Nachwort
Jede Reise nach Marokko zwingt dem Besucher eine Entscheidung ab: Welches Marokko willst Du sehen? So vielgestaltig, so vielschichtig ist dieses Land an der oberen Westecke Afrikas, als hätten sich hier, aufgestaut durch Atlantik und Mittelmeer, die Kulturen in einem jahrtausendealten Prozess übereinandergefaltet. Unter der berückenden Oberfläche von Menschen und Landschaften, die jeden auf den ersten Blick gefangen nehmen, pulsieren die Dramen der Geschichte, politische Tragödien, uralte Lebensformen und selbstverständliche Modernität. Durch dieses Land der stupenden Gleichzeitigkeit von Alt und Neu ziehen die Texte dieses Buches eine Route von Nord nach Süd. Auf dem Weg von Tanger bis zu den Rändern der Sahara streifen sie Orte, die zum Pflichtprogramm jeder Marokkoreise gehören, und natürlich wagen sie auch einige unvorhergesehene Abstecher. Das wache Auge, die Kenntnisse, die Vertrautheit, aber auch die nachdenkliche Fremdheit der Autorinnen und Autoren sollen den eigenen Blick schärfen.
Ein befreiender Katzensprung war in den Fünfzigerjahren für Truman Capote der Schritt von Europa nach Tanger, in die »Internationale Zone« des Freihandels und der Freizügigkeit. Capotes Stillleben und Mohamed Choukris Blitzlicht aus der brodelnden Szene der Devisenschieber und Schmuggler, Kiffer und Heroinsüchtigen, der Abenteurer und gestrandeten Literaten der Beat-Generation erzählen vom ersten Höhepunkt eines Marokkomythos, der bis heute den Tourismus und die Marokkoliteratur beflügelt. Nur wenige Kilometer von diesem einstigen Eldorado aber warten dieser Tage die Schlepper auf ihre Menschenfracht: Mahi Binebine zeigt, wie in unserer Gegenwart Menschen – auf dem Katzensprung in umgekehrter Richtung – an der Wand zerschellen, die das Schengen-Europa um sich errichtet hat.
Frappante Parallelen auch 1925: Als im März Hugo von Hofmannsthal Fè?s bereist, steht der Aufstand der Rifberber unter Abd El Krim auf dem Hhepunkt. Die spanischen Kolonialtruppen sind an die Küste zurückgewichen. Im Mai wird Abd El Krim gegen die Franzosen ziehen – in die heroische Niederlage. Liest man in der Bedrohtheit und Beklemmung, die Hofmannsthal, ohne jeden Bezug auf die aktuelle Politik, empfindet, ein Echo auch auf dieses Aufbäumen? Die Tradition des erzählerisch analysierenden Blicks auf den Organismus der Stadt wird virtuos weitergeführt von Rafael Chirbes, und mit Clifford Geertz zeichnet ein ethnografisch beschreibender Wissenschaftler am Beispiel von Sefrou den Wandel einer Stadt nach. Dass Stadtregiment wie Fassadenfarben auf fast burleske Weise den Zielen und Launen des absolutistisch herrschenden Königs Hassan II. unterworfen sind, kann ihm nicht entgehen.
Von dieser Gewaltherrschaft zeugen die Szenen aus dem berüchtigten Gefängnis von Tazmamart im Atlasgebirge. Aziz Binebine, Unterleutnant und Bruder von Mahi Binebine, gehörte zu den Offizierschülern, die 1971 ein Attentat auf den König versuchten. Achtundfünfzig wurden eingekerkert, bei der Freilassung zwanzig Jahre später hatten achtundzwanzig überlebt. Tahar Ben Jelloun schrieb den Roman Das Schweigen des Lichts auf der Grundlage von Binebines Bericht (ohne ihn aber zu nennen und ihm einen angemessenen Honoraranteil weiterzugeben). Tazmamart ist zum Symbol jener »bleiernen Jahre« geworden. Trotz Aufarbeitung der Vergangenheit und begrenzter Liberalisierung bleiben bis heute der politische Absolutismus und die wirtschaftliche Vorherrschaft des Königshauses in Marokko nicht angetastet. Wie stark die Energien und Talente des Wandels aber sind, zeigen – wohl nicht zufällig – die Texte der marokkanischen Autorinnen Fatema Mernissi und Zakya Daoud. Die Metropole Casablanca »steht unter Strom«. Die Touristen machen gerne einen Bogen um sie, doch sie erweist sich als Magnet aller erneuernden Kräfte und Schmelztigel einer Kulturrevolution.
Marrakesch und der Platz Djemaa El Fna – auf dieser Bühne der Weltkultur hat wohl jeder Reisende schon selbst mitgespielt. Ihre Spuren in der Weltliteratur könnten unterschiedlicher nicht sein. Einige Stimmen nur sind hier zusammengetragen: der konzentriert um sich blickende Rafael Chirbes; der sprachlos sich ausliefernde Elias Canetti; der aus intimer Kenntnis ein Inventar erstellende Juan Goytisolo (in seinen Romanwerken löst er es in tausend polyfone Stimmen auf); das sich mit sachlicher Wehmut, aber ohne jede Romantisierung erinnernde Kind der Stadt Mahin Binebine. Und der zornige Marrakchi Mohammed El Faï?z lehnt sich gegen die stdtebauliche Misswirtschaft und die Degeneration der Altstadt auf. Die drei von Mourad Kusserow aufgezeichneten Märchen mögen den Besucher der Djemaa El Fna darüber hinwegtrösten, dass er die Geschichtenerzähler nur bestaunen, aber nicht verstehen kann.
Weiter in den Süden – wieder ein anderer Kontinent. Gerhard Schweizer gibt Einblicke in die Tradition und Geschichte der Berber und erklärt die Architekturwunder des Hohen Atlas aus ihren gesellschaftlichen Hintergründen. Zuletzt wird Cees Nooteboom in den grandiosen Panoramen des Südens nur noch Auge und Ohr – am Ende der Reise schenkt er uns das Geständnis: Je mehr einer weiß über Marokko, desto weniger hat er verstanden.
Jede Anthologie lebt von der Pein des Auslassens. Da bleibt nur die Hoffnung auf den Nadelstich der Erkenntnis. Wenn dieses Buch dem Reisenden ein guter Begleiter ist und ihm hin und wieder zart auf die Schulter klopft: Hier, schau mal – dann hat es seinen Sinn erfüllt.
Lucien Leitess