Schon seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts schreiben Frauen in der Türkei. Die Zahl der Schriftstellerinnen, die die allgemeinen Probleme ihrer Gesellschaft beschreiben und sich speziell mit der Situation der Frau auseinandersetzen, nimmt stetig zu. Vor allem zeitgenössische Schriftstellerinnen wie Adalet Agaoglu, Latife Tekin, Duygu Asena, Işil Özgentürk, Füsun Akatli, Pinar Kür, Nezihe Meriç, Aysel Özakin, Peride Celal, Sevgi Soysal, Tomris Uyar, Nazli Eray, Leyla Erbil, Azra Erhat, Füruzan, Nazan Güntürkün beschreiben die Entwicklungsprozesse und Bewusstseinswerdung der Frau, indem sie die familiäre und gesellschaftliche Unterdrückung der Frau anprangern und ihren Kampf um die Identitätsfindung darstellen.
Durch die Reformen von Kemal Atatürk hat die türkische Frau ihre Rechte im sozialen Leben (Bildungsgleichheit, Wahlrecht, Monogamie) viel eher als in einigen demokratischen Ländern erhalten. Aber die Rollen der Frauen und Männer sind durch die Tradition und Sitten in der türkischen Gesellschaft sehr stark geprägt, und die Werte, die sich als »frauenspezifisch« und »männerspezifisch« darstellen, sind so stabil, dass die oben genannten Reformen nicht ausreichen, um der Frau ihre gleichberechtigte Position zu verleihen. Erforderlich sind radikale, strukturelle Veränderungen, die das Weltbild und die Haltung der Individuen dieser Gesellschaft bzw. der Frauen und Männer verändern.
In ihrem 1973 veröffentlichten ersten Teil der Trilogie, dem Roman »Sich hinlegen und sterben« (Ölmeye Yatmak), befasst sich die Autorin Adalet Agaoglu mit der gesellschaftlichen Stellung der Frau und deren Auswirkungen auf ihre psychische Verfassung in unserer Zeit. Sie schildert den bewussten Kampf einer Frau um ihre persönliche und berufliche Emanzipation. Neben der Auseinandersetzung ihrer Protagonistin Aysel mit deren gesellschaftlichen Umwelt beschreibt die Autorin die Entwicklung der sozialen Wirklichkeit in der Türkei, die Zeit vom Beginn der dreißiger Jahre bis in die sechziger Jahre, d.h. die Zeit von der Ausrufung der Republik unter Mustafa Kemal Atatürk über die darauffolgenden vielfältigen Schwierigkeiten bei der Konsolidierung des Staates bis hin zur Zeit des ersten Militärputsches.
Der Roman beginnt mit der Ankunft einer dreißigjährigen Frau namens Aysel in einem Hotel. Sie ist angesichts der zahlreichen auf sie einstürmenden Probleme und Fragen an einen Punkt gekommen, an dem sie nicht mehr weiter weiß. Der Leser entnimmt bereits dem Titel, dass die Protagonistin ihrem Leben ein Ende bereiten will. Dieser ungefähr zweistündige Hotelaufenthalt bildet den äußeren Rahmen des Romans. Im Hotel erinnert sich Aysel an ihre Kindheit und ihre Jugend bis hinein in die Gegenwart. Diese Zeit von etwa dreißig Jahren bildet den inneren Rahmen des Romans.
Die Autorin lässt die Protagonistin entsprechend ihrer eigenen Biographie in einer kleinbürgerlichen Familie aufwachsen. Aysel stammt aus einer kleinen kaufmännischen Familie. Der Vater, der einzige Ernährer und Versorger der Familie, ist ein patriarchalisch handelnder, sehr konservativer Mensch. Aysels Mutter ist Hausfrau und Nicht-Verdienerin, ihrem Mann unterlegen. Sie ist anspruchslos, passiv, ja sogar untertänig. Sie repräsentiert die Generation der Frauen vor der Zeit der Republik, die keine Möglichkeiten für eine Ausbildung hatten, die sehr jung verheiratet wurden und deren einzige Pflicht darin bestand, Kinder zu gebären und dem Manne zu dienen. Denn in einer patriarchalischen Gesellschaft wird die Unmündigkeit der Tochter gegenüber dem Vater bei der Heirat dem Ehemann übertragen. [Endnote 1]
Für die Mutter ist es selbstverständlich, sich nicht wichtig zu nehmen und den Mann als höchste Autorität anzuerkennen, weil sie es bei ihren Eltern so erlebt hat. Im Gegensatz zu der traditionellen Ideologie, nach der die Frau als Eigentum des Mannes betrachtet wurde, beinhaltet die von Atatürk begründete neue Ideologie gleiche Bildungschancen für die moderne und selbstbewusste Frau. Trotz des progressiven Charakters der Reformen im Lande, wehrte sich der größte Teil des ungebildeten Volkes gegen eine gleichwertige Ausbildung der Töchter. Das patriarchalische Prinzip beinhaltete, dass Mädchen allein auf ihre Rolle als gehorsame Gattin und selbstlose Mutter vorbereitet werden.
