Mit dieser Trilogie habe ich zum ersten Mal eine Insel zum Schauplatz meines Romans gemacht. Ich fragte mich: Wie kann ich am besten zeigen, welche Zerstörungen in diesem Jahrhundert an der Natur und den Menschen begangen wurden? Das geschah aber eher unbewusst. Ich konnte so den Prozess der Zerstörung sehr konkret verfolgen – den Niedergang der natürlichen Umgebung und parallel dazu des Zusammenlebens der Menschen.
Im ersten und zweiten Band wird nach der Vertreibung der Griechen die Insel neu besiedelt. Die Neuankömmlinge kennen ihre Geheimnisse nicht. Die Bäume, die Tiere, die Vögel sind ihnen fremd. Die alten Bewohner kannten seit dreitausend Jahren jede Blume. Aber wie soll ein frisch angesiedelter Bewohner aus der anatolischen Steppe all das wissen? Dass die Oliven zum Köstlichsten auf dieser Welt gehören, wie man den Weinberg pflegt und die Bienen gedeihen lässt, wo man Wasser findet und wie wertvoll es auf einer Insel ist … Andere Menschen ziehen ein, sie haben andere Erfahrungen und andere Werte. Sie gehen anders mit der Natur um, und auch miteinander. In den ersten beiden Bänden unterstützen sie sich noch gegenseitig, achten sich, aber dann wird die Insel zur Wüste. Es bleibt nur kahler Felsen zurück. Und die Menschen werden einander zu Feinden. Denn die Natur ist ein schöpferischer Prozess, wenn man ihr freundschaftlich begegnet. Wenn man die Natur zerstört, zerstört sie den Menschen. Die Freundschaft verschwindet, die Liebe.
Der Roman beginnt mit der Vertreibung der Griechen von der Insel nach dem Ersten Weltkrieg. Seit Jahrtausenden haben die Griechen sie bewohnt. Die Ausweisung kommt so unerwartet und schnell, dass sie ganz einfach nicht daran glauben. Darum leisten sie auch keinen Widerstand, als sie von einem Tag auf den anderen gehen und alles zurücklassen müssen. Der »Bevölkerungsaustausch« zwischen Griechenland und der Türkei ist eine der großen verschwiegenen Tragödien der Geschichte. An die zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Ich stamme selbst aus einer Familie von Vertriebenen, die einst im Osten der Türkei wohnte und in die Çukurova ziehen musste. Diese Tragödie ist Teil meines Lebens und wurde Teil meines Werks. So kann man diesen Roman eigentlich in zwei Worten kennzeichnen: Ökozid und Genozid.
Die Menschen in diesem Roman werden von den Albträumen ihrer Kriegserlebnisse heimgesucht. Ich erzähle die Geschichte von Tausenden von Soldaten, die im Osten zu Eis erstarrten. Wie ganze Völker hingeschlachtet wurden. Ich zeige die Gewalttätigkeit. Warum töten Menschen einander? Woher kommt diese Brutalität? Aber es geschah auch Folgendes – das ist eine meiner liebsten Szenen:
Während einer Schlacht in der mesopotamischen Steppe, mitten in heftigsten Feuergefechten, die Steppe ist in Aufruhr, die Schützenlinien und Geschütze stehen einander gegenüber und feuern pausenlos, kommt plötzlich eine riesige Gazellenherde aus den Bergen herunter. Und diese Herde stürmt direkt auf die Frontlinie zu. Tausende von Gazellen. In Panik vom Lärm der Geschütze wogt die Herde im Galopp nach links, nach rechts, wie Wellen im Meer. Aber dann, wie von einem Messer durchtrennt, verstummt aller Kriegslärm, die Geschütze schweigen, als sei es ein Waffenstillstand. Die Gazellen ziehen unbehelligt zwischen den Fronten durch. Erst danach beginnt der Kampf aufs Neue. So endet dieses Kapitel. Tote Soldaten liegen in Haufen auf dem Schlachtfeld, ineinander verkrallt wie in einer Umarmung. Aber auf die Gazellen wurde nicht geschossen. Für mich ist das ein großartiges Zeichen. Denn wenn wir feststellen müssten, dass der Mensch der Gewalt völlig bedingungslos verfallen wäre und sie über jede Grenze hinaus verehrt, dann müssten wir den Menschen hassen.
Ich will mit dieser Trilogie die doppelte Tragödie nach dem Ersten Weltkrieg im Westen und im Osten erzählen. Weil die türkischen Medien letztlich vom Militär kontrolliert werden, fiel Die Ameiseninsel unter eine Art Bann. Die Zeitung Milliyet kaufte zwar für viel Geld den Vorabdruck, aber machte nicht die übliche Werbung dafür und kürzte die kurdischen Passagen weg. Es gab nur wenige Buchbesprechungen. Trotzdem wurden innert kürzester Zeit über 50 000 Exemplare verkauft. In Griechenland wurde das Buch ein großer Erfolg, und ich erhielt sogar einen Ehrendoktor dafür. Aber trotz all dem: Die politischen Absichten sind nebensächlich, man schreibt keine Romane, um die Leute zu belehren. Man schreibt einen Roman, um eine Tragödie zu erzählen. Um Menschen von anderen Menschen zu berichten. Der Roman ist selbst ein Mensch, eine Schöpfung.
Ich habe nie längere Zeit auf einer Insel gelebt. Aber schon seit den Siebzigerjahren arbeitete ich in meiner Fantasie an dieser Trilogie. Damals besorgte ich mir jedes erhältliche Buch über Inseln, auch wissenschaftliche Bücher. Außerdem kannte ich einige alte Leute, die mir Geschichten von ihren Inseln erzählten. So wurde ich allmählich zum Fachmann. Nach Abschluss des ersten Bandes war ich einige Zeit auf einer Insel im Marmarameer. Sie war zwar kleiner als »meine« Ameiseninsel. Aber alles war, wie ich es mir vorgestellt hatte.