Matthias Hanselmann: Sie haben als Kind in der Wüste Negev, das heißt auf Deutsch »Die Trockene«, die Kamele Ihres Vaters gehütet, erst mit 14 Jahren überhaupt Lesen und Schreiben gelernt. Später haben Sie in London und Heidelberg studiert. Dort leben Sie seit 1973. Ich habe in einem biografischen Text über Sie gelesen, Sie seien palästinensischer Beduine mit israelischer Staatsangehörigkeit. Gibt es so was überhaupt?
Wahrscheinlich, stimmt. Ich bin dort geboren, aufgewachsen. Ich bin israelischer Staatsbürger. Ich bin von der Herkunft Beduine, aber auch Palästinenser und noch dazu ein kurpfälzischer Autor.
Wie haben Sie Ihre Kindheit als junger Beduine erlebt? Wie war die Welt um Sie herum?
Ich bin ein halbes Jahr jünger als der Staat Israel, im November ’48 geboren, hab dort die Kindheit verbracht im Zeltlager, zum Teil geschützt, geborgen vor den Geschehnissen, von den Ereignissen, dem Staatenkrieg ’48, sozusagen die Wüste, die Kamele haben einen gewissen Schutz, Geborgenheit gegeben. Aber trotzdem, man hört von den Ereignissen, Verwandte sind betroffen. In meinem Land ist Krieg, den von 1967 habe ich erlebt. Ich habe das Land verlassen, weil ich das Gefühl hatte, dort sei es für mich zu eng geworden. Es wurde unmöglich, in die Welt zu reisen.
War es wirklich so einfach für Sie, auch die Familie zu verlassen?
Das natürlich nicht. Das ist ein Verlust für die Familie, für den Stamm. Aber wir haben uns mit der Zeit auch arrangiert. Ich komme zwei- bis dreimal im Jahr zu Besuch, schreibe meine Bücher über unsere Lebenswelt und irgendwie, mit einem Bein, bin ich doch dort geblieben.
Für Sie als Schriftsteller sind Grenzen ein wichtiges Thema. In Ihrem erfolgreichen Buch Das Kamel mit dem Nasenring beschreiben Sie die Konflikte der Beduinen, die bis zur Staatsgründung Israels frei in der Wüste umherziehen konnten. Dann springt ein hungriges Kamel eines Tages über einen Grenzstein, um jenseits der Grenze ein paar Artischocken zu ernten. Sein Hirte folgt ihm und beide werden festgenommen. Eine Odyssee durch jordanische und israelische Gefängnisse beginnt. Wie geht es Ihren Vorfahren, den Beduinen, heute? Wo leben sie, und welche Grenzen müssen sie beachten?
Natürlich die jordanische Grenze, und auch die ägyptische Grenze. Die Mobilität ist zum Stillstand gekommen. Denn Viehzucht spielt eine untergeordnete Rolle im Leben der Negev-Beduinen. Inzwischen leben die Leute, zum Beispiel mein Stamm, in einer Stadt mit 45 000 Einwohnern, mit Infrastruktur, modernen Schulen, Stadtverwaltung, kleinem Industriegebiet usw. Die nomadische Lebensweise ist zum Stillstand gekommen.
Das Nomadentum ist sozusagen weitgehend vorbei, auch gezwungenermaßen?
Ja, natürlich, wenn der Staat etwas entwickelt, will er selbst auch etwas davon haben. Durch diese großen Projekte will er uns sesshaft machen. Um den Nomaden, im Grunde genommen, das Stammesgebiet zu beschlagnahmen, sie zu enteignen, ihren Anteil reduzieren, billige Arbeitskräfte schaffen. Wenn man die Arbeitslosigkeit in Israel sieht, da steht die Stadt Rahad, die Beduinenstadt, an oberster Stelle, was Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit anbetrifft.
Bis heute gibt es im israelisch-palästinensischen Raum keinen dauerhaften Frieden, keinen palästinensischen Staat. Haben Sie noch Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung?
