Wir halten schon zu lange das Banner des Sozialismus hoch
Der Schriftsteller Leonardo Padura über seine Romanfigur Mario Conde, die Macht des Dollar und die historische Ermüdung seiner Landsleute
Interview: Merten Worthmann, Berliner Zeitung, 9.8.2008
Der kubanische Sommer ist heiß. Leonardo Padura kommt in Shorts und mit freiem Oberkörper an die schmiedeeiserne Pforte der "Villa Alicia". Das Haus in Havannas Vorort Mantilla haben Paduras Eltern 1954 kurz vor der Geburt ihres Sohnes gebaut. Der Sohn hat später eine zweite Etage draufgesetzt. Dort lebt der Schriftsteller noch immer - mit seiner Frau, über den Eltern, hinter einem leuchtend roten Flamboyant-Baum. Einmal unten im Hof, wässert Padura kurz die Pflanzen, dann treibt er seine zwei Hunde zurück ins Haus und bittet auch den Besuch hinein. Im Arbeitszimmer sitzt Paduras Frau, eine unabhängige Journalistin. Sie nutzt den privaten Internetanschluss des Hauses, nach wie vor ein wertvolles Privileg in Kuba. Rundherum stehen die Bücher der kleinen Bibliothek, in der die vielsprachigen Ausgaben von Paduras eigenen Werken allein mehrere Regalreihen füllen. In einer Ecke hängt ein Plakat von Dashiell Hammetts Krimi "Rote Ernte" - der Titel würde auch gut zu manchen von Paduras Büchern passen. Eine Klimaanlage gibt es nicht, stattdessen zieht ständig eine laue Brise durch die Holzlamellen vor den Fenstern. Das Gespräch findet schließlich am Holztisch des Esszimmers statt. Leonardo Padura hat inzwischen ein rotes Poloshirt übergezogen. Er serviert kubanischen Kaffee - stark, schwarz und süß - und hält sich mit eisernem Willen an das selbstauferlegte Rauchverbot. Hinter ihm auf der Anrichte stehen eine große Schale mit frischen Mangos und eine Büste von Cervantes, unter dem Tisch dösen die Hunde.
Alle vier Bücher Ihres berühmten "Havanna-Quartetts" spielen im Jahr 1989, also vor der entbehrungsreichen kubanischen "Spezialperiode". Im neuen Roman "Der Nebel von gestern" ist Ihre Detektivfigur Mario Conde endlich im 21. Jahrhundert angekommen. Ein bedeutender Zeitsprung.
Und der hat mir ordentlich zu schaffen gemacht! Denn die kubanische Realität ist so skurril und einzigartig, dass man beim Schreiben immer wieder versucht ist, bestimmte Sachverhalte erst einmal zu erklären. Denken Sie an das Taxi, in dem Sie hierher gekommen sind. Das hätten Sie als Ausländer eigentlich gar nicht benutzen dürfen. Aber man muss schon ein echter Insider sein, um zu wissen, welche Sorte Taxis für welche Sorte Mensch, für welche Währung oder mit welcher Freiheit vom Taxameter zur Verfügung steht. Solche Differenzierungen gibt es an vielen Stellen im kubanischen Alltag. Und wer diesen Alltag literarisch darstellen will, muss ihn im Grunde zunächst erklären. Aber das ist ja eigentlich nicht die Aufgabe der Literatur - dazu sollte der Journalismus dienen. Nur gibt es in Kuba leider keinen Journalismus, der die Realität erläutert. Der staatliche Journalismus dient lediglich dazu, eine bestimmte Rhetorik der Realität zu rechtfertigen. Er rechtfertigt nicht mal die Wirklichkeit selbst, bloß deren offizielle Rhetorik.
Als Autor fühlen Sie sich aufgerufen, in die Bresche zu springen?
Nun ja, eine Weile bin ich dem Problem ausgewichen. Mit dem ersten Roman des "Havanna-Quartetts", zwischen 1990 und '91 geschrieben, habe ich mich noch auf die unmittelbare Vergangenheit bezogen. Mit dem zweiten fiel die Entscheidung: Ich beschloss, über vier Romane im Jahr 1989 zu bleiben - damit mich der abenteuerliche Wandel der Gesellschaft nicht dauernd in Erklärungsnöte bringt.
