Tahir Alangu
Erzählende Literatur seit der Gründung der Republik: Die Avantgarde
Ahmet Hamdi Tanpinar (1901–1962) schildert in seinem Roman Seelenfrieden (1949) die abenteuerliche Traumwelt von Mümtaz, einem jungen Mann auf der Suche nach sich selbst, und damit auch sein eigenes Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit. Vieles stellt der Autor in Träumen und Traumsequenzen dar, die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen realer Zeit und Traumzeit verschwimmen. Grundlinien, die sich in der erzählenden Prosa des Verfassers schon zuvor andeuten, werden hier ausgearbeitet und zur Geschlossenheit eines großen Romans erweitert.
Die vier Hauptkapitel sind nach Ihsan, einem etwas versponnenen Gelehrten, Nuran, einer Frau, die Mümtaz liebt, Suat, seinem Freund mit destruktiven Neigungen, und der Hauptperson, Mümtaz, benannt. In einer wichtigen Phase seiner Kindheit bleibt Mümtaz, ein Tagträumer, sich selbst überlassen und führt mit Vorliebe Selbstgespräche. Als er Ende der 1930er Jahre, zu Beginn der Handlung des Romans, nach Istanbul kommt, lernt er eine andere Welt kennen. Da ist er von Leuten umgeben, die ihre alten, palastartigen Anwesen und Sommervillen aufgeben mussten, Menschen, die den Untergang des Osmanischen Reichs nicht verwunden haben.
Mümtaz' älterer Cousin, Ihsan, Geschichtslehrer am renommierten Gymnasium von Galatasaray, wird dem jungen Mann Lehrer und Freund zugleich und ist in vielem ein Ebenbild des Dichters Yahya Kemal (1884–1958). Wenn man liest, mit welcher Begeisterung Ihsan immer wieder sein Motto, eine Sentenz von Albert Sorel (1842–1905), zitiert: »Sollte die Welt eines Tages das Hemd wechseln, geschehen Dinge, vor denen man sich nicht schützen kann«, dann wird klar, dass dies eine Anspielung auf Yahya Kemal ist, der einst bei jenem berühmten Professor in Paris Vorlesungen hörte.
Vermutlich haben auch die anderen Romanfiguren, deren Identität nicht ohne Weiteres zu klären ist, eine Beziehung zu Yahya Kemal. Und viele andere Gestalten des Romans spiegeln ebenfalls das Ich des Verfassers wider. Alle Personen in Mümtaz' näherer Umgebung stehen auf der Schwelle zum Tod, sind krank oder halbwahnsinnig, sind Tote, Nervenbündel und Epileptiker, haben die Aura des Pompösen, die sie einst in stattlichen alten Palästen umgab, verloren und ihr Hab und Gut verkaufen müssen. Sie wehren sich gegen die neue Zeit und versuchen mit letzter Kraft, einen Lebensstil fortzusetzen, der der Vergangenheit angehört.
Ihsan kann sein seelisches Gleichgewicht nur inmitten einer halb verschwommenen artifiziellen Welt in Träumen und Fantasien finden. Sommer für Sommer schwitzt er in Bibliotheken und setzt alles daran, den ersten Band seines Werkes noch vor seinem Tod abzuschließen. Ihsan beschreibt Blatt um Blatt mit zartem Gekritzel, einer Frauenhandschrift gleich, und unschwer ist er als Ebenbild von Ahmet Hamdi Tanp nar zu erkennen. Blättert man in den Originalen von Tanpinars Tagebüchern, wird deutlich, in wie vielen Details bis hin zum »zarten Gekritzel« der Handschrift der Autor sich in dem Gelehrten selbst porträtiert. Mümtaz hingegen ist ein unruhiges, im Unsteten schwirrendes Ich. Der junge Mann leidet unter einer Angstpsychose, die ihre Wurzeln in der Kindheit hat; eine permanente innere Unruhe treibt ihn um und lässt ihn vor der Wirklichkeit fliehen.
Die wichtigsten Kapitel des Romans basieren auf Reisen Tanpinars in seiner Kindheit und Jugend, beschreiben seine Wanderungen, Nächte in der Steppe, Reisen mit Karawanen, Übernachtungen in Herbergen und den Enthusiasmus für eine fremde Welt. Wenn Tanpinar von Mümtaz' Wanderleben von Provinz zu Provinz, von Kleinstadt zu Kleinstadt erzählt, geht er zum großen Teil von seinen eigenen Erinnerungen aus. Sämtliche Reminiszenzen, die der Autor in sein Buch einfließen lässt, haben Traumcharakter, werden zu Reisen, welche die Romanfiguren in der Fantasie oder der Wirklichkeit des Romangeschehens unternehmen.
Wenn der Autor vom Tod von Mümtaz' Mutter erzählt, von der Reise des jungen Mannes nach Istanbul, davon, wie Ihsan Mümtaz empfängt, von den Aufgaben des jungen Mannes im Haus in Sehzadeba i, vom Gymnasium in Galatasaray, von Mümtaz' Studien in der reichhaltigen Bibliothek unter Anleitung von Ihsan und von Mümtaz' Hinwendung zur Musik und von seiner Aneignung des breiten kulturellen Spektrums der Hinterlassenschaft des Osmanischen Weltreiches – wenn man seine Erlebnisse mit allen ihren Details liest, die von der Sehnsucht nach der Vergangenheit und von der Illusion vom untergegangenen Osmanischen Reich handeln, wenn man von seinen Versuchen liest, vor der realen Zeit zu fliehen, erkennt man, dass Mümtaz kein Individuum mehr ist, sondern eine Person, die mit ihrer Umwelt, mit den Menschen in seiner Umgebung eins wird und in Träume und Fantasien aufgeht.