Man sagt, zuletzt stirbt die Hoffnung. Aber es ist schwierig. Ich habe die Hoffnung auf zwei Staaten, Israel neben Palästina, Palästina neben Israel. Denn es geht so nicht auf die Dauer. Eine Seite feiert, die andere trauert. Und das bringt weder den Menschen noch dem Land den Frieden näher.
Auch in Ihrem Buch Die Feuerprobe beschäftigen Sie sich mit der hoch explosiven Situation in Nahost. Da geht es um einen Mord, der über 40 Jahre zurückliegt, einen Mord an einem Beduinen aus einem Nachbarstamm Ihrer Sippe. Damals hat man Ihre Sippe für schuldig gehalten oder ihr die Schuld in die Schuhe schieben wollen, besser gesagt. Schließlich wurde auf ein altes Ritual, eine Art Schiedsverfahren, zurückgegriffen, nämlich die Feuerprobe. Um welches Ritual handelt es sich dabei?
Auch diese Geschichte hat mit dem Israel-Palästina-Konflikt zu tun. Diese Geschichte betraf unsere Familie. Die Feuerprobe ist weltweit verbreitet, bei den Germanen, in Afrika, bei vielen Kulturen. Um Schuld oder Unschuld zu beweisen, muss man sich der Feuerprobe unterziehen. Man erhitzt eine Pfanne bis zur Glut, und dann muss man sie mit der Zunge dreimal berühren, lecken. Wenn die Zunge unversehrt bleibt, ist das ein Freispruch. Und wenn an der Zunge eine Spur sichtbar wird, heißt das Schuldspruch. Und so wurde unser Fall zuletzt entschieden, nach Vemittlungsversuchen des Staates, nach Lügendetektor und anderen Versuchen. Die Feuerprobe als Krönung der Justiz.
Man muss dreimal an einer glühenden Pfanne lecken?
Richtig.
Und wenn man jetzt denkt, das ist ein komplett archaisches Ritual, dann erinnern Sie daran, dass es auch noch in der westlichen Welt den Lügendetektor gibt, den Sie wahrscheinlich für genauso archaisch halten?
Da, denke ich, sind wir uns einig.
Gibt es dieses Ritual heute noch unter Beduinen?
Heute gibt es das noch. In Palästina war es nie verbreitet, in Jordanien früher. In Ägypten gibt es das bis heute. Aber das Ritual mit der Zunge und dem Feuer gibt es bei vielen Kulturen. Im Deutschen sagt man: Er trägt sein Herz auf der Zunge, ich lege meine Hand ins Feuer. Das Wort hat eine magische Bedeutung.
Dürfen wir jetzt verraten, wie die Feuerprobe ausgegangen ist?
Das dürfen Sie nicht von mir verlangen. Die Spannung für den Leser muss bleiben. Aber es lohnt sich vielleicht reinzuschauen, das Buch öffnet ein kleines Fenster. Auch für die Ethnologie, für die Kulturen überhaupt und auch für den Israel-Palästina-Konflikt.
Es ist ja auch ein Stück Ihrer eigenen Familiengeschichte. Warum haben Sie das alles erst nach 40 Jahren aufschreiben können?
Ja, da musste ich Rücksicht auf Familienmitglieder nehmen, auf manche Akteure, die damals lebten. Und ich komme aus der Wüste. Manchmal brauchen solche Erzählungen Zeit, um ihre Reife zu erreichen.
Diese 40 Jahre, sind die eine Art magische Zahl?
Ja, ich glaube daran. Moses war auch 40 Jahre in der Wüste. Ali Baba und die 40 Räuber … Die Zahl hat in vielen Kulturen Bedeutung.
Glauben Sie, dass Sie als Schriftsteller, als ein Mann, der die orientalische Erzählkunst beherrscht und auch pflegt, einen Beitrag leisten können zu einer Konfliktlösung im Nahen Osten?
Meine Geschichten können die Welt nicht verändern. Aber zum Teil denke ich, glaube ich daran, sie können in dieser verfahrenen Situation vielleicht kleine Kerzen in der Dunkelheit zünden.
Deutschlandradio, 15.5.2008. Moderation: Matthias Hanselmann.