Geben Sie mir ein Beispiel.
Ganz einfach: Conde raucht gern. Aber 1992 gab es in Kuba keine Zigaretten mehr. Auch keine Feuerzeuge. Keine Busse, keine öffentlichen Telefone. Aber als handelnde Person musste Conde doch das Haus verlassen, anderswo aufkreuzen, sich mit jemandem verabreden. Hätte der zweite Roman 1992 gespielt, hätte Conde womöglich nicht mal das Haus seiner Freunde erreicht, er hätte sich mit keiner Frau verabreden können und wäre schlicht durchgedreht, weil er nirgendwo Zigaretten hätte auftreiben können.
Manche dieser Probleme scheinen mittlerweile gelöst zu sein.
Dafür sind neue aufgetaucht. Conde arbeitet schon längst nicht mehr bei der Polizei, sondern vom Verkauf gebrauchter Bücher. Vor allem aber ist in der Zwischenzeit eine neue Generation von Kubanern herangewachsen. Die hat weder die romantische Phase der Revolution in den 60er-Jahren erlebt, während derer wir dem sozialistischen Projekt eine Menge zutrauten, noch die dann folgende repressive Phase der 70er-Jahre.
Sie stellen Conde einen jungen Kompagnon zur Seite, Yoyi el Palomo. Damit Ihre Hauptfigur geerdet bleibt?
Ich brauchte diese 20 Jahre jüngere Figur, um die Mentalität der jungen Generation gegen die Mentalität meiner eigenen Generation abzusetzen. Wir haben damals die 70er Jahre durchlitten und versucht, dem fortschrittlichen Geist der 60er Jahre treu zu bleiben. Und irgendwie ging es uns damit nicht schlecht. Die Repression hat uns zusammengeschmiedet. Wir waren arm, aber glücklich, denn die Armut war gleichmäßig verteilt. Heute, nachdem die härtesten Jahre der Spezialperiode hinter uns liegen, leben wir in einer ungleich verteilten Armut. Und ein Typ mit wenig Skrupeln wie Yoyi el Palomo schwimmt oben. Der denkt realistisch, handelt pragmatisch und glaubt nicht mehr an kollektive Projekte, nur noch an individuelle. Er liefert eine Art Komplementär-Blick zu dem seines älteren Partners. Yoyi passt im Grunde viel besser in diese Zeit, in der man eigentlich ohne Devisen kaum leben kann - obwohl die egalitäre Rhetorik noch dieselbe ist wie vor 20 oder 30 Jahren.
Man hat mitunter das Gefühl, dass der sozialistische Rahmen im Land nur noch aufrechterhalten werden kann, weil viele Kubaner sich längst durch kapitalistische Händel über Wasser halten.
Ich glaube, dass die 90er-Jahre in Kuba zu Veränderungen geführt haben, die so einschneidend waren wie jene der 60er- Jahre. Damals war die Zeit der großen revolutionären Projekte, auf deren Grundlage sich das Leben dann knapp 30 Jahre lang bewegte, bis hin zum Erreichen eines durchaus beachtlichen Lebensstandards in den 80ern. Das alles brach in den 90ern zusammen, Kuba hing plötzlich komplett in der Luft, und das erzwang eine Art neuer Revolution innerhalb des revolutionären Projekts - natürlich auch zum Machterhalt. Die politische Essenz blieb unantastbar, aber parallel wurden privatwirtschaftliche Ventile und Alternativstrukturen zugelassen, die dazu führten, dass der Lebensstandard der Kubaner nun stark variiert, je nachdem, wie ihr Zugang zu harter Währung aussieht.
Wer lebt am besten?
