrschenden in der Hauptstadt Teheran, die Stämme gegen den populären Offizier aufzuwiegeln. Es kam schließlich zu einem Gefecht, bei dem der alte Colonel in einen Hinterhalt gelockt und getötet wurde. Er wurde geköpft, sein Schädel nach Teheran gebracht. Der alte Colonel taucht im Roman immer wieder als besseres Gewissen, als Vorbild des Protagonisten auf, am markantesten in einem Streitgespräch mit dem britischen Botschafter.
Ein ähnliches Schicksal erlebte Mirza Taghi Khan Amir Kabir, ein großer Staatsmann, von dem Amir, der älteste Sohn des Colonels, eine Statue erstellt. Amir Kabir, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Kanzler unter dem Kadscharen-König Naser ad-Din Schah tätig war, wurde vor allem dadurch zur Legende, dass er sich gegen jede Fremdherrschaft und für die nationalen Interessen des Landes einsetzte. Zudem gilt er als Gründer des modernen Irans. Auch er geriet mit der Zentralregierung in Konflikt und wurde schließlich in der Stadt Kaschan, im Süden Irans, in einem öffentlichen Bad ermordet.
Der Colonel hat fünf Kinder, drei Söhne, zwei Töchter. Er weiht sie in die iranische Geschichte ein, versucht sie aufzuklären, aber sie werden vom Sog der Revolution mitgerissen. Jedes von ihnen geht seinen eigenen Weg – im Roman repräsentieren sie verschiedene politische Strömungen. Während des Volksaufstands und in den Jahren danach war im Iran fast jede Familie durch solche Richtungskämpfe zerrissen. Nicht selten führten die Auseinandersetzungen zu Feindschaften und zum Zerfall der Familie. »In der Revolution sucht jeder Jugendliche seine eigene Wahrheit, seine Lebenswahrheit. Und natürlich, nichts weckt bei Jungen so viel Leidenschaft wie die Revolution. Wie die Taube, die zur Sonne fliegt, so hoch, bis sie verbrennt. Ein solcher Akt ist für die Jugend der Gipfel der Wahrheit. Genau das ist meinen Kindern widerfahren, die Revolution hat sie mir geraubt«, klagt der Colonel. »Wehe, wehe den Nachbarn, den Mitbürgern, den Landsleuten, wenn die Jugendlichen von ihrem hohen Flug, von der Grenze des Verbrennens zurückkehren und mitten in einer Welt voller List und Verlogenheit ihre Wahrheit finden wollen. Dann werden die glühenden Fetzen … die geschmolzenen Fetzen … ein Strom aus Feuer und Glut …«
List und Verlogenheit verkörpert die Figur Ghorbani Hadjadjs. Der Schwiegersohn des Colonels ist einer von jenen Tausenden, die immer obenauf schwimmen, vor und nach einer Revolution. Hadjadj weiß immer, woher der Wind weht, richtet sich danach, scheut kein Verbrechen, tritt, ohne Scham zu empfinden, enthusiastisch für die gerade herrschende Macht ein.
Auch der Geheimdienstler Khazar Djavid, der während der Schah-Zeit zahlreiche Widerständler verhört und gefoltert hat, passt sich der neuen Macht an. Zunächst sucht er aus Furcht, in den chaotischen Tagen der Revolution umgebracht zu werden, im Haus des Colonels bei Amir, seinem Folteropfer, Zuflucht, spinnt aber bereits seine Fäden, um unter dem neuen Regime seinen alten Beruf weiter ausüben zu können. Er müsse sich halt einen Busch von Barthaaren ins Gesicht kleben und seine Nase, die so groß wie die des Schahs ist, operieren lassen, sagt er. Auf die Frage Amirs, ob er sicher sei, dass das neue Regime seine Dienste in Anspruch nehmen werde, antwortet er: »Mein lieber Junge. Die politische Polizei ist wie die Religion. Hast du jemals erlebt, dass die Religion ausgerottet wurde?«
Jedes Kind des Colonels wird, auf seine Art, zu einem Opfer der Revolution. Auch der Colonel selbst setzt, nachdem alles verloren ist, seinem Leben ein Ende. In der alles beherrschenden Finsternis leuchtet am Ende des Romans, außer den illuminierten Märtyrer-Denkmälern an jeder Straßenecke, nur der Fackelzug der historischen Volkshelden: Die Repräsentanten des modernen, freien, unabhängigen Irans ziehen davon, nachdem sie zuvor der Reihe nach auf einem Schauprozess für ihre Taten exekutiert wurden. Jeder von ihnen trägt den eigenen Kopf unter dem Arm und eine Fackel in der Hand. Ihre alten Stiefel schimmern im Widerschein, als sie an den Lichtern der Märtyrer-Denkmäler vorbeigehen, die zu Ehren ihrer der Revolution zum Opfer gefallenen Kinder errichtet worden sind.
