Die denken wohl, der schreibt auf Deutsch!
Zweieinhalb Regalfächer füllen die Bücher, die meine Mutter im Laufe ihres Lebens übersetzt hat. Jetzt werden sie zu mir übersiedeln. Meine Mutter ist gestorben.
Damals, als sie den großen blauen Tontopf aus Ostpreußen hergetragen hat, dreijährig, am Ende des Krieges, beschützt von der Großmutter und den älteren Geschwistern, oder später, als sie in Bernau über den Wall hin zur Schule ging, mit großen Schleifen im Haar, und auch, als sie eine Auszeichnung bekam, weil sie für den Bau des Hochhauses an der Weberwiese in Berlin das meiste Geld gesammelt hatte - damals hätte sich niemand vorstellen können, dass dieses Mädchen aus Bernau, Tochter einer Maschinenstrickerin und eines Buchhalters, einmal in die ganz weite Welt hinausgehen würde, die melancholischen Kleinstadtsonntage hinter sich lassen und eine Sprache studieren, die zu dieser Zeit niemand hierzulande verstand: Arabisch, eine Sprache, die sie in Städte mit märchenhaften Namen hinaustragen würde - nach Kairo, nach Damaskus und Beirut.
Wäre die Bernauer Stadtbibliothek nicht gewesen, in der sie las, las und las, und dann auf ein Buch stieß mit dem Titel: "Gebeugt über alte Handschriften", wäre nicht die Lehrerin gewesen, die sie auf die Idee brachte, diese Sprache zu lernen, die die Fremden an der Gewerkschaftshochschule sprachen, und wäre nicht zuletzt der Schuldirektor gewesen, der ihr Unreife vorwarf, als sie den Wunsch äußerte, dieses Fach zu studieren, dann wäre vielleicht nicht ihr Trotz erwacht und ihr Eigensinn, dann wäre das Fernweh, das sie aus der Kleinstadt nach Berlin und von da in die Fremde trieb, nicht so groß gewesen.
So aber schrieb sich meine Mutter für Arabistik und Romanistik an der Humboldt-Universität ein, lernte Kehl- und Rachenlaute, lernte, von rechts nach links zu schreiben und von hinten nach vorn zu blättern. Zu ihrer deutschen Handschrift gesellte sich allmählich ihre zweite, die arabische, in der sie zum Beispiel notieren würde, welche Weihnachtsgeschenke sie besorgen wollte, eine mir sehr vertraute, aber niemals entzifferbare Geheimschrift. Wenn in der U-Bahn arabische Männer sich in ihrer Sprache über die hübsche blonde Studentin verständigten, die ihnen gegenübersaß, verabschiedete sich diese Studentin beim Aussteigen mit einem lässigen "Maas salam"!
Als man ihr anbot, für ein zusätzliches Studienjahr nach Kairo zu gehen, allerdings unter der Bedingung, mich, damals gerade fünf Monate alt, als Pfand in der DDR zurückzulassen, wusste sie, dass das die Chance ihres Lebens war. An die Wand ihres Kairoer Zimmers hängt sie den Plan mit den Mahlzeiten, die dem Säugling in Berlin gegeben werden müssen, draußen im ägyptischen Alltag lernt sie die arabische Umgangssprache, beginnt zu dolmetschen und kommt mit jungen Autoren zusammen, deren Lebenswerk später auch ihr Lebenswerk werden wird. Zurück in Berlin, arbeitet sie für den Rundfunk der Deutschen Welle, bei den Weimarer Beiträgen und kehrt für ihre Forschungen schließlich an die Humboldt-Universität zurück. Noch zu DDR-Zeiten beginnt sie, für den Züricher Unionsverlag zu arbeiten, übersetzt von da an Jahr für Jahr mindestens ein Buch des späteren Nobelpreisträgers Nagib Machfus, aber auch Werke von Mohamed Choukri, Gamal Al-Ghitani und vielen anderen.
Als 1995 im Zuge der Evaluierungen an der HU keine Sektion für Arabistik eingerichtet wird, entlässt man sie trotz ihres umfangreichen Wissens. Von da an macht sie sich als Übersetzerin selbstständig. Von da an sitzt sie Tag für Tag acht Stunden an ihrem Schreibtisch. Höchstens zwei, drei Seiten schafft sie pro Tag und bekommt dafür so viel wie ein Klempner für eine Anfahrt, das aber mindert niemals die Besessenheit, mit der sie den Worten nachsetzt. Sie blättert in Wörterbüchern, sucht nach Originalquellen für Zitate, zeichnet Grundrisse für die Wohnungen, in denen die Romane spielen, Stammbäume für die Familien der Hauptfiguren, sie schlägt sich mit Sitten und Begriffen herum, die unübersetzbar scheinen, weil der Gottesbegriff, die Rituale, die Dinge des Alltags, Speisen, Kleider, einfach alles anders ist als in Preußen oder der Schweiz. Hatte der Vater am Beginn des Buches auch schon fünf Kinder oder vier? Gab es zu Cheops Zeiten schon Zement? Ist Allah Gott? Sie schreibt Fragenlisten für die Autoren, trifft sich mit Muttersprachlern, die ihr eine politische Anspielung begründen können, schickt Fassungen hin und her, korrigiert Fahnen, sie diskutiert über Wendungen, die sie immer unbedingt im gestischen Sinne übersetzt wissen will, nicht bloß von Wort zu Wort.
Während sie in ihrem sehr stillen Berliner Zimmer sitzt, lebt sie in den Gassen der Kairoer Altstadt, lebt in Beduinenzelten, in Algier oder Rijad - wohnt in ihren Büchern. Und immer wieder ärgert es sie, wenn in den Rezensionen die Sprache der von ihr übersetzten Autoren gelobt wird, ohne dass ihr Name erwähnt ist: Die denken wohl, der schreibt auf Deutsch! Als Übersetzerin führt sie ein Schattendasein, sie schlüpft in die Gedanken des Schriftstellers, tritt zurück hinter den Namen des Autors, und doch gibt sie ihre Leidenschaft, ihre Lebenserfahrung, ihre ureigene Sprache für die des andern. Wenn sie gefragt wird, was das Schönste am Übersetzen sei, wird sie sagen: Für eine Zeitlang jemand anders zu sein.
Aus: Berliner Zeitung, 13.6.2008
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/0613/feuilleton/0004/index.html