Das kann man so einfach nicht sagen. Aber ein kubanischer Staatsbürger, der von einem Verwandten in den USA monatlich 300 Dollar zugeschickt bekommt, kann in mancher Hinsicht ebenso gut leben wie jemand aus der Mittelschicht in Berlin oder Barcelona - ach was, besser sogar, denn er arbeitet ja nicht, besitzt also eine deutlich höhere Lebensqualität. Daneben gibt es eine Menge Leute, die aufgrund legaler Jobs (das ist die Minderheit!), halblegaler Jobs (deutlich häufiger!) oder illegaler Jobs (der bei Weitem häufigste Fall!) an harte Währung herankommen. Viele davon müssen nicht einmal etwas dafür tun, sondern nur am richtigen Schreibtisch sitzen. Wer etwa in den Wohnungsämtern für die Legalisierung von Umbauten oder Wohnungswechseln zuständig ist, der lässt sich seine Unterschrift in der Regel sehr teuer bezahlen. Die Brüchigkeit des Systems hat unzählige Möglichkeiten geschaffen, sich zu bereichern. Alle soziale Logik in Bezug auf ein nachvollziehbares Verdienstgefüge ist ausgehebelt.
Hat sich seit dem Machtwechsel im Februar etwas geändert?
Der Staat versucht, die reguläre Arbeit wieder stärker zur Quelle des Einkommens zu machen. In manchen Bereichen der Produktion ist die Lohndeckelung aufgehoben worden. Es kann jetzt stärker nach Leistung bezahlt werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Kurs genommen wird auf das chinesische oder das vietnamesische Modell. In jedem Fall scheint mir das ein wichtiger und notwendiger Schritt in die richtige Richtung zu sein.
Wird dieser Schritt auch vom Volk als Kurswechsel wahrgenommen?
Ich kenne zwei Fälle, in denen Leute ihre halblegalen Alternativ-Jobs aufgegeben haben und an ihre ehemaligen, regulären Arbeitsplätze zurückgekehrt sind. Die Gewinnspannen auf dem "freien Markt" waren zurückgegangen, während der Staat plötzlich begonnen hat, mehr Geld zu zahlen. Aber natürlich haben die Kubaner insgesamt den Eindruck, dass der Wandel viel zu langsam vonstatten geht. Und viele hoffen, dass die Logik hinter den ersten Maßnahmen weitergedacht wird: Wenn man nun schon nach Leistung bezahlt werden kann, und wenn man nun schon Handy oder Computer kaufen darf, warum dann nicht auch endlich jene zwei Dinge, die fast schon zu mythischen Traumbildern individuellen Wohlstands geworden sind: das eigene Auto und das eigene Heim?
Aber müssen nicht viele, bevor sie über Auto oder Eigenheim nachdenken können, sich erst einmal mühsam die tägliche Grundversorgung erkämpfen?
Natürlich ist Armut immer noch ein Problem in Kuba. Aber nach wie vor gilt, dass niemand im Lande verhungert. Das ist nicht mal in den 90er-Jahren passiert. Als Armer hat man es hier viel besser als in Honduras oder Nicaragua, von Sambia oder Indien ganz zu schweigen. Eine minimale Grundversorgung ist immer noch gewährleistet, auch medizinisch. Und so, wie es viele Schliche gibt, um mithilfe staatlicher Ressourcen eine Menge Geld zu machen, so gibt es auch viele Tricks, um mithilfe staatlicher Ressourcen ans Notwendigste zu kommen.
Trotzdem gibt es Menschen, die im Müll wühlen.
Ja, die sogenannten Taucher. Gegen die hat es erst vor Kurzem eine große Verfolgungswelle gegeben. Die wühlen aber meist nicht aus Not, sondern weil sie mit dem Gestöber oft deutlich mehr verdienen als mit einem Fabrikjob. Der Staat will mit dem "Tauchen" Schluss machen, angeblich um Krankheitsherde auszurotten. Zugleich will man zeigen, dass Kubaner solche Elends-Beschäftigungen nicht nötig haben. Aber was man nötig hat, ist natürlich relativ. Ein Fabrikarbeiter verdient, großzügig gerechnet, 400 Pesos. Eine Dose Bier kostet 25 Pesos. Wenn dieser Arbeiter allein von seinem Einkommen leben wollte, dann würde er also nie ein Bier trinken können. Nie. Es sei denn, er wartet auf den Tag, an dem ein Deutscher des Weges kommt und ihn einlädt, weil er so nett auf der Gitarre zupfen kann ...
Mit welcher Mentalität begegnen die Kubaner dem gegenwärtigen Wandel? Mit wachsender Unruhe? Oder warten sie eher stoisch ab?