Was diesen Roman in der neuen persischen Literatur einzigartig macht, ist seine Deutlichkeit. Der Autor verschont nichts und niemanden, deckt moralische und gesellschaftliche Tabus auf, selbst die, die in einer islamischen Gesellschaft als heilig betrachtet werden. Aber er zeigt auch tiefer liegende Widersprüche auf, die eine ganze Gesellschaft zum Scheitern verurteilen.So ist der Colonel zwar ein Patriot, aber kein Held, keine Idealgestalt, die als Vorbild dienen könnte. Als Offizier ist er standhaft, er folgt seinem Gewissen, seinem Eid, die Souveränität des Landes zu verteidigen. Aber persönlich lädt er viel Schuld auf sich. Tief in den traditionellen Moralvorstellungen verhaftet, tötet er seine Frau, weil sie seine Ehre verletzt und fremdgeht. Der standhafte Offizier ist auch nicht in der Lage, seinem niederträchtigen Schwiegersohn Widerstand zu leisten, als der von ihm erwartet, öffentlich seine eigenen Kinder zu denunzieren. Widerwillig lässt er sich Verwünschungen gegen seine Tochter und zwei seiner Söhne in den Mund legen. Tatsächlich gab es nach der Machtübernahme der Islamisten nicht wenige, die ihre Söhne und Töchter, Verwandten und Nachbarn anprangerten. Sie folgten damit einer Aufforderung des Revolutionsführers Ayatollah Khomeini, der ein ganzes Volk zu Spionen machen wollte: Jeder sollte in der eigenen Familie und bei den Nachbarn darauf achten, wer aus der Reihe tanzte oder islamische Vorschriften missachtete. Eine Mutter, die angeblich ihr eigenes Kind verriet, zeichnete er öffentlich im Fernsehen als »Mutter des Jahres« aus.
Auch als Vater versagt der Colonel. Zwar vermittelt er ihnen die Freiheitskämpfe des Landes und gewährt ihnen, den eigenen Weg zu gehen, er ist aber zugleich ein orientalischer Familienpatriarch. Dass seine Tochter Farzaneh, die mit einem Schurken wie Ghorbani verheiratet ist, ihm Kinder gebärt und als eine Art Magd dient, lässt den politisch fortschrittlichen Offizier unbekümmert. Politische Handlungen und Forderungen sagen eben nichts aus über den Menschen, der sich dahinter verbirgt. Die Kinder des Colonels zollen seiner Befehlsverweigerung Achtung, fragen sich aber, wie er bei seiner patriotischen Einstellung überhaupt in der Schah-Armee dienen konnte.
Der Colonel ist ein Patriot, aber er hat viel Schuld auf sich geladen. Er verkörpert die Ideale, aber die Schuld eines ganzen Jahrhunderts mit all den kulturellen und gesellschaftlichen Widersprüchen zwischen Tradition und Moderne, Restauration und Aufklärung. Er fühlt sich schuldig auch für Vorgänge, an denen er selbst nicht beteiligt war. Er flüchtet in die Vergangenheit, sucht Größe und Seelenheil bei den Epikern der iranischen Geschichte, schwärmt für Patrioten aus vergangenen Zeiten. Am liebsten würde er seinen längst verstaubten Sitar wieder in die Hand nehmen und alte Lieder spielen. Aber seine Kinder zerren ihn in die Gegenwart, in die reale Welt zurück. Es gibt kein Entrinnen. Er hält das Leben nicht aus, versagt auf allen Ebenen und bricht erbärmlich ein unter der Last seines eigenen Schicksals, der Last eines Jahrhunderts.
