»Wir Tibeter sind über die ganze Welt verstreut, einige leben in Amerika und Europa, viele in Indien, und schließlich wir in Tibet. Wir sprechen und schreiben in verschiedenen Sprachen: Englisch, Deutsch, Tibetisch und Chinesisch. Ein zersplittertes Volk, ja, das sind wir«, meinte Alai bei einem Gang durch Zürichs Altstadt, nachdem wir mit einem tibetischen Geschäftsmann Käsefondue gegessen hatten, die Unterhaltung aber nur mit einem Dolmetscher möglich war. Alai ist sich des Gefühls der Entfremdung in mehrfacher Hinsicht bewusst, wie man auch in seiner Erzählung Blutsbande erfährt. Doch diese Art der Sprachlosigkeit, das heißt, sich mit einem Tibeter nicht in einer gemeinsamen Sprache verständigen zu können, hat ihm nach dieser Begegnung offenbar erneut zu denken gegeben.
Auch Tsering Öser (ihr chinesischer Name lautet »Weise«) konstatiert im Vorwort zur englischen Ausgabe ihrer Essaysammlung die Zersplitterung ihres Volkes. »Erst recht beim Schreiben merke ich, wie ich mir selbst fremd bin, sehe, wie viele Tibeter, die ich kenne, mit sich selbst uneins sind, und beobachte eine Spaltung des tibetischen Volkes.«
Anscheinend kann allein der Antagonismus China versus Tibet nicht mehr die Brüche in den Identitäten der Tibeter erklären, längst driften auch Lebenswelten und Erfahrungshorizonte innerhalb der tibetischen Gemeinschaft auseinander. Wie sich dies im konkreten Fall manifestiert, könnte nichts anschaulicher zeigen als diese Sammlung von Erzählungen, Essays und Gedichten, geschrieben von Tibetern, die in den USA, in England, in der Schweiz, in Indien, Tibet und China leben. Erstmals wird der Versuch unternommen, Tibeter aus dem Exil und aus Tibet selbst in den verschiedenen Sprachen erzählen zu lassen und ihre Stimmen in einem Buch zu vereinen.
In der Literatur der Tibeter zeigen sich seit dem Einmarsch der chinesischen Armee 1950 verschiedene Tendenzen. Geht es den einen um die Wiederbelebung und Erhaltung der Kultur angesichts der dominierenden chinesischen Macht, sind die anderen daran interessiert, eine originäre und zeitgemäße tibetische Literatur voranzubringen; interessanterweise lassen sich diese beiden Tendenzen sowohl im Exil als auch in Tibet und unabhängig von der Sprache, in der geschrieben wird, feststellen.
Unzählige Textvolumen mit buddhistischen Schriften, mit tantrischen Gesängen und klassischer Poesie bildeten bis in die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts den wichtigsten Korpus des tibetischen Kanons. Nur vereinzelt gab es Texte weltlichen Charakters wie beispielsweise die Liebesgedichte des 6. Dalai Lama, die Schwänke rund um Drugpa Künleg oder die Reiseführer aus der Feder Gendün Chömphels. Einflussreich bis in jüngste Zeit sind aber auch die mündlichen Überlieferungen wie die volkstümlichen Gesänge, die Geschichten rund um den kecken Aku Tönba – eine Art tibetischer Till Eulenspiegel – und das Gesar-Epos, das die moderne tibetische Literatur inspirierte. Erzählungen, Essays und Theaterstücke tauchten jedoch nicht auf. Die meisten Werke dieses Genres wurden schließlich von sogenannten Gelehrten und Schriftstellern im Auftrag der Kommunistischen Partei Chinas geschaffen, die die Huldigung Maos und die Erfolge der chinesischen Volksbefreiungsarmee in den Mittelpunkt stellten. Dabei konnte es schon einmal vorkommen, dass ein Gelehrter und Lyriker wie Sherab Gyatso die buddhistische Tradition neu interpretierte, um die Bevölkerung während des »Großen Sprungs nach vorn« (1958) zu überzeugen, dass die Kampagne zur Beseitigung von Ungeziefer und Vögeln korrekt sei.
Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die aktive Übersetzungstätigkeit vom Chinesischen ins Tibetische, die Publikationen von Zeitschriften in tibetischer Umgangssprache und die Produktion von Propagandafilmen ein Novum waren und zur Bereicherung der tibetischen Sprache führten. Auch tibetische Mönchsgelehrte wussten die Gelegenheit zu nutzen, klassische tibetische Texte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Andererseits hatte die chinesische Regierung nicht etwa Druckmaschinen und verlegerisches Wissen nach Tibet gebracht, um die literarische Produktivität anzuregen, sondern um effiziente Propaganda zu betreiben. Ironischerweise führte gerade diese Infrastruktur schon in den Fünfzigerjahren zur Modernisierung der tibetischen Sprache, womit übrigens gleichsam die Forderungen umgesetzt wurden, die bereits der Vordenker der tibetischen Moderne, der Rebellenmönch Gendün Chömphel, noch vor dem Einmarsch der Chinesen gestellt hatte.
Während der Kulturrevolution 1966 bis 1976 kamen diese Tätigkeiten allerdings vollkommen zum Erliegen. Viele Autoren, Übersetzer und Gelehrte wurden verhaftet und in Arbeitslager gesteckt. Nach 1978 dann – damals wurde auf dem Parteikongress eine nachgiebigere Haltung gegenüber Tibet festgeschrieben – wurden die Überlebenden gebeten, ihre Lehrtätigkeit wiederaufzunehmen. Ihre Werke waren die ersten, die in den neu gegründeten Literaturzeitschriften Ende der Siebzigerjahre veröffentlicht wurden.
Mit der Etablierung dieser Literaturzeitschriften Anfang der Achtzigerjahre hatten nun endlich junge, weltlich ausgebildete Tibeter ein Forum für ihre literarischen Experimente. Die erste Literaturzeitschrift wurde zwar noch in Lhasa gegründet. Doch schon bald erschienen aufgrund der politisch weniger angespannten Lage außerhalb der sogenannten Tibetischen Autonomen Region (TAR), wo ungefähr die Hälfte der Tibeter lebt, achtzig Prozent der tibetischsprachigen Literaturzeitschriften. Die vielleicht wichtigste war die Zeitschrift Leichter Regen (Drangtschar) in Xining, die zahlreichen Autoren Publikationsmöglichkeiten bietet, literarische Wettbewerbe ausschreibt und damit gleichzeitig wesentlich zur Entwicklung einer modernen tibetischen Literatur beiträgt. Die tibetisch geschriebenen Erzählungen dieser Anthologie sind denn auch in dieser Zeitschrift erschienen. Die tibetische Literatur – in beiden Sprachen übrigens – und mit ihr die Autoren erreichten jedenfalls Mitte der Achtzigerjahre einen Höhepunkt.
Die Vermutung drängt sich auf, dass die literarische Produktion von tibetischen Texten angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Reformen in den Neunzigerjahren und der immer dominanter werdenden chinesischen Kultur zurückgeht. Doch das Gegenteil war zumindest bis zu den heftigen Unruhen im März 2008 und den noch heute andauernden Repressalien der Fall. Dutzende von tibetischsprachigen Journalen werden noch immer verlegt und oftmals aus privater Hand finanziert; interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Klöstern offenbar als Produktionsstätten von literarischen Texten eine wachsende Bedeutung zukommt. Als 1995 tibetischen kulturellen Foren Gelder entzogen wurden (die aufgrund der sogenannten Minderheitenpolitik von der Regierung in einer Weise finanziell unterstützt wurden, die chinesische Foren gar nicht kannten), rechnete man schon fast mit dem Niedergang der eben erwachten modernen tibetischen Literatur. Stattdessen kam es zu einer ungeahnten Renaissance.
Die zunehmende Verbreitung von tibetischem Pop und neuerdings auch Rap, von Musikvideos mit tibetischen Untertiteln zeigt Autoren, dass man damit mehr Menschen erreichen kann als mit einem Gedicht, zumal die Analphabetenrate unter der tibetischen Bevölkerung noch immer erschreckend hoch ist. Auch Websites erlauben oftmals eine Publikation an der Zensur vorbei.