Man wagt sich mittlerweile eher mit der eigenen Meinung vor. Die Leute protestieren häufiger und diskutieren offener. Trotzdem warten alle ab. Denn stillschweigend gehen sie davon aus, dass Veränderungen immer von oben kommen. Der Wandel geht nicht vom Volke aus, sondern wird von der Staatsspitze ans Volk weitergegeben. An diese Dynamik sind die Kubaner nun einmal gewöhnt. Aber der Wandel, von dem die Menschen träumen, hat ohnehin vor allem mit den Dingen des alltäglichen Lebens zu tun. Kaum jemand redet über einen grundsätzlichen politischen Umschwung. Und das scheint mir eine gesunde Einstellung zu sein. Ein brüsker Wechsel könnte momentan grauenhafte Folgen haben.
In "Der Nebel von gestern" stößt Conde in einem halb eingefallenen Haus auf eine kostbare Privatbibliothek, die sich auf rätselhafte Weise seit vorrevolutionären Zeiten erhalten hat. Deshalb spielt das Buch zum Teil in den 50er-Jahren. Brauchten Sie ein Gegengewicht zur kruden Gegenwart?
Ich hatte eher eine Parabel über die Entwicklung der kubanischen Kultur im Sinn. Diese Kultur entsteht ja eigentlich erst im 19. Jahrhundert, parallel zur Unabhängigkeitsbewegung. Vorher war die Insel kaum mehr als eine spanische Handelsniederlassung. Das Niveau und der Reichtum, die diese Kultur bis zur Revolution erreicht hatten, ist in der Bibliothek verkörpert. Die Revolution bedeutet einen Kurswechsel. Manche Aspekte der Kultur werden im Sozialismus gefördert, andere vernachlässigt. Aber die Bibliothek, gewissermaßen das kulturelle Erbe an sich, bleibt intakt. Bis die Not der 90er- Jahre einen erneuten Kurswechsel herbeiführt. Plötzlich denken die Leute vor allem ans Essen. Bibliotheken in Kuba werden reihenweise geplündert, um vom Erlös Lebensmittel kaufen zu können. Aber die Bibliothek meines Buches hat eben auch eine symbolische Dimension: Sie überlebt ohne Makel innerhalb eines Hauses, das Stück für Stück zusammenfällt, weil die Besitzer nicht mehr die Mittel aufbringen können, es weiter zu unterhalten. Doch irgendwann steht auch sie zur Disposition.
Der alternde Conde hat mitunter das Gefühl, aus dem heutigen Havanna ausgeschlossen zu werden - weil er manche Verhaltensweisen kaum noch versteht. Spricht Ihr Held Ihnen da aus dem Herzen?
In der Tat, mich irritiert vieles an der gegenwärtigen kubanischen Gesellschaft. Ich schreibe monatlich eine Kolumne für eine internationale Presseagentur, und oft benutze ich sie, um mir darüber klar zu werden, was eigentlich vorgeht im Land. Die kubanische Gesellschaft ist zum Beispiel viel gewalttätiger geworden. Die Skrupellosigkeit hat auf bestürzende Weise zugenommen, der Respekt vor dem Nächsten stark nachgelassen. Da scheint sich eine Kultur des gegenseitigen Umgangs vor meinen Augen aufzulösen.
Das ist nicht unbedingt ein rein kubanisches Phänomen.
Ich weiß. Aber ich versuche nun einmal, die Kubaner zu verstehen. Und wenn ich sehe, dass es bald eine ganze Generation gibt, deren musikalischer Horizont sich auf den Reggaeton beschränkt ... In meiner Generation war es für einen Kubaner normal, zur Universität zu gehen. Das prägte das Verhältnis zur Zukunft: Wir wollten lernen, wissen, weiterkommen. Heute beschränkt sich das Verhältnis zur Zukunft auf die Fragen: Wie komme ich möglichst schnell und auf verlässliche Weise an Devisen ran?, beziehungsweise: Wie komme ich möglichst schnell aus Kuba raus, um wo auch immer Devisen zu verdienen? Die Verhältnisse haben die Kubaner dermaßen umgekrempelt, dass es mich manchmal wirklich Kraft kostet, da mitzukommen.