Als Tochter ungebildeter Eltern erfährt Aysel keine freie und aufgeklärte Erziehung. Als Mädchen wird sie immer benachteiligt. Die Grundhaltung des Vaters ihr gegenüber ist ablehnend, distanziert. Wohl kann er sich mit dem Gedanken vertraut machen, seinen Sohn in die Mittelschule zu schicken, damit dieser später als Familienoberhaupt einen Beruf erlernt. Die gleiche Chance seiner Tochter zu bieten, wäre aber für ihn unvorstellbar.
So wie ihre Mutter hat auch Aysel kein Recht, innerhalb der Familie irgendwelche familiären Angelegenheiten mit zu entscheiden. Beide sind sehr früh sprachlos geworden und leben identitätslos in der Familie. Aysel ist sich dessen bewusst, dass der erste Schritt aus der traditionellen Unterdrückung zur Befreiung der Frau in einer guten Ausbildung liegt und dass die materielle Unabhängigkeit der Frau die Grundvoraussetzung für deren Gleichberechtigung ist. Deshalb kämpft sie anfangs für Chancengleichheit bei der Ausbildung, vor allem verhält sie sich weiterhin bewusst »brav« und »anständig« und versucht alles mögliche, um ihren Vater nicht daran zu erinnern, dass sie existiert und in die Schule geht:
»Nein! Nichts durfte ihrem Vater bewusst werden, was sie betraf, weder, dass sie groß geworden, und ebensowenig, dass sie noch Schülerin war. Sie musste, wenn er ein Glas Wasser verlangte, sofort aufspringen und es holen. Kein Wort durfte sie verlieren über Schulaufgaben!« [Endnote 2]
Obwohl Aysel, um nicht aufzufallen, keinerlei Ansprüche stellt, bzw. auf jegliche Vergnügung verzichtet, um kein Schulverbot zu bekommen, reicht das nicht aus. Die Vorstellung ihres Vaters, dass sie »nur « ein Mädchen ist, dessen Dasein zwangsweise allein in einer Ehe erfüllt werden wird, ändert sich nicht. So will er sie nach dem Abschluss der Mittelschule in eine Mädchenschule für zukünftige Hausfrauen schicken. Zwar gelingt es Aysel nicht, sich von der väterlichen Autorität zu lösen, aber sie schafft es, die Erlaubnis zu erhalten, das Gymnasium zu besuchen. An die Stelle des Vaters tritt zunehmend der Bruder, der sich traditionsmäßig verantwortlich für die Ehre seiner Schwester fühlen muss und fühlt und diese Rolle auch ohne zu zögern annimmt. Entsprechend gestaltet sich auch das Verhältnis Aysels zu ihrem Bruder zunehmend distanziert. Genau wie der Vater führt sich der Bruder autoritär und patriarcha1isch auf und hat Vorurteile gegen die sich bildenden und emanzipierenden Frauen. Er sagt zu Aysel:
»Wozu lernst du überhaupt? Woher kommt das, Bildung für euch Frauen? Hast du das bei deiner Mutter erlebt, bei deiner Oma? Wenn du meinst, du könntest morgen nach dem Lyzeum auf die Uni gehen – einen Dreck wirst du tun! Falls Vater dich lässt, lasse ich dich nicht! Ich weiß jetzt nur zu gut, was das für Mädchen sind, die dort studieren. Ein Haufen schamloser Huren unter dem Namen Universitätsstudentin! « (S. 205)
Der traditionell erzogene Bruder sieht ebenfalls die Abhängigkeit der Frau vom Manne in allen Bereichen des Lebens als normal an. Auch für ihn besteht »die heiligste Pflicht einer Frau ist die Mutterschaft, die Mutterschaft!« (S.157) Er hat Angst vor einer Schande, die seine Schwester der Familie antun könnte und fühlt sich dafür verantwortlich, dass Aysel das Leben eines »ehrbaren« Mädchens führt. Das bedeutet für die Frau, dass sie sich an die von den Männern für sie aufgestellten Normen zu halten hat, bis zur Ehe unberührt bleiben muss und später ihrem Gatten ergeben sein muss.