Angesichts der explodierenden Zahl von Werken – zwischen 2003 und 2006 zählt der Autor Pema Bhum allein fünfundsechzig inoffizielle Magazine – und der Möglichkeit, Texte selbst zu kopieren und kursieren zu lassen, kann man generelle Aussagen über Tendenzen in der zeitgenössischen tibetischen Literatur nur noch schwerlich treffen. Die Autoren aber treten selbstbewusster auf und erreichen über diverse Literaturvermarktungskanäle eine größere Leserschaft. Auch der Bruch mit tibetischen Normen sowie die Ablehnung jeglicher Vereinnahmung durch nationalistische Interessen zeugen von einer Emanzipation der Schriftsteller.
Tibeter, die in Tibet aufgewachsen sind, erhielten selbst während der dunkelsten Jahre der Kulturrevolution so etwas wie eine rudimentäre literarische Ausbildung. Wenngleich diese in der chinesischen Sprache erfolgte, so kamen sie doch mit Werken von Lu Xun, mit chinesischen Klassikern wie Die Räuber vom Liang Shan Moor, aber auch mit westlicher Literatur in chinesischer Übersetzung in Berührung. Auf diese Weise fanden Autoren in Tibet recht bald Geschmack daran, die strikten Regeln der tibetischen Literaturtradition aufzubrechen und lustvoll mit diversen literarischen Formen zu experimentieren.
Tibetische Literatur, die auf Chinesisch geschrieben wurde, erreichte ihren Höhepunkt ebenfalls Mitte der Achtzigerjahre. Damals lebten Autoren wie beispielsweise Tashi Dawa und Sebo sowie Maler und Theatermacher in Lhasa. Selbst für chinesische Intellektuelle war Lhasa als exotischer Schreibort äußerst attraktiv, und die Gruppe um den chinesischen Autor Ma Yuan galt als literarischer Salon. Dieser literarische Zirkel sollte die Literatur vor Ort in den folgenden Jahren maßgeblich beeinflussen und lockte weitere Intellektuelle wie beispielsweise den Autor und Lyriker Jangbu von Amdo nach Lhasa, später auch Tsering Öser und Jin Zhiguo.
Mit den Unruhen im März 1989 in Lhasa nahm diese Entwicklung ein jähes Ende; spätestens Anfang der Neunzigerjahre hatten die prominentesten Autoren Lhasa verlassen und viele mit dem Schreiben ganz aufgehört. Die Stimmung wurde im Laufe der Neunzigerjahre aufgrund diverser strenger Erlasse und der Anti-Dalai-Lama-Kampagne ab 1996 immer entmutigender. Schriftsteller, die noch in Lhasa geblieben waren, flüchteten sich in die Beschreibung der Vergangenheit – wie beispielsweise Geyang in vielen ihrer Erzählungen –, um darin Trost für die Gegenwart zu finden. Und chinesischsprachige Zeitschriften in Tibet erhalten immer weniger Zuschriften, während die tibetischsprachigen unzählige Manuskripteinsendungen vermelden.
Nur Alai, der in Osttibet von dieser Entwicklung gänzlich unberührt geblieben war, ging beharrlich und beständig seinen Weg als Schriftsteller; er ist der Einzige, der vom Schreiben inzwischen leben kann und auch außerhalb Chinas mittlerweile recht bekannt ist.
Tibeter aber, die in den späten Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre geboren wurden und eine chinesische Ausbildung durchliefen, mögen sich zwar als Tibeter fühlen, werden jedoch oft genug von der eigenen Gesellschaft nicht akzeptiert, wenn sie auf Chinesisch schreiben. In Blutsbande wird beispielsweise das Anderssein sowohl in der tibetischen als auch in der chinesischen Gemeinschaft problematisiert. Der Junge meint, auseinandergerissen zu werden, als sich seine tibetische Großmutter und sein chinesischer Großvater um ihn streiten; der Großvater aber ist aus der Welt gefallen, denn auch »seine« chinesische Welt hat längst nichts mehr mit derjenigen der Lehrerin gemein. Diese Gefühle der Entfremdung, der Hilflosigkeit und eben Zersplitterung findet man auch bei Tsering Öser und Geyang – die übrigens beide in einer chinesischen Umgebung aufgewachsen sind und eine chinesische Ausbildung absolviert haben wie der Protagonist bei Alai. Gerade diese »hybriden« Tibeter aber sind es, die in China selbst Gehör finden und auf Resonanz stoßen, wenngleich die eigenen Landsleute ihnen mit Misstrauen begegnen.