Sie widmen mehrere Passagen Ihres Buches dem Stadtteil Atarés am Rande von Alt-Havanna. Die Schilderung des dortigen Alltags wirkt fast wie eine danteske Höllenvision. Wollten Sie der sozialistischen Idee des neuen Menschen die Idee vom Menschen als ewigen Sünder entgegenhalten?
In Atarés bringe ich einfach alle, wenn Sie so wollen, höllischen Aspekte des kubanischen Alltags zusammen: Drogen, Prostitution, Gewalt, Mord, schmutzige Geschäfte - die ganze Unter- und Parallelwelt eben, die sich seit der Spezialperiode in Kubas Städten entwickelt hat, mit ihren Überlebenskämpfen und ihren verschiedenen Ebenen von Schwarzmarkt und Schattenwirtschaft, innerhalb derer natürlich bestimmte Mentalitäten wieder aufblühen, die offiziell längst untergegangen sind. Ich habe in dem Abschnitt zwar mit sehr kräftigen Farben gearbeitet. Aber bisher hat mir noch kein Leser aus Havanna Übertreibung vorgeworfen.
Condes junger und tendenziell hartgesottener Kompagnon reagiert gegen Ende des Buches überraschend moralisch. Haben Sie sich ihn schöngeschrieben, damit er auf der Seite der Guten stehen darf?
Kann sein, dass ein Kerl wie Yoyi im wirklichen Leben der Versuchung nicht widerstanden hätte, der er im Buch ehrenhaft widersteht. Aber als Schriftsteller erlaube ich mir diese kleine Manipulation. Es ist übrigens nicht die einzige. Die Preise, die im Buch als Marktwert der bibliophilen Kostbarkeiten aus der besagten Bibliothek genannt werden, liegen häufig deutlich unter deren realem Marktwert.
Sagen Sie nicht, Sie wollten einem Anstiftungseffekt vorbeugen?
Doch. Ich wollte nach all den Büchern, die schon während der Spezialperiode geraubt und verschachert worden sind, die räuberische Versuchung nicht noch einmal anstacheln. Könnte ja sein, dass jemand das Buch liest und sich sagt: Mensch, laut Padura bringt dieses und jenes Buch 60 000 Dollar - und das hat doch meine Oma. Die bringe ich einfach um und dann verkaufe ich das Buch.
Vor Jahren haben Sie einmal gesagt, Sie wollten unbedingt auf Kuba leben bleiben, der Menschen und ihrer ganz besonderen Lebensweise wegen. Kommt Ihnen dieser Grund langsam abhanden?
Mag sein. Andererseits gehört all mein Befremden natürlich zu meiner literarischen Herausforderung. Mit einem anderen Beruf wäre ich womöglich irgendwann ausgewandert. Aber mein Werkzeug ist die kubanische Sprache, und mein Gegenstand ist - meistens jedenfalls - die kubanische Wirklichkeit. Und mag sie auch schwer verständlich, aggressiv oder hässlich sein, es bleibt die Wirklichkeit, die mir aufgegeben ist und mit der ich kommunizieren kann. Anderswo würde mir das Schreiben höllisch schwerfallen.
Einem kubanischen Magazin haben Sie einmal auf die Frage, womit Sie in ihrem Leben unzufrieden seien, geantwortet: dass Sie nicht in der Lage sind, mit einem Bier in der Eckkneipe zu stehen und alles in Seelenruhe zum Teufel zu jagen ...
Ja, es ist ein Kreuz. Aber ich glaube eben daran, dass ich als Schriftsteller und Intellektueller in der Pflicht stehe. Auch wenn ich keine öffentliche Figur bin, die in allen politischen Debatten mitmischt, denke ich doch, dass ich eine gewisse Verantwortung der Zeit und ihrem Gedächtnis gegenüber habe; dass ich als Autor Zeugnis ablegen muss, wie man in diesen Jahren in Kuba gelebt hat. Mir fällt eine Szene aus den "Sopranos" ein, in der Tony Soprano zu seinem Sohn sagt: "Junge, Leben bedeutet Arbeit und Leid. Such Dir aus, was Dir besser gefällt." Was für eine Alternative! Aber manchmal habe ich das Gefühl, ich würde es nicht anders ausdrücken. Im Grunde beneide ich all die unverantwortlichen Seelen, die das Leben einfach auf die leichte Schulter nehmen können. Ich schaffe das nicht.