In den dreißiger und vierziger Jahren bestand nach den allgemeinen patriarchalisch geprägten Vorstellungen das einzige Glück der Frau in der Ehe. Frauen waren materiell und moralisch gezwungen, früh zu heiraten, um ein geachtetes Leben führen zu können und versorgt zu sein. Das bedeutete aber zugleich, dass sie frühzeitig an Haus und Herd gefesselt waren. Auch Aysels Vater wollte seine Tochter bereits verheiraten, als sie noch das Gymnasium besuchte. Aysel setzte sich mit allen Mitteln zur Wehr und schrieb einen Brief an den Jungen, der sie heiraten wollte. Bevor aber der Brief seinen Adressaten erreicht, wird sie mit einem Schulfreund in der Stadt gesehen und die geplante Verlobung findet daraufhin nicht statt, weil die Familie ihres zukünftigen Mannes sie schon als entehrt betrachtet.
Ihr Vater glaubt, dass sie – einmal abgelehnt – nie wieder einen Mann bekommen wird. Aber – Ironie des Schicksals – durch »ihr anrüchiges Verhalten« erhält Aysel die Chance, ihren Traum vom Studium zu realisieren. Aysels Vater sagt zu seiner Frau:
»Dieses Mädchen gilt jetzt als sitzen geblieben. Soll sie gehen, die Blöde, soll sie wenigstens studieren und einen Beruf erwerben.« (S. 317)
Aysel wehrt sich gegen all die Verbote durch ihre Familie mit einer gewissen Taktik, nämlich mit einem bewussten Schweigen. Dies mag im ersten Moment als Schwäche anzusehen sein. Aber sie ist sich dessen bewusst, dass unter den gegebenen Bedingungen einzig möglicher Widerstand gegen die Unterdrückung in der Familie und der Gesellschaft für ein Mädchen, eine Frau im Kampf um ihre Unabhängigkeit, das Schweigen ist, denn sie ist sicher, dass die Reaktion ihrer Familie auf ihren eventuellen aktiven Widerstand nur in Gewalt bestehen wird.
Ihre Hoffnung, einen Beruf zu erlernen und dadurch zu beweisen, dass es auch für eine Frau möglich ist, eine gute Position im Beruf zu erreichen und als Persönlichkeit und Subjekt anerkannt zu werden, bringt Aysel in einem Brief an ihre Freundin zum Ausdruck:
»Ich habe mir in den Kopf gesetzt, als Grundschullehrerin zu arbeiten, wenn mein Vater mich nicht auf die Universität gehen lässt. Ob es wohl möglich sein wird, mit dem Lyzeumsabschluss als Lehrerin an der Grundschule zu unterrichten? Wie dem auch sei, meine Schwester, ich habe die Absicht, den Meinen zu beweisen, dass wir auch zu etwas taugen.« (S. 261)
Durch die Veränderung der Gesellschaft, durch die Industrialisierung und Technisierung in dieser Zeit begannen viele Frauen am Erwerbsleben teilzunehmen. Dennoch waren sie gezwungen zu beweisen, dass sie wie die Männer in der Lage sind, hohe Leistungen zu vollbringen. In ihrem Roman kritisiert die Schriftstellerin die Erziehungsprinzipien in der traditionellen türkischen Familie und den Moralkodex, nach dem die Kinder gezwungen sind, sich sehr früh ihrer Geschlechtszugehörigkeit bewusst zu werden und sich von dem anderen Geschlecht abzugrenzen. So darf z. B. Aysel zu den jungen Männern keine Kontakte haben. Die Schriftstellerin stellt die Sprachlosigkeit nicht als ein spezifisches weibliches, sondern als ein durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingtes, auch für Männer relevantes Problem dar. Denn in einer patriarchalischen Gesellschaft können nicht nur Frauen, sondern auch die Männer sprachlos gemacht werden. Auch die Männer sind letzten Endes nicht frei, auch sie sind gefangen »in ein System von Denkmustern, das sie sich weder ausgesucht haben, noch über das sie überlegen verfügen könnten«. [Endnote 3]
Aydin, ein Schulfreund Aysels, der sich gedanklich von den Fesseln seiner Gesellschaft befreit hat, muss immer wieder die Existenz dieser Fesseln in der Realität akzeptieren. Er schreibt in sein Tagebuch:
»Ich würde gern mit Aysel einen Tag auf der Insel spazierengehen. Was soll ich machen? Das wird auch unerfüllt bleiben. Und so verläuft unsere ganze Jugendzeit – für die Schule arbeiten und ins Kino gehen. Lohnt sich das? Was habe ich von meiner Bildung, wenn ich nicht eines Abends bei Sonnenuntergang mit einem Mädchen, das ich mag, am Strand oder unter den Pinien entlanggehen kann!« (S.285)
In der türkischen Gesellschaft führen sowohl die festen patriarchalischen Beziehungen als auch die moslemische Religion zu einer speziellen soziologischen Ausprägung. Männer und Frauen leben in der Gesellschaft getrennt voneinander, ein Zusammenleben wird nur durch die Ehe möglich. Zwischen beiden Geschlechtern gibt es eine tiefe Kluft, und diese fängt schon in der verschiedenartigen Erziehung von Mädchen und Jungen an.
Die gesellschaftlichen Moralvorstellungen kontrollieren das Denken und Handeln der Menschen. Sowohl die Frauen als auch die Männer sind Opfer einer vorbestimmten Existenz, und die Entfaltung der freien Persönlichkeit ist nur wenigen und dann bei Überwindung grosser Widerstände möglich.
Aysel führt mit Ömer, ihrem ehemaligen Studienfreund eine moderne, harmonische Ehe. Beide sind berufstätig und bilden kein Hindernis füreinander im Beruf. Aysel, die Protagonistin in Adalet Agaoglus Roman verkörpert eine positive Frauenfigur nicht nur auf Grund ihrer charakterlichen Merkmale, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, als Frau fast unmögliches zu schaffen, d.h. sie muss als Akademikerin ständig an sich arbeiten, publizieren, lehren und ihre akademische Karriere vorantreiben, zugleich steht sie unter dem Zwang eines gewissen Perfektionismus im Beruf, hat persönliche Zeitnot und muss ihr anderes Ich, ihre Wünsche als Frau verdrängen.
Ihre für eine türkische Frau unter normalen Umständen kaum erreichbare Karriere macht sie immun gegenüber Anfeindungen, denen andere berufstätige Frauen ausgesetzt sind. Sie hat etwas erreicht, was nur wenigen vergönnt ist, eine gegenüber dem Mann gleichberechtigte Stellung im Beruf. Dennoch hat sie gegen gewisse Vorurteile zu kämpfen. So wird sie zum Beispiel durch ihren Mann definiert, trotz ihrer Selbständigkeit und ihrer Gleichstellung mit dem Mann. Sie erkennt das und sagt:
»Ich hatte einmal an einem Arbeitsplatz wegen Meinungsverschiedenheiten gekündigt. Da wurde geredet: ›Die kann natürlich leicht kündigen. Hat ja einen Ehemann im Rücken, der sie ernährt.‹ Du kannst in manchen Zeiten und unter manchen Umständen niemanden von dir überzeugen.« (S. 322)
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, werden die Rollen der Frauen und Männer in einer Gesellschaft durch deren Sitten, Traditionen und ihren Glauben bestimmt. Deshalb kann die Frau ihre Position in der Gesellschaft nicht nur durch Veränderung ihrer Denkweise erreichen. Atatürk hatte zwar mit einem Gesetzeserlass »von oben« die Ungleichheit der Frau gegenüber dem Mann beseitigt und diese dem Manne gleichgestellt. »Erforderlich sind jedoch radikale, strukturelle Veränderungen, die das Weltbild und die Haltung der Individuen einer Gesellschaft bzw. der Männer und Frauen verändern. Denn eine Gesellschaft hat bestimmte stabile Werte, die sich als ›frauenspezifisch‹ und ›männerspezifisch‹ darstellen, besonders in der türkischen Gesellschaft sind solche Werte von immenser Bedeutung.« [Endnote 4]
Die Autorin weist ausserdem auf einen für eine »Karrierefrau « häufig auftretenden Konflikt hin, nämlich den zwischen der gesellschaftlich hochgeachteten, Respekt und Autorität beanspruchenden Persönlichkeit und der emotionalen, sich als Frau bejahenden Partnerin eines Mannes in einer illegitimen Beziehung.