Im Exil gestaltete sich die Situation wiederum gänzlich anders, und man kann keineswegs behaupten, die tibetische Exilliteratur lasse sich bis ins Jahr 1959 zurückverfolgen, das Jahr, in dem der Dalai Lama und mit ihm Zehntausende aus Tibet geflohen sind. Die Tibeter waren bei ihrer Ankunft zunächst einmal einzig darauf bedacht zu überleben und ihre Tradition, ihre Kultur und vor allem ihren Glauben zu retten. Verstreut lebten sie in kleinen Siedlungen in Indien und auch in Nepal, viele starben in nordindischen Straßenarbeitslagern oder in Südindien an Malaria. Niemand hatte Muße zu schreiben oder über tibetische Literatur zu reflektieren. Neben den geflohenen Aristokraten und Mönchen fanden sich im Exil auch nur wenige, die überhaupt lesen und schreiben konnten.
Als in den Siebzigerjahren tibetische Gelehrte ins Ausland reisten und ihre Glaubensvorstellungen auch schriftlich vermittelten, taten sie dies auf Englisch. Und Rakra Tethong, Ziehvater der Autorin Yangdön Dhöndrup, gehört zu jenen, die im Exil literarisch aktiv sind und sich unermüdlich für die Erneuerung der tibetischen Sprache einsetzen.
Ein wichtiger Markstein war 1977 die Gründung der ersten englischsprachigen Literaturzeitschrift Young Tibet, später in Lotus Fields umbenannt, in der auch Thupten Samphels Erzählung Der letzte Gott abgedruckt wurde. Neben Jamyang Norbu gehörte er damals zum Kreis jener Autoren, denen Literatur wichtiger war als die aktuelle Tagespolitik im Exil. Doch schon drei Jahre später wurde die Zeitschrift wieder eingestellt. Dass die Autoren auf Englisch schreiben, scheint im Exil interessanterweise nie eine Gewissensfrage zu sein.
Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre kamen junge tibetische Intellektuelle nach Indien, darunter auch Pema Bhum, die ihre Vorstellungen von moderner tibetischer Literatur über den Himalaya getragen haben. Zwar hatte Literatur im Exil nie den Stellenwert unter den Intellektuellen wie in Tibet unter chinesischer Besatzung, aber neue Ideen begannen, nun auch hier Wurzeln zu schlagen.
1995 richtete das Amnye-Machen-Institut – das sich der Erforschung der weltlichen Aspekte der tibetischen Kultur verschrieben hatte und Übersetzungen von Weltliteratur ins Tibetische anregte – die erste Literaturkonferenz aus. Doch wegen mangelnder finanzieller Ressourcen sind die Aktivitäten des Instituts mittlerweile stark eingeschränkt, und die beiden Initiatoren Jamyang Norbu und Pema Bhum leben inzwischen in den USA. Es bleibt zu beobachten, ob die von Letzterem gegründete Latse Contemporary Tibetan Cultural Library sich als Institution für zeitgenössische tibetische Literatur behaupten kann.
Zwar können sich die Autoren im Exil ganz unverblümt politisch äußern und damit vielleicht einen Wirbel von der Wirkung des Flügelschlags eines Schmetterlings erzeugen, so Jamyang Norbu, und schrecken auch nicht vor leiser Kritik am sogenannten Mittelweg des Dalai Lama zurück wie Buchung D. Sonam in seinem Gedicht. Doch es dominiert die Sehnsucht nach einem Land, das vor allem die Jüngeren nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen: nach Shangri-la – von Exiltibetern, Westlern und Chinesen gleichsam exotisiert.