Was bedeutet es für einen kubanischen Autoren, im Ausland weit mehr gelesen zu werden als in der Heimat?
Mein imaginärer Leser ist nach wie vor Kubaner. Daran hat sich nichts geändert. Aber seit ich einen spanischen Verlag habe, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich ein geschriebenes Buch auch tatsächlich materialisiert. Das bedeutet eine größere Freiheit, aber zugleich eine große Herausforderung. Alle Abschnitte, die hierzulande die Zensur auf den Plan rufen könnten, stellen auf dem europäischen Markt kein Problem dar. Dafür muss man, um für eine Veröffentlichung in Europa zu taugen, in konkurrenzfähiger Qualität schreiben - was auch nicht immer einfach ist. Ich glaube, dieser Druck hat erheblich dazu beigetragen, dass meine Bücher literarisch immer anspruchsvoller geworden sind.
Ich habe gestern in einer von Havannas besten Buchhandlungen nach Ihren Büchern gesucht und bin lediglich auf eine Neuauflage Ihres allerersten Romans gestoßen.
In Kuba gibt es keinen Buchmarkt. Es werden zwar, laut offizieller Definition, Bücher veröffentlicht und verkauft - aber ohne Markt! Wenn es den gäbe, dann würden natürlich Titel je nach Erfolg nachgedruckt. So aber sind die Auflagen - jedenfalls in meinem Fall - grundsätzlich unzureichend. Meistens liegen sie zwischen drei- und fünftausend Exemplaren. Immerhin: Alle meine Bücher sind in Kuba gedruckt worden. Einige haben Preise erhalten. Und die Zensur hat noch nicht einmal eingegriffen. Aber in den Buchhandlungen werden Sie nur im Fall einer zufälligen Neuauflage mal etwas finden. Und es lohnt sich natürlich nicht, mit der spanischen Ausgabe nachzufüttern. Die kostet knapp 20 Euro. Dabei ginge das komplette Monatsgehalt eines gut bezahlten Arztes drauf.
Da fällt mir die Theorie der Unverhältnismäßigkeit wieder ein, die einer von Condes Freunden im Buch bei einem Abendessen erwähnt. Die müssen Sie mir nochmal erklären.
Kuba ist ein Land, das größer ist als die Insel selbst. Seit dem Unabhängigkeitskampf im 19. Jahrhundert ist das Land überproportional auf der Weltbühne präsent - gemessen an seiner Bevölkerungszahl und realen Größe. Fragen Sie mal in Deutschland auf der Straße: Wie heißt die Hauptstadt von Costa Rica? Welche Musik hört man in Costa Rica? Wie heißt der Präsident von Costa Rica? Das weiß kaum jemand. Wenn Sie die gleichen Fragen über Kuba stellen, sieht die Bilanz ganz anders aus. Kuba ist weltweit bekannt, seiner Musik wegen, seiner Politik wegen, auch seiner Literatur wegen. Und Fidel Castro ist eine unausweichliche Persönlichkeit in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir Kubaner haben diese Unverhältnismäßigkeit mittlerweile geschluckt und tendieren deshalb dazu, uns selbst zu überschätzen: Wir halten uns für die Besten beim Sex und beim Tanz, wir sind - nicht wahr? - außerordentlich intelligent und gebildet, wir besitzen ein beispielhaftes Gesundheitssystem. Genau das sagt zwar auch die offizielle Propaganda, aber es scheint uns nur angemessen, denn wir glauben ja längst selbst daran.
Hat dieser Stolz im Laufe der Spezialperiode nicht gelitten?
Zum Teil. Es ist ein Aspekt hinzugekommen, den ich die historische Ermüdung nenne. Denn unsere Ausnahmestellung erschöpft uns, selbst wenn sie unserem Ego schmeichelt. Wir tragen nun schon lange die besondere Verantwortung mit uns herum, das Banner des Sozialismus vor der Welt hochzuhalten. Diese Verantwortung würde ich lieber abgeben. Sie hat mich ausgelaugt. Und viele andere auch.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/0809/magazin/0002/index.html