In Adalet Ağaoğlus Roman Sich hinlegen und sterben werden wir damit konfrontiert, dass Intellektuelle einer bestimmten Epoche sich stets selbst hinterfragen. Auch Aysel, die Heldin des Romans, steht inmitten eines solchen Prozesses. Schwierige Pflichten, die sie sich selbst aufgebürdet hat, stehen konträr zu ihren individuellen Wünschen. Das Individuum wird unter der Last der Ideale erdrückt. In gewisser Hinsicht stellt Aysel ihren hohlen Idealismus infrage, denn er bedeutet letzten Endes die Verleugnung alles Individuellen. Der Weg zum Individuum führt über persönliche Lebenserfahrung bis hin zum Recht auf persönliche Entscheidungen. Aysel nahm stets die Prinzipien der Republik ernst und gab sie dementsprechend weiter, doch diese Prinzipien sowie die Mühen ihrer Generation um Individualität werden im Roman im Licht von Aysels Wunsch kritisch hinterfragt, in einem Hotelzimmer Selbstmord zu begehen. Zum Schluss verlässt Aysel mit der Überzeugung das Hotelzimmer, mit sich selbst im Reinen zu sein. [...]
Aysels Selbstbefragung in Sich hinlegen und sterben drückt den Widerspruch des Individuums zwischen seinem Innenleben und der Außenwelt aus. Aysels Geschichte ist voller schwieriger Fragen, die nicht auf die Seiten eines Romans passen. Nach ihrer eigenen Deutung ist sie einer der seltenen Charaktere, die unersättlich nach Pflichten gieren,und sich unzählige Aufgaben und Missionen auf die schwachen Schultern laden. Sie führt ihr Leben so pflichtbewusst und lässt sich mittreiben von diesem unaufhaltsamen und unumkehrbaren Verlauf, dass Aysel sich, als sie diesem Strom entkommen will, in einem Hotelzimmer wiederfindet und auf das Sterben wartet. Da Aysel sich ihr Leben lang mit dem Existenzkampf auseinandergesetzt und stets um Anerkennung als Mensch gerungen hat, konnte sie nicht ihre eigentliche Persönlichkeit und die Tiefe ihres Ichs erlangen. Weil sie es immer aufschob, den Weg nach innen einzuschlagen und sich dauernd nach außen wandte. Der Roman ist demnach die Geschichte vom Kampf eines Menschen, sich selbst zu finden, nachdem er sein Leben lang zu viel Wert auf die Außenwirkung gelegt hatte.
Aysel ist ein Charakter, der sich so sehr den Menschen in seiner Umgebung gewidmet hat, dass er sich selbst im wörtlichen Sinn, das heißt, sein eigenes Ich nicht kennt. Natürlich tut sie das auch deshalb, weil sie die verschollenen Seiten ihrer Persönlichkeit bei anderen sucht. Eines Tages, in einer Phase, die man »verspätet« nennen könnte, wacht sie auf und erkennt die eigentliche Wirklichkeit des Lebens. Der Ort, an dem sie erwacht, ist ein Hotelzimmer. In dieses Hotelzimmer hat sie auch ihr Leben, die einzelnen Stationen und Fragen ihres Lebens und auch die Menschen, denen sie ihre Persönlichkeit in dieser Form gewidmet hat, mitgebracht. Sie lässt ihr Gedächtnis umherwandern und die Zeit, die Welt, alles hinter sich zurück. Das Zimmer ist wie ein Grab, in dem man sterben kann, solange man noch auf der Welt ist. Daher ist Aysel sorgfältig darauf bedacht, den Raum zu verdunkeln. Sie schließt die Vorhänge und will kein Licht. Sie liegt im Grab oder steht in den dunklen Vorhallen des Unterbewusstseins. Auf eine seltsame Weise steht sie sogar auf der Schwelle des Todes, den sie selbst gewählt hat. Und noch während sie den Atem des Todes spürt, erkennt sie sich selbst und überlegt, dass sie nur auf der Schwelle des Todes zu sich selbst finden kann. Denn der Strom des Lebens hat sie so sehr in Stücke gerissen, hat sie sich selbst so sehr entfremdet, dass sie genau weiß, dass sie sich nicht wird finden können, so lange sie lebt. Für Aysel ist der Tod der Weg, der zu ihr selbst führt, und zwar der einzige Weg.
Aus dem Türkischen von Monika Carbe
Ümran Ağças Artikel über Adalet Ağaoğlus Roman Sich hinlegen und sterben trägt den Titel »Aysel’in Trajedisi ya da Ölmeye Yatmak Romanında Aydın Kadının Bunalımı« und erschien ursprünglich in in KADIN / WOMAN 2000 – Journal for Woman Studies (Eastern Mediterranean University), Vol.IV, No.2, Dezember 2003, S. 115-128. Die Übersetzung ins Deutsche wurde freundlicherweise genehmigt vom Editorial Board der Emupress.