Der Gedanke, dass der Ort – sei es im Exil oder in Tibet selbst – die Sprache bestimmt und damit auch indirekt die Themen, ist verführerisch. Andererseits zeigt die Gemengelage der literarischen Sujets, dass man sich selbst in der eher politisch ausgerichteten Exilliteratur durchaus kritisch mit der eigenen Gesellschaft auseinandersetzt, nachzulesen beispielsweise in Der letzte Gott. Nicht mehr nur die »anderen«, sondern das eigene Volk ist nun am Ausverkauf der tibetischn Kultur und an ihrem Niedergang beteiligt. Sogleich fallen einem die jungen tibetischen Geschäftsmänner in Tsering Ösers Erinnerungen an eine mörderische Reise oder die jungen Lehrer in Schneekinder ein. Zwar beschäftigen Themen wie Tradition versus Moderne sowie die zunehmende Ökonomisierung der Verhältnisse Autoren nach wie vor, doch die Erzählerhaltung ist weniger eindeutig als noch in den Achtzigerjahren.
Damals entstand auch der polemisch gehaltene Essay Der schmale Pfad. Döndrub Gyel geht es darin vor allem um die Modernisierung Tibets – und zwar von innen heraus und nicht von außen aufgezwungen. Der alte Pfad evoziert beim Ich-Erzähler zwar nostalgische Erinnerungen an seine Kindheit im Dorf, doch gleichzeitig steht der Pfad stellvertretend für die Engstirnigkeit und den Konservatismus der tibetischen Gesellschaft. Gleichwohl schwelgen die Alten in der Vergangenheit und preisen die Taten der Vorfahren, überlassen den Pfad aber sich selbst, anstatt ihn auszubessern und zu erweitern. Wen wunderts, wenn der Pfad heute in einem schlechten Zustand ist und keinen Weg in die Zukunft weist? Döndrub Gyel spielte eine wichtige Vorreiterrolle für die moderne tibetische Literatur, und dieser Essay galt als Signal zum literarischen Aufbruch. Dass er selbst den Konsequenzen seiner provokanten Forderungen nicht gewachsen war – vom tibetischen Klerus angefeindet, vom chinesischen Staat isoliert – und sich der zugespitzten Situation nur durch einen Selbstmord zu entziehen wusste, spricht dafür, wie wichtig diese Fragestellung und wie brisant diese Diskussion für die Tibetergemeinschaft war.
Doch wie gesagt, so eindeutig lassen sich Moderne und Tradition als antagonistisches Paar nicht mehr nur auf Chinesen und Tibeter zuschreiben. Die Tibeter scheinen sich diesbezüglich »emanzipiert« zu haben, wenn man an die jungen Männer in Erinnerungen an eine mörderische Reise denkt. Oder sie verweigern sich wie beispielsweise die beiden jungen Leute in Schneekinder. Zunächst geht es den Lehrern nur darum, mit ihren wunderlichen Körpern Geld zu verdienen, um der Not leidenden Bevölkerung zu helfen. Und erneut stellt sich die Frage nach dem Ausverkauf des spezifisch Tibetischen, wenngleich dieses Mal aus uneigennützigen Motiven. Erst als ein ausländisches Team mit ins Spiel kommt, wird der Druck auf die beiden unerträglich, und sie kehren zurück ins Land ihrer Herkunft, zum mythischen Schneeberg. Die Einmischung des Auslands wird also durchaus kritisch gesehen. Dass der Autor mit dem Verschwinden der beiden Schneekinder andeuten wollte, die tibetische Kultur habe angesichts des globalen, westlichen und chinesisch-kapitalistischen Drucks keine Überlebenschance, ist nicht von der Hand zu weisen, wenngleich der Schleier des Magisch-Realistischen diese Interpretation ein wenig verwischt. Der Ausverkauf aber sei ein Resultat der Entfremdung, denn die Tibeter hätten den Bezug zu ihrer eigenen Kultur verloren, so der Übersetzer Franz Xaver Erhard, dem ich an dieser Stelle ausdrücklich für seine geduldige Unterstützung bei der Kompilation dieser Anthologie danken möchte.
Obwohl viele Autoren heute in kleinen oder mittelgroßen Städten leben, spielen doch die meisten Erzählungen in einer ländlichen Umgebung. Ist diese antizipatorische Nostalgie gar eine Reaktion auf die rasanten ökonomischen Entwicklungen seit den Achtzigerjahren? Mit denen auch ein Ralo aus der gleichnamigen Erzählung nicht mehr mithalten kann und schlicht unter die Räder einer Gesellschaft kommt, von der er nicht mehr begreift, wie sie funktioniert? »Das ist die Wahrheit in chinesischer Schrift und in tibetischen Worten«, sagt Ralo, als er einem Mädchen das Rechtssystem erklären will. Nur, was bedeutet das?