Trotz der harmonischen Ehe ist Aysel bereit, ein Verhältnis mit einem ihrer Studenten zu beginnen. Für sie ist der Schritt, eine Beziehung mit einem Studenten einzugehen, für ihre Rolle als Dozentin verhängnisvoll, und entsprechend den gesellschaftlichen Normen wird ihr gekündigt. Sie ist sich dessen bewusst und weiss, dass beides unvereinbar ist und immer von Heimlichkeiten und Versteckspielen begleitet sein wird, vor allem wenn ihr Liebhaber ein ihr anvertrauter Student ist. Entsprechend viel Raum nehmen auch ihre Gedanken und Reflexionen über dieses Problem im Roman ein.
Tomris Uyar stellt fest, dass in solchen Fällen der Druck auf die Frau noch gröser wird: »Bei ähnlichen Fehlern in Bezug auf die Sexualität werden die Frauen mehr verletzt als die Männer. Selbst, wenn die gesel1schaftliche Ordnung sich verändert, bleibt die Lücke zwischen Theorie und Praxis bestehen, wie es immer war. Die üblichen Befürchtungen der Frau, die Angst vor Gerüchten und die Unterdrückung durch die Männer bleiben bestehen.« [Endnote 5]
Aysel, einerseits geprägt durch patriarchalische Erziehung im Vaterhaus, andererseits eine im Sinne Atatürks »moderne«, d.h. selbstbewusste, ihre traditionelle Objektrolle hinter sich lassende Frau, wirft überlieferte Wertvorstellungen wie Tugend, Keuschheit, Anstand und Verzicht über Bord und versucht in beruflicher und sexueller Hinsicht für sich selbst zu entscheiden.
»Ich habe mit ihm nicht bewiesen, dass ich ›eine freie türkische Frau‹ geworden bin. Diesen Beweis trat ich mit einem jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren an.« (S. 47)
Beachtenswert an diesem Verhältnis ist, dass diesmal der Mann für die Frau ein austauschbares Objekt ist, dass die Frau in dieser Beziehung die Distanz bestimmt und sich nicht darum bemüht, sich – wie traditionell üblich – dem Manne anzupassen Sie ist sich auch ihres Körpers und ihrer Sexualität bewusst und erkennt, dass sie bis dahin in diesem Bereich nicht richtig gelebt hat. Durch diese Beziehung hat sie die Möglichkeit, sich selbst und ihre Persönlichkeit als Frau zu entdecken und zu erkennen.
Die patriarchalischen Verhältnisse führen die Frau nicht nur zur Passivität, sondern auch zur Körperfeindlichkeit, zur Körperentfremdung, indem die Ablehnung von Gefühlen wie Körperlichkeit und Körperbewusstsein gefordert wird, um ein positives Erleben der Sexualität zu vermeiden. Auch in der Ehe, wo die Sexualität eigentlich legitim sein sollte, wird von der Frau meistens erwartet, dass sie als Objekt passiv auf die Wünsche des Mannes, auf seine Bedürfnisse eingeht, dabei aber nicht selbst als Subjekt handelt und empfindet. Aysel reflektiert nach der Nacht, die sie mit ihrem Studenten Engin verbracht hat, wie sie ihren Körper ganz anders als zuvor betrachtet:
»Als ob all diese Pediküren, Maniküren, die abendliche Reinigung meines Gesichts mit einer guten Creme, das morgendliche Auftragen einer leichten Feuchtigkeitscreme, das Einpudern unter den Armen und sonst noch hier und da bis zu jenem Morgen stets eine von meiner Weiblichkeit getrennte Pflicht war, die allein der Gesundheit, dem angenehmen Gefühl dienen sollte. Bin ich denn niemals ich selbst gewesen? (...) Was war wohl der Grund für das jahrelange Abgetrenntsein meines Körpers von mir selbst« (S 191–192)
Diese Erkenntnis widerspricht zutiefst der durch Zwänge und aufgesetzte Moralvorstellung geprägten traditionellen Rolle des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft.