Die gelungensten Stellen des Werkes sind jene Passagen, in denen Ansichten Istanbuls beschrieben werden, jene Orte, an denen Mümtaz seine Träume erlebt. Er geht in die Antiquariate von Beyazit, sitzt in alten Verkaufsbuden, blättert in Handschriftensammlungen, stellt sich vor, was die Leute von damals dachten und wie sie lebten, und geht zum Trödelmarkt hinüber. Sein Schlendern über den Markt, seine Kommentare zu den alltäglichen Gegenständen auf dem Flohmarkt, seine Art und Weise, wie er den Trödel als Folie für die Alltagsgeschichten der Vergangenheit interpretiert, seine Rückschlüsse auf das Leben der früheren Besitzer – an all dem wird deutlich, wie präzis der Verfasser eine Vergangenheit einfängt, die aus den Blättern alter Manuskripte, aus den Einbänden antiquarischer Bücher und dem bizarren Gerümpel des Flohmarkts herauszulesen ist. Da ist stets zum einen die rationale Haltung des neutralen Beobachters, und dann wieder der Sprung ins Irrationale; diese Kapitel sind meisterhaft erzählt.
Wenn er dieses Milieu beschreibt, wird deutlich, wie seine Romanfiguren alles daransetzen, um vor den Zeitläuften zu fliehen, vor den Problemen der Gegenwart und dem Druck der Gesellschaft. Mümtaz alias Tanpinar beugt sich über jedes alte Möbelstück und betrachtet sorgenvoll ein Leben, das darin verschlossen ist, so als blickt er in einen Brunnen. Wenn er dann von den Fischern in Cekmece und den Kaffeehäusern erzählt, erkennt man, dass der Autor das Leben und die verschiedenen Milieus durch Mümtaz' Augen wie ein Bild wahrnimmt. Bei Tanpinar ist das Milieu kein Element – wie etwa im realistischen Roman –, das den Menschen näher beschreibt und seine Lebensumstände definiert, sondern ein Mittel, das seine Leser von Traum zu Traum geleitet. Der Autor wird zum Chronist Istanbuls, zu einem Maler all der Winkel und Ecken, in denen die Vergangenheit lebt, wie versteinert, wie geronnene Zeit.
Betrachtet man die Kapitel, die Mümtaz' Verhalten den schönen Frauen gegenüber zeigt – genauer gesagt: die Haltung Tanpinars, der sein Leben lang Junggeselle blieb –, so verstörten sie ihn stets, sie umgarnten ihn und brachten ihn dazu, dass er sich seines Lebens schämt.
Im Übrigen hat Mümtaz sowieso kein Leben, von dem er sagen könnte, es sei das seine. Vielmehr schleppt er sich in einem Milieu voller Kontraste dahin. Niemand kann Mümtaz vor diesem Versinken, vor dem inneren Elend bewahren. Was hält Mümtaz – auf seinem Geisterschiff – auf den Beinen, wenn er seine Traumprojekte in Büchern, Straßen und der malerischen Schönheit Istanbuls spazieren führt? Außer der Fähigkeit zu intensiven Empfindungen hat er eine geistige Tiefe, die ihm seelisches Gleichgewicht gibt. Hätte er diese intellektuelle Seite nicht, wäre er verloren.
In schlaftrunkener innerer Verschlossenheit gleitet Mümtaz in kaum auslotbare Tiefen und zieht sich beim geringsten Widerstand in sein Schneckenhaus zurück; echte Lebensfreude bleibt ihm versagt, er ist müde, schwach und erschöpft und kann kein inneres Gleichgewicht finden. Mit all diesen Eigenschaften, genauer gesagt, durch den Mangel an all jenen Eigenschaften, die ihn zu einem handlungsfähigen Menschen machen würden, stellt er wirklich ein Musterbeispiel für einen verstörten Menschen in der türkischen Literatur dar. Die Schilderung dieser Verstörtheit, die in manchem an Camus, Sartre und Kafka erinnert, ist keine Kopie von Erzählweisen westlicher Prägung, sondern bildet das Lebensgefühl jener Jahrzehnte in der Türkei detailgetreu ab. Dies trifft vor allem auf die Darstellung von Mümtaz' Persönlichkeit zu, auf sein Traumwandeln durch Raum und Zeit. Die Erschütterungen in einer Phase des Umbruchs bringen ihn durcheinander, und er klammert sich an alles, was ihm noch bleibt. Wenn es ihm nicht gelingt, den kulturellen Wandel in seinen widersprüchlichen Ausprägungen rational zu erfassen, flieht er in eine Traumwelt aus Fantasien, Illusionen und empfindet diese unstillbare Nostalgie dann umso stärker.
Aus: »Cumhuriyetten sonra hikaye ve roman Öncüler«, Antoloji / cilt 3, Istanbul 1965, S 592 ff.
Aus dem Türkischen von Monika Carbe