Was aber hat ein Ralo mit der tibetischen Jeunesse dorée gemein, wie sie Tsering Öser beschreibt? Der binäre Code Chinesen versus Tibeter greift hier nicht mehr, Erfahrungen sind nicht mehr deckungsgleich, auch die tibetische Gesellschaft unterscheidet zwischen Gewinnern und einem Loser wie Ralo. Unterschiedliche ökonomische Möglichkeiten bestimmen deren Lebensverhältnisse in Abhängigkeit von sozialen und politischen Faktoren, die wiederum von der chinesischen Regierung vorgegeben werden.
»Sinisiert, verwestlicht, modernisiert oder was auch immer«, schreibt Tsering Öser. Jedenfalls scheinen auch die Differenzen innerhalb der tibetischen Gesellschaft unüberbrückbar; ein Ralo und auch ein Hundehalter verstehen die Welt nicht mehr und stehen am Ende als Verlierer da. Das System verlangt eine Anpassung in solch hohem Grad, dass Verbiegungen von Charakteren – in der Figur des Hundes Hapa auf die Spitze getrieben – oder rücksichtsloses Ausleben der eigenen Wünsche nicht nur in der Literatur wiederzufinden sind.
Die Absurdität des Systems wiederum führt zu Auswüchsen, die sich offenbar nur schwer wiedergeben lassen. In Aufzeichnungen eines Hundehalters – wie übrigens auch in Palden Gyels Am Tag deiner Geburt – wird ganz generell der menschliche Charakter hinterfragt. Wozu ist der Mensch in Extremsituationen in der Lage? Zu allem offenbar, schließlich, so der Hapa lakonisch, habe das gegenseitige Auffressen in der Geschichte der Menschheit Tradition.
Auffällig ist, dass die Absurdität des Alltags in vielen Erzählungen aufgegriffen wird, die auf Tibetisch geschrieben werden, aber eine literarische Verschlüsselung braucht. »Hinter der Verschwommenheit der Bilder hört derjenige, der genau hinhört, genug, um sie zu verstehen, und derjenige, der nicht spricht, sagt nicht zu viel, um nicht sein Leben aufs Spiel zu setzen. Bis heute übt die Poesie eine politische Funktion aus, die darin besteht, einen Sinn durchscheinen zu lassen, der nicht anders ausgedrückt werden könnte, ohne den zu gefährden, der ihn formuliert«, sagt François Jullien über literarische Verfahrensweisen in China. Es ist auch tibetischen Autoren durchaus möglich, heikle Themen anzusprechen, indem sie innovativ und kreativ innerhalb der gesetzten Grenzen literarische Freiheiten ausloten. Nur sind Verfremdung, Satire, magischer Realismus nicht mehr nur bloße stilistische Spielereien, sondern literarische Überlebensstrategien.
Noch fürchtet die Kommunistische Partei Chinas die Macht der Literatur. Warum sonst werden die Werke von tibetischen Autoren wie beispielsweise Tsering Öser verboten (ihre Bücher werden seit 2003 in Taiwan publiziert), warum darf sie nicht mehr als Redakteurin arbeiten und steht immer wieder unter strenger Beobachtung?
Trotz der Diskrepanz tibetischer Lebenswelten überrascht es, dass in Tibet und auch jenseits des Himalaya und über sämtliche Sprachgrenzen hinweg ähnliche Fragestellungen auftauchen.
»Wo bin ich? Wer bin ich?«, fragt sich der Protagonist in Alais Roter Mohn jeden Morgen, wenn er aufwacht, fragen sich womöglich viele Tibeter. Das Unbehagen in der eigenen und der fremden Kultur, wie in dem Gedicht Die dritte Seite einer Münze artikuliert, das stete Wissen darum, nie wirklich dazuzugehören, im extremsten Fall eben immer ein entwurzelter Flüchtling zu sein, macht die Tibeter in der Tat im mehrfachen Sinne zu modernen Nomaden des 21. Jahrhunderts.
Alice Grünfelder