Der türkische Schriftsteller und Kritiker Bekir Onur versucht das Erscheinungsbild der Frau in der neuen Gesellschaftsstruktur zu ergründen: »In dem neuen Frauenbild steht die gute, naive, tolerante und ihre Sexualität besitzende Hausfrau der berufstätigen, unabhängigen Frau – von der man deshalb alles ›Schlechte‹ erwarten kann – gegenüber.« [Endnote 6]
Diese Teilung des Frauenbildes hat ihre Gründe in der patriarchalischen Beziehung, nach der eine »anständige«, verheiratete Frau für andere nicht in Betracht kommt als sexuelles Wesen. Die Frau als, Mutter ihrer Kinder und als Hausfrau hat keinen anderen Mann als ihren Ehemann zu kennen und ist auf ihren häuslichen Kreis beschränkt. Sie verhält sich passiv und duldsam. Eine moderne, selbständige, berufstätige Frau, die in der Männerwelt arbeitet, somit also auch Kontakt zu anderen Männer hat, gilt als besonders »gefährlich«.
Als Typus einer selbstbewusten, gebildeten, berufstätigen Frau, die auch ihre sexuellen Bedürfnisse erfüllen will, entspricht Aysel diesem Frauenbild der modernen Zeit.
Ibrahim Zeki Burdurlu kommentiert die Rolle Aysels dementsprechend: »In ihrer Rol1e als Dozentin ist sie fast von ihrer Weiblichkeit getrennt und ist in dieser Position von einer unsichtbaren Ära umgeben. Aber sie hat neben ihren intel1ektuellen Bedürfnissen auch die Bedürfnisse der Frau als geschlechtliches Wesen. Wichtig ist auch, dass sie diese Bedürfnisse seit ihrer Kindheit empfindet. So rächt sie alle Frauen für deren dereinst erfahrene falsche Erziehung, nicht genossene Bildung und veraltete Verbote.« [Endnote 7]
Die Schriftstellerin Adalet Agaoglu zeigt in ihrem Roman »Sich hinlegen und sterben« wie schwierig es für die Frauen in der Türkei ist, sich zu wahren Persönlichkeiten zu entwickeln, die die progressiven Werte verkörpern und an der Entwicklung von Wissenschaft und Technik teilhaben. Die Frau muss sich selbst diese Möglichkeit erkämpfen. Adalet Ağaoğlu kommt zu dem Ergebnis, dass eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen notwendig ist und lässt ihre Protagonistin Aysel sagen:
»Sag mir, Engin: Ist sie frei, die Frau, in deren Gesicht du jetzt voller Bewunderung und Vertrauen blickst? Ist sie jemals frei geworden? Sag, Engin. Hat sie etwas befreit? Ist das möglich? Ist es möglich, ganz allein sich und andere zu befreien?« (S. 397)
Gülperi Sert ist Dozentin und Leiterin der Abteilung für Übersetzer und Dolmetscher an der Universität Dokuz Eylül Izmir.
Endnoten
1: Gürtler, Christa: »Schreiben Frauen anders? Untersuchungen zu Ingeborg Bachmann und Barbara Frischmuth«, in: Adolf Haslinger und Walter Weiss (Hg.): »Salzburger Beiträge«, Stuttgart 1983, S. 149.
2: Adalet Agaoglu: »Ölmeye Yatmak«, Remzi Kitabevi. Istanbul. 1984. 5. Aufl. S. 106. Weitere Zitate aus dem Buch beziehen sich auf die türkische Ausgabe und werden in Klammern mit Seitenzahlen angegeben.
3: Brigitte Wartmann: »Schreiben als Angriff auf das Patriarchat«, in:Literaturmagazin ll. Schreiben oder Literatur, Reinbek 1979.
4: Faruk Birtek (Panel): »Edebiyatimiz ve Kadin Sorunu« (Katilanlar: T. Uyar, A. Altindal, N. Arat, M. Belge, A. Oktay, S. Tekeli), in: Yazko Edebiyat 1 (8). 6. 1981, S. 122.
5: ebd., S. 131.
6: Bekir Onur: »Kadin, Gençlik ve Cinsellik« Gür Yayinlari. Istanbul 1986, S. 157.
7: Ibrahim Zeki Budurlu: »Ölmeye Yatmak«, in:Türk Dili ve Yazin Dergisi. Sayi. 293. Şubat.1976, S. 93.