Es gibt in der iranischen Gegenwartsliteratur kein Werk, in dem der Autor mit der Geschichte des Landes so rigoros, so offen und unbarmherzig umgeht. In Der Colonel stehen nicht nur die Traditionalisten und konservativen Islamisten im Visier. Auch die Kräfte des Widerstands bleiben von der Kritik nicht verschont. Amir, der älteste Sohn des Colonels, zum Beispiel repräsentiert die moskautreue, kommunistische Tudeh-Partei, die nach der Revolution jahrelang mit der neuen Macht eng zusammenarbeitete und Tausende Gegner des Regimes ans Messer lieferte, bis ihre Schützenhilfe nicht mehr gebraucht wurde. Sie fiel in Ungnade, ihre Mitglieder wurden reihenweise hingerichtet. Seinem Charakter nach ist Amir nicht weniger schwach und widersprüchlich als sein Vater. Er kämpft gegen den Schah und wird dafür mit Gefängnis und Folter bestraft. Nach der Revolution wird er als Held gefeiert, aber er duckt sich vor der Autorität seines Folterers Khazar Djavid, der aus Angst vor der Rache ehemaliger Häftlinge bei ihm Zuflucht sucht und ihn dennoch nach wie vor wie einen Gefangenen behandelt. Selbst als Amir merkt, dass Khazar aus dem Haus geht, um seine jüngere Schwester Parwaneh zu töten, damit sie sein Versteck nicht verrät, wagt Amir nicht, ihn zurückzuhalten. Dieses Versagen, diese Schuld, zerfrisst fortan wie Lepra seine Seele. Das Versagen Amirs widerspiegelt nicht nur den Niedergang einer Partei der Linken, der Tudeh-Partei, sondern auch das der Intellektuellen, die sich zumeist um diese Partei scharten. Sie verraten ihre eigenen Ideale, kapitulieren opportunistisch vor der neuen Macht.
Die beiden bewaffneten Organisationen, die Volksmodjahedin und Volksfedajin, die bereits zur Schah-Zeit im Untergrund gegen das Regime kämpften und an der Revolution aktiv beteiligt waren, gehörten zu den ersten Organisationen, auf die sich die Gewehre der neuen Macht richten. Eine Zeit lang leisteten sie Widerstand, aber das Regime hatte die Massen auf seiner Seite. Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder. Parwaneh, eigentlich noch ein Kind, ist Mitglied oder Sympathisantin der Volksmodjahedin, einer aus dem islamischen Lager stammenden Organisation, die ideologisch links vom konservativen Klerus angesiedelt war. Der Vater darf sie begraben, aber nur während der Nacht, damit es niemandem auffällt.
Der zweitälteste Sohn des Colonels, Mohammad Taghi, ist Mitglied der kommunistisch orientierten Volksfedajin und fällt während des Aufstands. Zunächst wird er geehrt, später als »Verderber« verdammt. Damit teilt er das Schicksal von Abertausenden nicht-islamischen Widerstandskämpfern, die kurz nach dem Sieg der Revolution von der neuen Macht liquidiert wurden. Der jüngste Sohn, Masud, ist Khomeini-Anhänger. Er zieht freiwillig in den iranisch-irakischen Krieg (1980–1988) und wird nach seinem Tod als »Märtyrer« gefeiert.
Mahmud Doulatabadi ist ein Urgestein der persischen Literatur. Er ist bei den großen iranischen Poeten wie Hafis und Molana in die Schule gegangen und hat deren Sprache in einer einmalig gelungenen Mischung mit der Alltagssprache in die Moderne übertragen. Seine Sprache ist poetisch, rhythmisch, metaphorisch, assoziativ, fließend wie ein breiter, wuchtiger Strom. »Worte sind wie Saiten einer Gitarre, die man zupft. Man muss den Ton ausklingen lassen, darf ihren Klang nicht mit Verben ersticken.«
Der Roman hat eine beklemmende Dichte. Die Handlung dauert in der Realzeit keine vierundzwanzig Stunden. Durch Assoziationen, ja Halluzinationen wird daraus das Panorama eines ganzen Jahrhunderts. Der Autor schildert zum Teil grausame Szenen, erzählt von Verbrechen, Folter und Niedertracht, aber es ist die Kraft seiner Sprache, die alle diese Szenen menschlich erscheinen lässt und erträglich macht. Tempo und ständiger Szenenwechsel bewirken eine Dramatik, die von Anfang bis Ende nicht nachlässt. Der Leser ist außer Atem, will kurz innehalten, aber da hält ihn schon die nächste Überraschung in Bann.
Mahmud Doulatabadi hat diesen Roman schon vor fünfundzwanzig Jahren begonnen, das Manuskript landete jedoch zunächst in der Schublade, wurde immer wieder herausgeholt und überarbeitet. Erst jetzt sei der Text reif, um veröffentlicht zu werden, sagte 2008 der Autor. Dass eine frühere Veröffentlichung den Strom der Geschichte hätte aufhalten können, das – so sagt er – sei eine illusionäre Forderung an die Literatur. Zudem habe er befürchtet, auch der Roman hätte der Wucht der Revolution zum Opfer fallen können. Dass der Roman in der Heimat des Autors bislang nicht im Original erschienen ist, sollte niemanden wundern. Das Manuskript liegt bei der Zensurbehörde und wurde bis zu diesem Datum nicht zur Veröffentlichung freigegeben.
Bahman Nirumand
Berlin, im Februar 2009